Das Feld der Jugendforschung ist in Bewegung. Wenngleich die sozialwissenschaftliche Jugendforschung im Vergleich zu anderen Forschungsfeldern wie etwa der empirischen Bildungsforschung noch immer eine überschaubare Größe aufweist, so sind doch merkliche Dynamiken festzustellen. Erkennbar sind diese u.a. an der Zahl der in jüngerer Zeit erschienenen Handbücher zur Jugendforschung insgesamt (z.B. die 2021 erscheinende Neuauflage des „Handbuchs Kindheits- und Jugendforschung“ von Heinz-Hermann Krüger, Cathleen Grunert und Katja Ludwig) oder zu einzelnen, disziplinär geprägten Bänden (z.B. der Tagungsband „Erziehungswissenschaftliche Jugendforschung – Ein Aufbruch“ von Cathleen Grunert, Karin Bock, Nicolle Pfaff und Wolfgang Schröer aus dem Jahr 2020). Der Band „Jugend im Blick der erziehungswissenschaftlichen Forschung - Perspektiven, Lebenswelten und soziale Probleme“ von Lea Puchert und Anja Schwertfeger reiht sich in diese Verstärkung der Aktivitäten um die Weiterentwicklung und Sichtbarkeit der Jugendforschung ein.
Die Buchpublikation verfolgt das Ziel, aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive „eine neue und aktuelle Vergewisserung zu Jugend und zur Jugendforschung, ihren theoretischen Konzepten, Forschungsgegenständen und empirischen Befunden“ (10) zu leisten. Dies erfolgt an vielen Stellen vor dem Hintergrund einer historischen Einbettung, welchen Stellenwert die Lebensphase Jugend und die dazugehörige Jugendforschung in den letzten Jahrzehnten hatte. Die Herausgeberinnen benennen dabei den Anspruch, Jugendforschung solle keine „stromlinienförmige Gebrauchsforschung“ (10) darstellen, sondern sich durchaus auch als Impulsgeberin für gesellschaftliche Entwicklung verstehen.
Der Band gliedert sich in vier größere Abschnitte. Der erste Teil „Geschichte der Jugend und Jugendtheorie“ umfasst eine historische Einbettung des Themas beginnend mit dem Ende des 19. Jahrhunderts, diskutiert die Passung etablierter Konzepte in der Jugendforschung (wie z.B. Moratorium, Statuspassage, Transition) zur heutigen Lage von Jugend und setzt Bezüge zu neueren gesellschaftsdiagnostischen Konzepten wie dem des Unternehmerischen Selbst (nach Ulrich Bröckling) oder dem der Beschleunigung (nach Hartmut Rosa).
Der folgende Abschnitt „Perspektiven der Jugendforschung“ umfasst Beiträge, die das Forschungshandeln im Feld der Jugendforschung historisch, erziehungswissenschaftlich, forschungsmethodisch und differenzbezogen darstellen und diskutieren. Dazu gehört auch die Situierung bzw. Abgrenzung einer erziehungswissenschaftlichen Jugendforschung im Verhältnis zur psychologischen und soziologischen Jugendforschung.
Der dritte und längste Abschnitt des Buches „Lebenswelten und Alltagskulturen Jugendlicher“ zitiert stärker als die vorangegangenen Teile empirische Ergebnisse. Hierzu gehören Befunde zu bestimmten Aspekten der Lebenslagen und Lebensführung Jugendlicher (z.B. Armut, digitale Medien), zu unterschiedlichen Schulwelten (etwa von besonders leistungsorientierten Gymnasien einerseits und Hauptschulen als Auffangbecken für „gescheiterte“ Schüler*innen andererseits), zu Risiken des Gelingens von beruflichen Ausbildungsverläufen im Übergang Schule – Beruf, zur individuellen, biografischen Bedeutung von freiwilligem Engagement und Ehrenamt junger Menschen in der Jugendarbeit, zur Konstruktion und Ausgestaltung von Peerbeziehungen im Sinne von sozialen Interaktionen unter „Gleichrangigen“ oder „Gleichberechtigten“, zur Bedeutung digitaler Medien im Alltag von Jugendlichen (etwa im Kontext digitaler Jugendkulturen), zur Klimaprotestbewegung „Fridays for Future“ als Übernahme „weltgesellschaftlicher Verantwortung“ (168) junger Menschen sowie zu Migration und Flucht als Kontexte des Aufwachsens Jugendlicher.
