EWR 10 (2011), Nr. 4 (Juli/August)

Barbara Thimm / Gottfried KĂ¶ĂŸler / Susanne Ulrich (Hrsg.)
Verunsichernde Orte
SelbstverstÀndnis und Weiterbildung in der GedenkstÀttenpÀdagogik
Frankfurt am Main: Brandes und Apsel 2010
(207 S.; ISBN 978-3-86099-630-0; 19,90 EUR)
Verunsichernde Orte Nicht immer steht eine Widmung in einer so gehaltvollen Beziehung zum Inhalt eines Buches wie bei diesem, das den Überlebenden der Orte gewidmet ist, um die es hier geht und deren Engagement die GedenkstĂ€tten zu verdanken sind. Die HerausgeberInnen unterstreichen in ihrer Widmung eine wesentliche Funktion von GedenkstĂ€tten: der WĂŒrde der Opfer und Überlebenden verpflichtet zu sein. Zugleich sind sie sich bewusst, dass die Verantwortung fĂŒr das Erinnern und Gedenken heute ihnen selbst zukommt und nicht auf die ZeitzeugInnen der Verbrechen verlagert werden kann. Die meisten BeitrĂ€ge des Bandes, der in einen konzeptionellen und einen methodisch-praktischen Teil gegliedert ist, zeichnen sich dadurch aus, dass der zeitliche Abstand zum historischen Geschehen als Bedingung und Kontext heutigen Erinnerns ernst genommen wird.

Sowohl die konzeptionellen Texte wie auch die AusfĂŒhrungen zu einzelnen Übungen fĂŒr die gedenkstĂ€ttenpĂ€dagogische Bildungspraxis setzen sich mit den vielfach vermittelten ZugĂ€ngen der dritten und vierten Generation nach den nationalsozialistischen Massenverbrechen auseinander. Dabei formulieren fast alle VerfasserInnen ihre Texte auf der Grundlage eigener Erfahrungen in der gedenkstĂ€ttenpĂ€dagogischen Arbeit und betrachten dieses Feld unter Gesichtspunkten einer spezifischen ProfessionalitĂ€t, zu deren Weiterentwicklung der Band einen Beitrag leistet. Daher ist dem theoretischen Teil ein Profil fĂŒr das „Berufsbild GedenkstĂ€ttenpĂ€dagogik“ voran gestellt. Den Bedarf an Qualifizierung und Weiterbildung begrĂŒndet Wolf Kaiser in einem einleitenden Text damit, dass die Geschichtsspuren an den historischen Orten sich nicht unmittelbar erschließen, sondern „gelesen werden mĂŒssen“ (19). Der Erwartung authentischer Konfrontation mit der Verbrechensgeschichte, die GedenkstĂ€ttenbesuche oft motiviert, wird in den BeitrĂ€gen die Reflexionsarbeit aus dem Heute heraus entgegen gesetzt.

Zu Beginn des theoretischen Teils problematisiert Verena Haug die heutigen gesellschaftlichen Erwartungen an GedenkstĂ€tten, die zu „staatstragenden Lernorten“ geworden sind – bei gleichzeitig unzureichender finanzieller Ausstattung des pĂ€dagogischen Bereichs. Haug formuliert eine Anmerkung zu der aktuellen Tendenz, „GedenkstĂ€tten zu Orten der Menschenrechtsbildung“ zu machen und deutet ihre Skepsis demgegenĂŒber an. Unter der positiven Entwicklung, durch die das Gedenken an den historischen Orten zu einem Bestandteil der politischen Kultur in der Bundesrepublik geworden ist, sieht Haug eine „Leerstelle der Auseinandersetzung mit deutscher Schuld und Verantwortung“ (35). Haug macht den Spannungsbogen deutlich, der sich auftut zwischen der Erwartung des Lernens aus der Geschichte und der Erfahrung, dass die Frage nach den Lehren gerade an den Orten der Massenverbrechen und insbesondere des Holocaust nicht eindeutig beantwortet werden kann.

