
An dieser Lage trägt für Neuberger die Soziologie durchaus Mitschuld, da diese nicht zuletzt innerhalb der Lebensqualitätsforschung die Figur des ‚homo oeconomicus’ ontologisiert, anstatt diese zu de- oder rekonstruieren. Kurzum: Hinter der Festlegung dessen, was ein ‚gutes Leben’ ausmacht, steht der Kapitalismus (69 f.).
Mittels der Analysen vor allem von Foucault (sowie bspw. auch von Bröckling) wird es Neuberger möglich zu zeigen, dass das als vom Grunde her handlungsfähig und entscheidungsfrei gesetzte Subjekt der Moderne die Programmatik der ökonomischen Wissensordnung nicht gewaltsam oktroyiert bekommt, sondern in einer subtilen Form der Gouvernementalität zur eigenverantwortlichen, sich selbst stets vergleichenden und hinterfragenden Selbstregierung angehalten wird, indem diesem (vermeintlich) freien Subjekt eine „plausible Anleitung zur Steigerung der eigenen Lebensqualität“ (42) zur Verfügung gestellt wird. Basierend auf der Foucaultschen Beobachtung, dass moderne Gouvernementalität auf die Herstellung und den Schutz der Institution Familie zum nationalen Wohl und Bestehen setzt und mit Rückgriff auf Hartmut Rosas Einschätzung, dass die Familie eine zentrale Größe in der Identitätsbildung darstellt (39, 49), zielt Neuberger darauf, mittels quantitativer Daten zu untersuchen, „inwieweit die ökonomische Beurteilung familiärer Beziehungen zu einem messbaren Teil der Identität der Subjekte wurde“ (49). Von zentraler Bedeutung für diese empirische Lebensqualitätsmessung ist für ihn das aus seiner Sicht in der Familiensoziologie verschüttgegangene aber zugleich erklärungsstarke Konzept der strukturellen Ambivalenz nach Lüscher. Damit –so Neuberger– lässt sich die Verbindung zwischen den individuell gelebten und wahrgenommenen Familienbeziehungen zu den eigenen Kindern bzw. Enkeln und der übergreifenden Wissensordnung im Sinne eines Aufdeckens etwaiger Widersprüche zwischen Struktur und Handeln unter Ungewissheitsbedingungen erklärend darlegen (82). Eine subjektiv als hoch wahrgenommene Lebensqualität entsteht für Neubergers Subjekt dann, wenn die Wahrnehmung des eigens geführten Lebens sich mit der alles dominierenden ökonomischen Wissensordnung deckt (82, 103).
In seiner aus diesen theoretischen Vorannahmen abgeleiteten quantitativen Analyse stützt sich Neuberger auf das Zusammenspiel von Makroindikatoren, (BIP und Korruptionswahrnehmungsindex) sowie Befragungsdaten zur individuellen Lebensqualität, wobei er dafür auf den sogenannten SHARE-Datensatz (Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe) zur Lebenslage der über-50-jährigen Bevölkerung in Europa zurückgreift. In diesem Empirieteil der Studie prüft Neuberger von ihm eigens aufgestellte Hypothesen (Kap. 3-6). Ohne der Ausführlichkeit seiner Befundskizzierung an dieser Stelle auch nur ansatzweise gerecht werden zu können, lässt sich mittels seiner Berechnungen argumentieren, dass Kinder „‚the poor man’s capital’“ (222) sind, da sich ihre Existenz umso positiver auf die Lebensqualität der Eltern auswirkt, je „individuell und kontextuell ärmer der Befragte ist“ (222). Für Enkelkinder gilt hingegen, dass man sich diese „tendenziell ‚leisten können’ muss, um von ihnen zu profitieren“ (266). Ein (verkürztes) Beispiel: Neuberger kommt anhand seiner Berechnungen zu dem Schluss, dass in der Gegenüberstellung von Reichen und Armen nur bei Zweitgenannten die elterliche Unterstützung der Kinder und die subjektive Lebensqualität der Eltern positiv miteinander korrelieren. Im Modus der strukturellen Ambivalenz ausgedrückt bedeutet dieser Zusammenhang für ihn, dass die Armutsbevölkerung umso mehr davon ausgehen muss, später keine Unterstützung durch ihre Kinder zu erhalten, je weniger sie diese in der Kindheit unterstützt hat (respektive unterstützen konnte). Die somit unausgeschöpfte Nutzenmaximierung schlägt sich in der Selbstwahrnehmung dieser Eltern als vergleichsweise geringe Lebensqualitätseinschätzung nieder (212 f., 222).
