Die Tübinger Dissertation von Laura Böckmann geht der Frage nach, warum in pädagogischen Institutionen über sexuellen Missbrauch geschwiegen werden kann und auch immer wieder geschwiegen wird. Diese Frage wird in der Öffentlichkeit oft gestellt, bisweilen auch polemisch, ohne bislang theoretisch umfassend beantwortet worden zu sein.
Die zentrale These des Buches geht dahin, von den loyalen Bindungen in einem Kollegium auszugehen und nach möglichen Bindungs- und Identifikationsobjekten innerhalb der pädagogischen Einrichtungen zu suchen, die anschlussfähig sind an die Strukturebene der Organisation, wie von Erving Goffman, Albert Hirschman – nicht wie im Text „Hirschmann“ – oder Lewis Coser beschrieben (15). Bei der intersubjektiven Loyalität geht es auch darum, „der eigenen Individualität Ausdruck zu verleihen und die personale Integrität zu schützen“. Schweigen wäre so Selbstschutz. „Die Treue zu einem Wert und der Schutz einer geteilten Norm“ kann zu jenem inneren Widerstand führen, „sich mit Situationen, Handlungen oder Strukturen auseinanderzusetzen, die diesem Wert potenziell entgegenstehen“. Auch Schweigen über sexuellen Missbrauch soll sich über die „Logiken sozialen Zusammenhalts“ erschließen lassen (17). Die Arbeit interessiert sich für begriffliche Unterscheidungen und ist bildungsphilosophisch angelegt. Es geht dabei um die Frage der intersubjektiven Anerkennung im Sinne von Honneth, deren Verletzungen durch Gewalt und darum, wie sich dazu Loyalitäten verhalten.
Nicht zur Sprache kommt die Untersuchung einzelner Fälle, wie die der Odenwaldschule, sondern das Verständnis von „Identität“, „Integrität“ und „Loyalität“ (Kapitel 3), prosoziale Verhaltensweisen wie den Bystander-Effekt, Zivilcourage oder Verrat im Sinne des „whistleblowing“ (100-115) und schließlich verschiedene Arten von Loyalitäten in pädagogischen Kontexten (Kapitel 5). Zuvor sind drei Kategorien von „Loyalität“ unterschieden worden, darunter die, die als Ausdruck der eigenen Identität verstanden wird. Gemeint ist die „Verpflichtung, am eigenen Entwurf festzuhalten“, sie generiert „parteiliches Verhalten gegenüber Personen“, die Objekten der eigenen Loyalität zugehörig sind, was für Gruppen und Überzeugungen gleichermaßen gelten soll (99). Es geht, anders gesagt, um Abwehr von störenden Evidenzen. Das wäre der Fall an der Odenwaldschule oder in der katholischen/evangelischen Kirche, wo tatsächlich Überzeugungen, seien sie des Glaubens oder der Pädagogik, eine zentrale Rolle spielen – Überzeugungen, die in der eigenen Gruppe geteilt wurden und auch fraglos Geltung finden sollten. Diese Überzeugungen haben dazu geführt, auch klare Fälle sexuellen Missbrauchs zu ignorieren, herunterzuspielen und so die eigene Institution zu schützen. In diesem Sinne war Schweigen tatsächlich Selbstschutz, auch weil der öffentliche Skandal den eigenen Arbeitsplatz gefährdet hätte. Sexueller Missbrauch wird auf die „Täter-Opfer-Konstellation“ bezogen und so nicht allein auf die Merkmale der Tathandlung. Ein notwendiges Kriterium der Konstellation ist ein „legitimiertes“ und gegebenenfalls auch institutionalisiertes „Machtgefälle“ (48), wie dies in pädagogischen Beziehungen zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen der Fall ist, wobei „Macht“ und gar die Ausübung von Macht oft rhetorisch verschleiert wird.
Nach einer ausführlichen Diskussion des Konzepts „Paternalismus“ in der Erziehung und wann paternalistische Interventionen gerechtfertigt sind und wann nicht (174-209), wird die Anwendung von Gewalt als „Grenze des Anerkennens“ bestimmt (210). Anerkennung schließt die Anwendung von Gewalt aus und dies kategorisch. Aber in pädagogischen Einrichtungen wird diese Grenze oft nicht gesehen, entweder, weil Gewalt und speziell sexuelle Gewalt unvorstellbar sind oder weil die Wahrnehmung von Gewalt nicht identisch ist mit ihrer Thematisierung (226).