Ein hohes selbstreflexives Niveau kennzeichnet die BeitrĂ€ge der VerfasserInnen, die selbst in der GedenkstĂ€ttenarbeit aktiv sind. DemgegenĂŒber wirkt der Ansatz des „Demokratielernens“, wie ihn Susanne Ulrich fĂŒr die Bildungsarbeit in GedenkstĂ€tten postuliert, unvermittelt zu den spezifischen Fragen, die sich an den Orten der NS-Verbrechen stellen. Der Gegenwartsbezug wird hier keinesfalls mehr in Spannung zur historischen Eigenheit der Orte problematisiert, sondern in Form des Lernens â€žĂŒber, fĂŒr und durch Demokratie“ mehr oder weniger verordnet (54). Die Prinzipien von Freiwilligkeit, Transparenz und MultiperspektivitĂ€t erscheinen darin völlig unproblematisch und entziehen sich damit jeglicher Diskussion. Beispielsweise wĂ€re auf dem Hintergrund sozialer Ungleichheit zu fragen, inwiefern eine ausschließliche Freiwilligkeit der GedenkstĂ€ttenbesuche klassistische VerhĂ€ltnisse reproduziert und dazu fĂŒhrt, dass nur noch bildungsbĂŒrgerliche Gruppen GedenkstĂ€tten besuchen, wenn im Zuge dieses Prinzips Besuche im Rahmen schulischer Veranstaltungen oder der Bundeswehr entfallen.

Auch die AusfĂŒhrungen Ulrichs zu Werten und Toleranz im Übungsteil sind kaum auf die Aporien bezogen, die sich an den GedenkstĂ€tten ergeben. Der Infragestellung gesellschaftlicher Orientierungsmuster, die von der Konfrontation mit den NS-Verbrechen ausgeht, wird im Ansatz des Demokratielernens eher blockiert als herausgefordert, da die Antwort auf alle diese Fragen hier immer schon Demokratie heißt.

In Spannung dazu plĂ€diert Imke Scheurich fĂŒr eine gesellschaftskritische Perspektive in der historisch-politischen Bildung und weist auf den „KonformitĂ€tsdruck“ hin, der an den „moralisch hoch aufgeladenen Gedenkorten“ vorhanden ist (41). Zudem beobachtet sie eine fatale Wirkung, die von der extremen BrutalitĂ€t der Verbrechen an diesen Orten ausgeht, was dazu fĂŒhrt, dass die gegenwĂ€rtige Gesellschaft im Kontrast dazu in Ordnung erscheint. Das Dilemma des Gegenwartsbezugs an den Orten der NS-Verbrechen wird hier wie an mehreren Stellen im Buch deutlich.

Mit diesem Dilemma befasst sich auch Gottfried KĂ¶ĂŸler und weist auf das „OrientierungsbedĂŒrfnis“ hin, das der Auseinandersetzung mit dem NS hĂ€ufig zugrunde liegt. Daher betrachtet er den Gegenwartsbezug nicht als Ziel gedenkstĂ€ttenpĂ€dagogischen Handelns, sondern „als eine seiner Bedingungen“ (47). Er unterstreicht die Unterschiede zwischen den Generationen nach 1945 und hebt die durch Medien geprĂ€gten Geschichtsbilder heutiger Jugendlicher hervor. KĂ¶ĂŸler wie auch Scheurich kritisieren den nationalgeschichtlich geprĂ€gten Zugang in der deutschen Geschichtsdidaktik, der in einer von Globalisierung und Migrationen geprĂ€gten Gesellschaft exkludierende Wirkungen hat.

