Kenner*innen der sogenannten „Kältestudien“ dürften diese Publikation schon lange erwartet oder erhofft haben. Die Untersuchungen zur „bürgerlichen Kälte“ reichen bis in die späten 1980er Jahre zurück und kulminierten 1994 in der Veröffentlichung des Buches Bürgerliche Kälte und Pädagogik von Andreas Gruschka [1]. Mit der „bürgerlichen Kälte“ griffen die Kältestudien eine moralphilosophische Metapher der Kritischen Theorie (Adorno/Horkheimer) auf, die sich auf einen grundlegenden Widerspruch bürgerlicher Subjektivität bezog: Als bürgerliches Subjekt ist der Mensch einerseits, jedenfalls dem Anspruch nach, ein autonomes, mündiges, mit hohen moralischen Werten ausgestattetes Individuum, das gesellschaftliche Missstände in Frage zu stellen vermag. Andererseits ist es auch ein Funktionsträger innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung und hat sich dieser im Interesse seiner Selbsterhaltung anzupassen und unterzuordnen. Zwischen diesen höchst widersprüchlichen Anforderungen muss das Subjekt mithin vermitteln, ohne einerseits die moralische Norm aufzugeben oder andererseits seine soziale Funktionsfähigkeit einzubüßen. Diese Fähigkeit zur Vermittlung des eigentlich nicht Vermittelbaren haben Adorno und Horkheimer unter den Begriff der „bürgerlichen Kälte“ gefasst, die für sie folgerichtig ein „Grundprinzip der bürgerlichen Subjektivität“ [2] darstellte.
Eine wesentliche Rolle für die Aneignung und Inkorporierung der Kälte spielt insbesondere die Pädagogik. Dies war das primäre Thema besagter „Kältestudien“ von Andreas Gruschka und Kolleg*innen. In diesen Studien wurde eindrucksvoll gezeigt, wie Menschen bereits von klein auf durch Erziehung (im Allgemeinen) und Schule (im Besonderen) tendenziell zur Hinnahme der gesellschaftlichen Widersprüche disponiert werden und so bürgerliche Kälte, gegen alle pädagogischen Ansprüche, systematisch reproduziert wird. Daran anschließende Studien widmeten sich sodann der Frage der Ontogenese der Kälte, also wie die Disposition zur Kälte in den Subjekten genau entsteht. Die im Laufe der Zeit entstandenen und sehr verstreut publizierten Befunde werden nun im vorliegenden und hier besprochenen Band erstmals, zum Teil in aktualisierter Form und ergänzt um weitere Beiträge, zusammengetragen.
Das Setting der Untersuchungen zur Ontogenese der Kälte sind abermals überwiegend (wenn auch nicht ausschließlich) Institutionen der öffentlichen Erziehung. Methodisch wurde dabei so vorgegangen, dass Heranwachsende aus unterschiedlichen Altersstufen in jeweils verschiedenen experimentellen Anordnungen mit spezifischen moralischen Konfliktszenarien konfrontiert wurden. Grundsätzlich wählten die Autor*innen mit ihrem Studiendesign eine gänzlich differente Herangehensweise an das Problem der Moralentwicklung als frühere entwicklungspsychologische Ansätze wie etwa jene der berühmten Kohlberg-Schule, der es vor allem darum ging, anhand sehr abstrakter Konfliktsituationen verschiedene Stufen der Moralentwicklung zu klassifizieren. Im Gegensatz dazu lautet das Ziel der Kälteforschung, „den Prozess der Verwicklung mit moralischen Konflikten an der Stelle zu studieren, an der Moralentwicklung tatsächlich provoziert werden kann, nämlich mit den alltäglich erlebten Konflikten, die aus den Widersprüchen zwischen konkurrierenden Normen und der Spannung zwischen Sein und Sollen erwachsen“ (63). Die Ontogenese der Kälte zu untersuchen heißt demnach, „der Integrationsleistung von Norm und Realität nachzugehen“ (76).