Die Thematisierung folgt oft eigenen Regeln: Die bestehenden Lebensverhältnisse werden in Schutz genommen, die Bedrohung durch den Täter muss kalkuliert werden, die negativen Konsequenzen einer klaren Thematisierung werden abgewogen, vor Beschämung wie vor Stigmatisierung wird man sich schützen und Gewalt kann auch normalisiert werden, wenn sie nicht drastisch erlebt oder bezeugt wird (241/242). Doch das würde bedeuten, die Eingangsfrage nicht beantworten zu können und stehen lassen zu müssen. Deswegen wird am Ende auf das Konzept der „Verfehlungskultur“ (Ricken) zurückgegriffen, das ermöglichen soll, eine Kultur zu schaffen, in der Macht und Machtmissbrauch thematisiert werden können (250). Der Schluss lautet dann so: „Um aktuellen wie potenziellen ‘Opfern’ (nicht nur sexuellen) Machtmissbrauchs helfen zu können, müssen wir ihnen zuhören (wollen). Wenn wir von Fachkräften, Lehrerinnen und Sozialpädagogen erwarten, dass sie einem Verdacht nachgehen und wenn nötig eingreifen, müssen wir die Motive verstehen (wollen), die Menschen haben, wenn sie wegsehen und schweigen“ (251). Versteht man damit auch die Wut der Opfer? Und ja, alle Seiten müssen berücksichtigt werden, aber wer schweigt und hätte reden können, wird Verständnis für sein/ihr Motiv vermutlich als Entlastung wahrnehmen. Die Täterseite bleibt unberührt, aber auch sie kann zu Ausflüchten greifen oder einfach schweigen, wie der Fall Gerold Becker zeigt. Nehmen wir nochmals die Fälle, die in der Arbeit nicht behandelt werden. Ohne die öffentliche Skandalisierung des seriellen sexuellen Missbrauchs am Canisius-Kolleg und an der Odenwaldschule im Frühjahr 2010 wäre kein Wandel der öffentlichen Meinung eingetreten und das Vertrauen in Kirche und Reformpädagogik nie erschüttert worden. Loyalität schließt Misstrauen aus, aber Misstrauen liegt auch gar nicht nahe, wenn der Zusammenhalt gesichert scheint.
Die Arbeit überzeugt in ihrer bildungsphilosophischen Ausrichtung, also den begrifflichen Unterscheidungen, die in der Literatur oft nicht gesehen oder nicht beachtet werden. Die Beispiele, an denen die Unterscheidungen erläutert werden, hätte man sich weniger künstlich gewünscht. Die Begrenzung auf (deutsche) pädagogische Institutionen ist nachvollziehbar, aber sind nicht andere Beispiele, die die Literatur beschäftigen wie pädophile Netzwerke, Inzestübergriffe und deren ideologischer Schutz genauso aufschlussreich? Oder gerade ein Testfall für die Begrifflichkeit? [1] Aber ein gelungener Beitrag zu einem bisherigen Randthema der Bildungsphilosophie ist die Arbeit allemal. Sie setzt einen Markstein und verdient eine aufmerksame Lektüre.
[1] Nur für Frankreich etwa: Kouchner, C. (2021) La familia grande. Paris: Seuil. Zuvor schon: Springora, V.(2020) Le consentement. Paris : Bernard Grasset 2020. Oder : Demules, F. Un petit tour en enfer. Ecrit en collaboration avec Ludovic Perrin. Paris: Editions du Moment.
EWR 21 (2022), Nr. 2 (April)
Loyalität als Motiv, über sexuellen Missbrauch zu schweigen
Am Beispiel pädagogischer Institutionen
Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich 2021
(267 S.; ISBN 978-3-8474-2550-2; 34,90 EUR)
Jürgen Oelkers (Zürich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jürgen Oelkers: Rezension von: Böckmann, Laura: Loyalität als Motiv, über sexuellen Missbrauch zu schweigen, Am Beispiel pädagogischer Institutionen. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384742550.html
Jürgen Oelkers: Rezension von: Böckmann, Laura: Loyalität als Motiv, über sexuellen Missbrauch zu schweigen, Am Beispiel pädagogischer Institutionen. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384742550.html