EWR 19 (2020), Nr. 5 (November / Dezember)

Astrid Messerschmidt
Fremd werden. Geschlecht – Migration – Bildung
Art & Culture & Education Wissenschaft. Bd. 4. Hrsg. von Agnieszka Czejkowska
Wien: Löcker 2020
(156 S.; ISBN 978-3-85409-996-3; 19,80 EUR)
Fremd werden. Geschlecht – Migration – Bildung Astrid Messerschmidt hat mit dem Band „fremd werden. Geschlecht – Migration – Bildung“ eine Monographie vorgelegt, die die drei im Titel genannten Theorie- und Forschungsbereiche in einen Dialog miteinander bringt. Es bietet einen Einblick in deren jeweilige Theorieentwicklung und formuliert im Anschluss daran einen Ein-spruch gegen vereinfachte Vorstellungen von Diversität und Heterogenität in der pädagogischen Theorie und Praxis. Künstlerische Auseinandersetzungen in Form von Postkarten, die Ausschnitte aus einer 60-teiligen Postkartenserie „Mapping the void“ von Stefanie Gersch und Christoph Gnädig zeigen, befinden sich jeweils zwi-schen den insgesamt sechs Kapitel des Buches. Sie unterstreichen ästhetisch das Hauptanliegen des schmalen Bandes, „Differenz offen zu halten“ (16).

Um sich den Theorie- und Forschungsperspektiven rund um die Themenkomplexe Migration, Geschlecht und Bildung zu nähern, bietet Messerschmidt in den „[e]inleitenden Bemerkungen“ einen Überblick über die Themen im jeweiligen Be-zug zueinander, skizziert Bedeutungen für pädagogisches Handeln und rekonstru-iert Spannungsfelder. So sei beispielsweise die „Migrationsforschung [...] lange oh-ne eine Thematisierung von Geschlechterverhältnissen ausgekommen“ (9) und die Frauen- und Geschlechterforschung habe ihrerseits lange die migrierte Frau zur Anderen Frau gemacht. Zudem hebt Messerschmidt hervor, dass auch die pädago-gische Praxis und Theorie nicht frei von weiteren normativen Vorannahmen ge-genüber diesen Anderen ist. Obwohl sich pädagogische Inhalte und Herange-hensweisen verändert haben, entstehen derzeit unter dem Stichwort ‚Kultur’ neue Zuschreibungen und Grenzziehungen. Laut Messerschmidt hat die „geschlechtli-che Aufladung […] diese Besetzung des Kulturellen verstärkt.“ (10) In diese Ge-mengelage will das Buch eingreifen und einerseits „den Zusammenhängen von Geschlechter- und Migrationsforschung in ihrer Bedeutung für die Erziehungswis-senschaft“ (16) nachgehen, anderseits sollen theoretische Perspektiven auf Migra-tion und Geschlecht rekonstruiert werden, die einen Anschluss an Bildungstheorie bieten.

Messerschmidt widmet sich im zweiten Kapitel deshalb direkt dem Begriff der Diffe-renz. Sie verdeutlicht – mit Bezug auf die Kernkategorien Geschlecht, Migration, Kultur und Religion – wie historische und ideengeschichtliche Problematisierun-gen von Differenz und erziehungswissenschaftliche Antworten auf den Umgang mit Differenz (bspw. in der Migrationspädagogik) verhandelt wurden.
Der Frage, wie Geschlechterverhältnisse im Kontext von Rassismus und Antisemi-tismus analysiert werden können, widmet sich Messerschmidt im dritten Kapitel. Ihr Ziel ist es, herauszustellen, welche „Ausdrucksformen von Migrationsfeindlichkeit“ (49), Antisemitismus und Rassismus es gegeben hat und welche Aktualisierungen sie derzeit erfahren. Da sich entsprechende Verhältnisse und Strukturen immer wieder auch in Verhaltensmustern zeigen, ist es für Bildungsinstitutionen relevant, ein „Bewusstsein für die Geschichte und Wirkung von Legitimationen der Un-gleichwertigkeit“ (49) zu schaffen und damit verbundene „Ausgrenzungs- und Ab-wertungsprozesse“ (ebd.) kenntlich zu machen. Die Entstehung moderner Natio-nalstaaten betrachtet Messerschmidt als viralen Punkt in der Verknüpfung der Herr-schaftsachsen. Weil mit Rassismus immer „eine Vorstellung abstammungsbezoge-ner und kultureller Reinheit“ (52) adressiert wird, entsteht eine Verbindung zur Ka-tegorie Geschlecht. Im Anschluss an Foucault (1983) zeigt sie, wie Diskurse um Sexualität auch in Zusammenhang mit einer eugenischen und rassifizierten Re-produktion zu denken sind. Die Regulierung von Sexualität wirkt daher zentral in den Geschlechterverhältnissen und in rassistischen Regelungen des Staates. Messerschmidt verweist auf die zunehmende Verzahnung von Migrationsfor-schung und Geschlechterforschung. Dies schlägt sich insbesondere in der stei-genden Bezugnahme auf intersektionale Perspektiven nieder. Sie verdeutlicht die zahlreichen Auseinandersetzungen zum Themenkomplex Intersektionalität in der Geschlechterforschung und verweist auf Forschungen, die gesellschaftliche Ver-hältnisse intersektional denken.
Dass sich Machtdiskurse, immer wieder neu verschränken, verdeutlicht Messer-schmidt im vierten Kapitel. Sie zeigt, wie sich unter dem Stichwort ‚Kultur’ antimus-limische Artikulationen äußern und ein fatales Konglomerat mit Sexismuskritik ein-gehen. Dietze (2017) folgend, begreift sie diese als „sexualpolitisch unterlegenen ‚Ausschlussmechanismus’“, der deshalb so „populär“ werden kann, „weil er als Be-sorgnis um die Freiheit“ (81) rangiert.
Wie Bildungsprozesse angestoßen werden können und was sie vor dem Hinter-grund der oben explizierten Verhältnisse adressieren müssen, diskutiert Messer-schmidt mit theoretischen Bezügen zu Postkolonialität und Kreolisierung im fünften Kapitel. Das Ziel einer antisemitismus- und rassismuskritischen und geschlechter-reflektierenden Bildung kann – so Messerschmidt – nur erreicht werden, wenn das koloniale Erbe des Bildungsbegriffs kritisch analysiert würde. Dieses Erbe gelte es zu hinterfragen, denn die „idealistische Abgehobenheit des Bildungsbegriffs […] ist solange nicht überwunden, solange die Kritik sich der zeitgeschichtlichen Rekon-struktion ihrer eigenen Entstehungsbedingungen entzieht“ (120). Bildung und Bil-dungspolitik sollte reflexiv auf diese Ambivalenz reagieren. Gefragt sei eine Bil-dung, die sowohl geschlechtliche, sexuelle als auch rassifizierte Differenz adressie-re und damit Verschiedenheit ermögliche.