Die forschungsleitende Hypothese lautet, dass Kälte, ontogenetisch betrachtet, „aus der Verarbeitung von vielfältigen Widerspruchserfahrungen zwischen Sein und Sollen [entsteht]. In der Schule geht es um die Erfahrung, dass nicht gilt, was doch gelten sollte, dass die Versprechen einer vernünftigen, guten und gerechten Einrichtung der menschlich gesellschaftlichen Verhältnisse, die in der Schule bereits modelliert werden, nicht eingelöst werden. (…) Mit der Kälte lernen die Menschen, in unterschiedlicher Weise, im Ergebnis aber immer hinzunehmen, dass nicht ist, was doch sein sollte. Sie richten sich mit ihr in affirmativer Weise in die Welt ein, wie sie anscheinend nicht anders sein kann“ (23f.). Dies ist nicht so zu verstehen, dass Kälte vor allem darin besteht, sich gleichgültig gegenüber den vielfältigen gesellschaftlichen Widersprüchen zu verhalten. Im Gegenteil: „(…) Kälte in den Menschen entsteht in vielfacher Variation dadurch, dass Menschen diesen Widerspruch nicht aufhebend verarbeiten, sondern sich in ihn so einrichten, dass er bestehen bleibt. Sie entwickeln soziomoralische Orientierungen, die es ihnen erlauben, sich in diesem Widerspruch als sittlich gerechtfertigte Menschen zu erleben“ (31). Ebenso wenig handelt es sich dabei um eine Entwicklung, die linear und uniform, also bei jedem Menschen gleich abläuft: „Wer einmal gelernt hat, die Kälte verursachenden Strukturen durch Identifikation mit ihnen fraglos als gegeben hinzunehmen, muss keine tiefergehende Kälteerfahrung mehr machen, geschweige denn Einspruch gegen sie erheben. Aber beides ist doch als Entwicklung hypothetisch plausibel zu machen. Sie kann sowohl als solche der zunehmenden Sensibilisierung für die Kälte als auch der Desensibilisierung gegen sie gedacht werden. Insofern vermuten wir nicht eine Ontogenese der Kälte, sondern deren viele.“ (91)
Die verschiedenen Formen der Ontogenese stellen sich als unterschiedliche Reaktionsmuster auf die Kälteerfahrung dar, die von den Studienautor*innen sehr anschaulich und plausibel unter Verwendung hermeneutischer Interpretationsverfahren aus dem Datenmaterial rekonstruiert werden (89-161). Das Spektrum der Reaktionsmuster reicht von der naiven Überwindung („Was wäre, wenn es nach mir ginge“) und der fraglosen Übernahme der Kälte verursachenden Strukturen („Es ist eben, wie es ist“), über die Verdrängung („Was nicht sein darf, das nicht sein kann“) und die Idealisierung falscher Praxis („Vom richtigen Leben im falschen“) bis hin zum reflektierten Protest gegen die Kälte („Subversion als einzige Chance“). Die am häufigsten anzutreffenden Reaktionsformen sind dabei die Muster der fraglosen Übernahme und der Idealisierung falscher Praxis. Die meisten Menschen tendieren demnach dazu, auf gesellschaftliche Widersprüche mit deren weitgehenden Hinnahme zu reagieren und sich mit diesen abzufinden, oder aber, auf die praktische Bearbeitung der Widersprüche zu drängen, ohne diese dadurch aufheben zu müssen. Während sich Kälte im ersten Fall bereits durch die Hinnahme der Widersprüche durchsetzt, besteht sie im zweiten Fall in der Idealisierung einer Praxis, die zwar aus der Sensibilität für den Widerspruch hervorgeht, jedoch bei genauerer Betrachtung den eigenen moralischen Ansprüchen häufig zuwiderläuft. „Kalt“ wird auf diese Weise auch eine kritisch gemeinte Praxis, wo und weil sie die Kälte verursachenden Strukturen unangetastet lässt.
In einem eigenständigen Kapitel werden diverse Befunde zur Desensibilisierung gegenüber dem Widerspruch zwischen bürgerlichen Normen öffentlicher Erziehung und Funktionen des Bildungswesens diskutiert – dies vor allem in den Normbereichen der Allgemeinbildung, der Gerechtigkeit und der Mündigkeit (174-201). Abschließend werden Befunde aus ergänzenden Studien vorgestellt, die über den unmittelbar pädagogischen Praxisbereich hinausgehen, etwa aus dem Feld der Krankenpflege (202-214) oder aus dem Bereich politischer Mündigkeit (214-224). Dies verdeutlicht, dass sich die Relevanz der „Kälteforschung“ nicht nur auf Pädagogik und Erziehungswissenschaft im engeren Sinne beschränkt, sondern sich auf viele andere gesellschaftliche Bereiche erstreckt, etwa auch ganz allgemein auf das Feld der Gesellschaftskritik [3].
Empfohlen wird die Lektüre dieses Bandes daher nicht nur Pädagog*innen und Erziehungswissenschaftler*innen mit Interesse an kritischer Pädagogik und Fragen der Moralentwicklung, sondern allgemein Menschen, Theoretiker*innen wie Praktiker*innen, mit gesellschaftskritischen Orientierungen und Erkenntnisinteressen.
[1] Gruschka, A.: Bürgerliche Kälte und Pädagogik. Moral in Gesellschaft und Erziehung. Wetzlar: Büchse der Pandora 1994.
[2] Adorno, T. W.: Negative Dialektik. In: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, 356.
[3] Stückler, A.: Gesellschaftskritik und bürgerliche Kälte. In: Soziologie 43 (2014), Nr. 3, 278-299.
EWR 20 (2021), Nr. 4 (Juli/August)
Bürgerliche Kälte und Pädagogik
Zur Ontogenese des moralischen Urteils
Opladen: Verlag Barbara Budrich 2021
(263 S.; ISBN 978-3-8474-2398-0; 34,90 EUR)
Andreas Stückler (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andreas Stückler: Rezension von: Gruschka, Andreas / Pollmanns, Marion / Leser, Christoph (Hg.): Bürgerliche Kälte und Pädagogik, Zur Ontogenese des moralischen Urteils. Opladen: Barbara Budrich 2021. In: EWR 20 (2021), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.09.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384742398.html
Andreas Stückler: Rezension von: Gruschka, Andreas / Pollmanns, Marion / Leser, Christoph (Hg.): Bürgerliche Kälte und Pädagogik, Zur Ontogenese des moralischen Urteils. Opladen: Barbara Budrich 2021. In: EWR 20 (2021), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.09.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384742398.html