Der letzte Abschnitt des Buches „Jugend und soziale Probleme“ umfasst fünf Beiträge, die in jeweils unterschiedlicher Akzentuierung soziale Ungleichheiten im Aufwachsen Jugendlicher adressieren. Der erste Beitrag untersucht Bildungsungleichheiten unter Bezug auf das Habitus-Konzept nach Bourdieu, der zweite analysiert soziale Ungleichheiten in ihrer Relevanz für die Individuation und Verselbstständigung von Jugendlichen, insbesondere solchen aus benachteiligenden Lebensumständen, der dritte befasst sich mit der Situation von Jugendlichen in Familien mit komplexen Problemkonstellationen und sozialstaatlichen bzw. -pädagogischen Unterstützungsbedarfen, der vierte analysiert den Diskurs um unterschiedliche Zeitpunkte des Elternwerdens im Lebenslauf junger Menschen in der Gegenüberstellung von (zu) frühen, ungeplanten Schwangerschaften einerseits und (zu) später Elternschaft im dritten bis vierten Lebensjahrzehnt, der fünfte Text schließlich thematisiert fachliche Entwicklungen und Professionalisierungsprozesse der Jugendhilfe im Handlungsfeld der Inobhutnahme unbegleiteter minderjähriger geflüchteter Jugendlicher.
In der Zusammenschau diskutiert der Band aktuelle Entwicklungen im Feld der Jugendforschung aus einer dezidiert erziehungswissenschaftlichen Perspektive. Dabei liegt der Schwerpunkt im Verhältnis von Empirie und Theorie eher auf der Seite konzeptionell-theoretischer Erwägungen. Diejenigen Kapitel, die empirische Daten präsentieren, tun dies meist aus einer qualitativen Perspektive. Die, vom Umfang her eher kürzeren Kapitel, beginnen häufig mit historischen Entwicklungslinien und dem Blick auf Veränderungen bestimmter Konzepte (z.B. des (Bildungs-)Moratoriums nach Jürgen Zinnecker), bevor aktuelle Empirie und Gedanken zur Weiterentwicklung theoretischer Konzepte vorgestellt werden. Dies ist positiv zu werten, da die Themen so in historische, gesellschaftliche und/oder theoretische Kontexte gestellt werden. Zugleich führt dieses Vorgehen dazu, dass es immer wieder zu Überschneidungen und Doppelungen zwischen den Kapiteln kommt. An dieser Stelle wäre eine deutlichere Einordnung, Zusammenbindung und auch Positionierung durch die beiden Herausgeberinnen wünschenswert gewesen, etwa in einem konzeptionellen Einleitungs- oder Schlusskapitel. Dies hätte dem Band nochmals deutlicher einen „Rahmen“ gegeben. Die Qualität des Bandes ergibt sich somit damit nicht primär aus seiner Gesamtkonstruktion, als vielmehr aus den interessanten Debatten und Befunden in den einzelnen Kapiteln. Diese sind in sich oftmals ausgesprochen lesenswert. Im Verhältnis zu anderen, vergleichbaren Publikationen enthält der Band in seinen Themensetzungen wenig Überraschendes. Denkbar wären beispielsweise Beiträge zu queeren Jugendlichen oder Jugendlichen mit Beeinträchtigung und deren Bildungsteilhabe oder Bildungserfahrungen gewesen.
EWR 20 (2021), Nr. 3 (Mai/Juni)
Jugend im Blick der erziehungswissenschaftlichen Forschung
Perspektiven, Lebenswelten und soziale Probleme
Leverkusen: Verlag Barbara Budrich 2020
(100 S.; ISBN 978-3-8474-2458-1; 33,00 EUR)
Nora Gaupp und Anne Berngruber (MĂĽnchen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Nora Gaupp und Anne Berngruber: Rezension von: Puchert, Lea / Schwertfeger, Anja (Hg.): Jugend im Blick der erziehungswissenschaftlichen Forschung, Perspektiven, Lebenswelten und soziale Probleme. Leverkusen: Verlag Barbara Budrich 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 3 (Veröffentlicht am 07.07.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384742458.html
Nora Gaupp und Anne Berngruber: Rezension von: Puchert, Lea / Schwertfeger, Anja (Hg.): Jugend im Blick der erziehungswissenschaftlichen Forschung, Perspektiven, Lebenswelten und soziale Probleme. Leverkusen: Verlag Barbara Budrich 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 3 (Veröffentlicht am 07.07.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384742458.html