Im Spannungsfeld von Überblick und Einspruch bewegt sich das Buch von Astrid Messerschmidt auf einem hohen Argumentations- und Reflexionsniveau. Dabei leistet es Beachtliches: Neben der jeweiligen Theoriegeschichte werden gesell-schaftspolitische Änderungen und Diskurse eingeflochten, die die Themen Migrati-on und Geschlecht zueinander in Bezug setzen. So verweist sie auf den veränder-ten Diskurs, in dem antimuslimische Vorurteile als Kritik an traditionellen Ge-schlechtern geäußert werden, was insbesondere seit der Silvesternacht 2015/2016 zugenommen hat. Wie pädagogische Theorie und Praxis mit diesen Diskursen um-gehen, zeigt sie dann in weiteren Schritten. Neben einer instruktiven Übersicht zu einschlägigen theoretischen Debatten ist Messerschmidt mit ihrem Buch eine Zu-sammenführung gelungen, die es in dieser differenzierten Form kaum gibt.
Wie im Feld üblich verwendet Messerschmidt den Begriff ‚Migration’ um einen Sachverhalt zu kennzeichnen. Angesichts des Umstands, dass es hier nicht mehr um das reale Migrieren selbst geht, sondern dass ein Phänomen beschrieben wird, das über Generationen hinweg wirksam ist, würde es sich lohnen, noch einmal neu darüber nachzudenken, was mit dem Begriff gefasst werden kann. Besonders er-hellend verdeutlicht Messerschmidt die deutschsprachige Rezeption des Intersekti-onalitäts-Paradigmas: Sie gibt einen knappen Überblick über die Aufnahme in der deutschsprachigen Geschlechterforschung und verdeutlicht, wo der Ansatz einem kritischen gesellschaftstheoretischen Zugriff verpflichtet ist. Ein Fakt, der in man-cherlei Fach-Debatten verloren ging.

Das Buch nimmt Leser*innen jedenfalls mittels vielfältiger Theoriebezüge in ein hochkomplexes Themenfeld hinein. Anfänger*innen bietet es einen Überblick und Menschen mit Vorkenntnissen liefert es eine Zusammenführung von Debatten, die längst angezeigt war, aber nicht erfolgt ist. Kurz: Die Lektüre des Buches ist unbe-dingt empfehlenswert und stellt eine absolute Bereicherung dar.

Literatur:
Dietze, Gabriele (2017): Sexualpolitik. Verflechtungen von Race und Gender (Politik der Geschlechterverhältnisse). Campus Verlag: Frankfurt/New York
Foucault (1983 [1977]): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit. Band 1. Suhrkamp: Frankfurt a. M.
Denise Bergold-Caldwell (Marburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Denise Bergold-Caldwell: Rezension von: Messerschmidt, Astrid: Fremd werden. Geschlecht – Migration – Bildung, Art & Culture & Education Wissenschaft. Bd. 4. Hrsg. von Agnieszka Czejkowska. Wien: Löcker 2020. In: EWR 19 (2020), Nr. 5 (Veröffentlicht am 22.12.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978385409996.html