Zur Bilanz: Neuberger will mit seiner Untersuchung „mehr leisten als übliche familiensoziologische Arbeiten“ (271) – was ihm gelungen ist. Wie von ihm anvisiert, hat er es geschafft, zur Vertiefung des Verständnisses intergenerationaler Beziehungen beizutragen und dabei die Sinnhaftigkeit und Machbarkeit ambivalenzzentrierter Analysen in der Familiensoziologie zu belegen. Zudem untermauert Neuberger die Notwendigkeit, soziologisch eingehender über das Verhältnis zwischen Subjektivierung und Ökonomie nachzudenken – will man begreifen, wie der Kapitalismus auch außerhalb der Wirtschaftssphäre wirkt (273 f.; Kap. 7). Derart ideologie- bzw. kapitalismuskritische Analysen werden zusehends (wieder) explizit von der Soziologie eingefordert (vgl. exemplarisch Dörre et al. 2009) [1]. Die Berechtigung solcher Einforderungen – und damit auch die Relevanz von Neubergers kapitalismuskritischer Re- bzw. Dekonstruktion – zeigen sich meines Erachtens nicht zuletzt auch darin, dass der Einzelne zusehends mit teils subtilen, als unhinterfragbar ‚wahr’ gelabelten institutionellen Appellen konfrontiert ist, sein Potenzial möglichst umfassend und aus ‚guten Gründen’ – nämlich vermeintlich um seiner selbst willen – auszuschöpfen, anstatt die ihm offerierten Chancen zu vergeuden: ein Appell, der bspw. als Bildungsimperativ an Kinder herangetragen wird, wobei in diesem Bildungsprozess ihre genuinen Bedürfnisse oder Sichtweisen keine Relevanz entfalten und auch der vermeintlich prioritär anvisierte Individualnutzen des späteren Erwachsenen unter dem Strich zuvörderst als Mittel zum kapitalistischen Systemerhalt fungiert (vgl. kindheitsbezogen auch Qvortrup 2012) [2].
Was bleibt in Neubergers Studie offen? Zum einen stellt sich die Frage, wann, wie und wo genau aus dem Individuum das kapitalistisch überformte Subjekt wird und inwiefern sich hier Staatentypologien bilden lassen bzw. bestehende Wohlfahrtsstaatstypologisierungen neu gelesen werden können. Zum anderen drängt sich mir die Frage auf, inwiefern Neubergers Studie möglicherweise von einer entschlosseneren Nassehi-Rezeption profitiert hätte, um nicht beinahe fatalistisch bei der Feststellung einer fast schon unentrinnbar wirkenden kapitalistischen Vereinnahmung des Subjekts stehen bleiben zu müssen. Dies wäre zum einen Nassehis Appell, dass in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft – trotz aller Wirkkraft der Ökonomie – die „alleinige Konzentration auf Knappheit [...] als Bezugsproblem sozialer Ordnung [...] unterkomplex“ (2009, 255) ist [3]. Zum anderen wäre dies Nassehis Verweis auf Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns (vgl. 2009, 364 f.) – ein Verweis, der es Neuberger möglicherweise erlaubt hätte, explizit die widerspenstige und mit individueller sowie gesellschaftlicher Dynamik assoziierbare Seite des Subjektivierungsprozesses ebenso brilliant und innovativ herauszuarbeiten, wie ihm dies bei der Ambivalenz des Subjektivierungsprozesses des Einzelnen zu einem fixen Gesellschaftszeitpunkt gelungen ist.
[1] Dörre, K. / Lessenich, S. / Rosa, H. (2009): Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Zur Wiederbelebung einer Wahlverwandtschaft. In: Dies.: Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte. Frankfurt. Suhrkamp: 9–18.
[2] Qvortrup, J. (2012): Kindheit und Politik. In: Neue Praxis 42, H. 1, S. 14–26.
[3] Nassehi, A. (2009): Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt. Suhrkamp.