Heterogene Ausgangspositionen und vielfĂ€ltige Perspektiven auf Geschichte thematisiert Monique Eckmann, die die Bedeutung familiĂ€rer Diskurse und persönlicher Geschichtsbilder betont. FĂŒr eine diskriminierungskritische inklusive GedenkstĂ€ttenpĂ€dagogik plĂ€diert Christian Geißler und fordert in der Konsequenz dessen eine „Diversifizierung des pĂ€dagogischen Personals“ (74). FĂŒr eine dekonstruktive AnnĂ€herung an Geschichtsnarrative votiert Oliver von Wrochem. Dadurch können die gesellschaftlichen Wirkungen unterschiedlicher Geschichtsdeutungen reflektiert werden, worin von Wrochem eine Anforderung an professionell Handelnde in der GedenkstĂ€ttenpĂ€dagogik sieht. Sowohl das Vorwissen der BesucherInnen wie die SinnbezĂŒge der GedenkstĂ€ttenmitarbeiterInnen werden zu Bezugspunkten fĂŒr die Bildungsarbeit. Die einzelnen BeitrĂ€ge sind relativ kurz gehalten und konzentrieren sich auf systematisch-konzeptionelle AusfĂŒhrungen. ErlĂ€uterungen mit BezĂŒgen zu den eigenen Praxiserfahrungen der VerfasserInnen hĂ€tten die Überlegungen anschaulicher gemacht.

An den theoretisch-konzeptionellen Teil schließt sich ein Bildteil an, der zugleich eine BrĂŒckenfunktion zum Praxisteil erfĂŒllt. Die Bilder konfrontieren mit Blickwinkeln und Sichtweisen auf die GedenkstĂ€tten und machen die Vielschichtigkeit möglicher ZugĂ€nge zu den gestalteten Orten und ihrer Geschichte deutlich.

Im Praxisteil werden vielfĂ€ltige Übungen fĂŒr die Bildungsarbeit vorgestellt und jeweils so aufbereitet, dass sie von LeserInnen des Bandes anwendbar sind. Die Übungen sind selbstreflexiv angelegt und richten sich in erster Linie an Mitarbeitende in GedenkstĂ€tten. Einige der Übungen eignen sich auch fĂŒr Gruppen in StudienzusammenhĂ€ngen, die sich mit zeitgeschichtlicher Bildung auseinandersetzen. Die Übungen regen dazu an, sich mit den eigenen Motiven fĂŒr ein gedenkstĂ€ttenpĂ€dagogisches Engagement zu befassen und GefĂŒhle im Umgang mit Verbrechensorten zu reflektieren. Ein kritischer Blick auf die eigene Institution wird im „Diversity-Check“ angeboten. Mehrere Übungen beziehen sich auf den Umgang mit Vielfalt und MultiperspektivitĂ€t und fordern dazu heraus, Dilemmata und Grenzen dieser AnsprĂŒche in den Blick zu nehmen.

Insgesamt zeugt der Band von einem hohen selbstreflexiven Niveau der beteiligten AutorInnen und dokumentiert den „state oft the art“ der GedenkstĂ€ttenpĂ€dagogik, insbesondere hinsichtlich der Generationendifferenzen und der migrationsgesellschaftlichen Mehrfachzugehörigkeiten in einer postnationalen Konstellation.

Der Titel des Bandes könnte nicht besser gewĂ€hlt sein. Denn diese Orte entziehen sich einer Funktionalisierung fĂŒr Selbstvergewisserungen. Bildungsprozesse können an ihnen nur dann stattfinden, wenn Verunsicherungen zugelassen und zum Ausdruck gebracht werden, um Fragen an die Gegenwart stellen zu können.
Astrid Messerschmidt (Karlsruhe)
Zur Zitierweise der Rezension:
Astrid Messerschmidt: Rezension von: Thimm, Barbara / KĂ¶ĂŸler, Gottfried / Ulrich, Susanne (Hg.): Verunsichernde Orte, SelbstverstĂ€ndnis und Weiterbildung in der GedenkstĂ€ttenpĂ€dagogik. Frankfurt am Main: Brandes und Apsel 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 4 (Veröffentlicht am 30.08.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386099630.html