Wie die Beschulung geflĂŒchteter SchĂŒler:innen organisiert werden kann, ist eine Diskussion, die seit einigen Jahren wieder verstĂ€rkt gefĂŒhrt wird. Dabei wird nicht nur politisch ĂŒber (fehlende) Umsetzungen des Menschenrechts auf Bildung verhandelt, sondern auch erziehungswissenschaftliche Fragen nach gleichberechtigter Teilhabe, angemessenen didaktischen Methoden oder schulorganisatorischen Einbindungen geflĂŒchteter (und/oder neu migrierter) SchĂŒler:innen diskutiert. Das Buch von Maura Sellars verspricht dieser Diskussion einen relevanten Aspekt hinzuzufĂŒgen, indem â ohne Fokus auf ein Aufnahmeland â grundsĂ€tzlich gefragt wird, welche Auswirkungen neoliberale Gesellschaftsmodelle auf die Teilhabemöglichkeiten geflĂŒchteter Kinder und Jugendlicher an schulischer Bildung haben und welche Implikationen sich fĂŒr die pĂ€dagogische Arbeit an Schulen ergeben.
Das Buch umfasst neun Kapitel, die sich drei Themenkomplexen zuwenden. WĂ€hrend im zweiten und dritten Kapitel grundlegende theoretische Annahmen zu gesellschaftlichen MachtverhĂ€ltnissen, Neoliberalismus und Bildung abgehandelt werden, wird in den Kapiteln vier bis sieben ein Fokus auf fluchtbedingte BedĂŒrfnisse von SchĂŒler:innen und adĂ€quate Reaktionen von Schulen gerichtet. AbschlieĂend wird in Kapitel acht und neun eine kulturvergleichende Perspektive eingenommen und AnsĂ€tze fĂŒr eine SchulpĂ€dagogik fĂŒr GeflĂŒchtete abgeleitet.
Wie ein roter Faden zieht sich eine Argumentationslinie durch das Buch: Ausgehend von der Feststellung, âmass educationâ (2) in vom Neoliberalismus geprĂ€gten kapitalistischen Gesellschaften âreduces the wholeness and complexity of human life to simply that of workersâ (5) wird fĂŒr eine Reform der SchulpĂ€dagogik plĂ€diert. Argumentiert wird, dass SchĂŒler:innen wieder als âthe âwhole childââ (7) gebildet werden mĂŒssten. Dies sei insbesondere fĂŒr geflĂŒchtete Kinder und Jugendliche elementar, da es diese SchĂŒler:innen seien âwho have the greatest need for educational experiences which exemplify pedagogical love and care, and respect what it is to be humanâ (14).
Im ersten Teil des Buches erfolgt mit Bezugnahme auf Foucault ein kurzer Abriss zu Machtasymmetrien im Bildungssystem. Herausgestellt wird, dass geflĂŒchtete SchĂŒler:innen marginalisierte Positionen einnehmen und nicht nur als Problem ausgemacht, sondern auch dazu gebracht werden, Normen, Werte und Erkenntnisse der Aufnahmegesellschaft fraglos auf- und anzunehmen. Als wichtigstes Argument, warum GeflĂŒchtete in âwestlichâ (19) klassifizierten Bildungsinstitutionen als unzulĂ€nglich betrachtet werden, benennt die Autorin âthe narrowness of the definitions of âknowledgeâ determined by the powerfulâ (31) und kritisiert, dass das Wissen, welches GeflĂŒchtete aus ihren HerkunftslĂ€ndern mitbrĂ€chten, nicht anerkannt wird. Unter Formalisierung, Technisierung und Standardisierung schulischer pĂ€dagogischer Arbeit als âone size fits all pedagogiesâ (42) im Zuge neoliberaler Vergesellschaftung leiden, so die Autorin, geflĂŒchtete SchĂŒler:innen besonders. Schlussfolgernd wird festgehalten, dass Schulen in neoliberalen Gesellschaften ein âtotally inadequate settingâ (45) fĂŒr GeflĂŒchtete seien.
Im zweiten Teil des Buches befasst sich Sellars mit der Lebenssituation von GeflĂŒchteten in neoliberalen AufnahmelĂ€ndern. Dabei wird zwar festgehalten, dass es innerhalb der benannten Gruppe Unterschiede gebe, sie aber dennoch gemeinsam verhandelt werden könnten, da âall students with refugee experiences have suffered traumaâ (56). Ohne dieses Argument auszufĂŒhren, wird abgeleitet, dass Bildung fĂŒr geflĂŒchtete SchĂŒler:innen von einer nicht-kompetitiven PĂ€dagogik der Liebe, der FĂŒrsorge, des MitgefĂŒhls und der Zugehörigkeit geleitet sein sollte. Da eine solche PĂ€dagogik i. d. R. nicht an Schulen âwith âgoodâ results or reputationsâ (63) erfolge, schlussfolgert Sellars, dass diese keine âideal environments for these studentsâ (63) seien. Im Weiteren wird mit Bezug auf Bourdieus Kapital-Theorie herausgestellt, welche Bedeutung der Schule bei der Reproduktion sozialer Ungleichheiten zukommt, ohne von einem simplen Prozess oder gar einem Determinismus auszugehen, und geschlussfolgert: âmuch relies on the capacities of schooling to develope their person sense of ethical and moral behaviour [âŠ] in order to reform their habitus [âŠ] in order to authentically support students with refugee and asylum seeker experiencesâ (80). Dieser Annahme folgend konzentriert sich Sellars auf die gesellschaftliche Mikroebene schulischer Praxen und fĂŒhrt aus, wie Schulen fĂŒr die benannte Zielgruppe sichere Orte sein und wie Schulleitungen eine unterstĂŒtzende Umgebung fĂŒr geflĂŒchtete SchĂŒler:innen und ihre Erziehungsberechtigten schaffen können.
Im abschlieĂenden Teil des Buches wird mit Rekurs auf Theorien der kulturvergleichenden Psychologie argumentiert, dass mit dieser Perspektive das Verhalten von geflĂŒchteten SchĂŒler:innen verstanden und entsprechend pĂ€dagogisch reagiert werden könne (131ff.). Einerseits wird darauf verwiesen, dass GeflĂŒchtete mehr als andere SchĂŒler:innen âneed an education that provides them with opportunities to develope the complexities of thinking and meaning making that will give them the hope to plan productive and constructive futures as wise global citizensâ (141). Andererseits könnten aber auch neoliberale Gesellschaften dadurch, dass Technologisierungen nicht die versprochenen Errungenschaften, sondern vielmehr immer gröĂere weltweite Problemlagen erzeugt haben, von dem Wissen der GeflĂŒchteten profitieren, welches diese âas part of the heritage and relationship with the natural worldâ (141) mitbrĂ€chten.
Das von Maura Sellars vorgelegte Buch verspricht eine gesellschaftstheoretisch fundierte Diskussion ĂŒber die Implikationen neoliberaler Bildungspolitik auf die Bildungsteilhabe geflĂŒchteter SchĂŒler:innen. Die Argumentation wird allerdings durch VerkĂŒrzungen komplexer (theoretischer wie auch empirischer) Sachverhalte, selektiver Verweise und Wiederholungen sichergestellt â was zulasten der inhaltlichen QualitĂ€t der Arbeit geht. So werden etwa vielschichte Problemlagen â wie In- und Exklusionsprozesse in Folge unterschiedlicher schulorganisatorischer Einbindungen geflĂŒchteter SchĂŒler:innen â einseitig und undifferenziert beleuchtet. Zudem ist das Buch durch zahlreiche Pauschalisierungen in Bezug auf geflĂŒchtete SchĂŒler:innen geprĂ€gt, die nahezu durchgehend als homogene Gruppe verhandelt werden. Ihnen wird nicht nur deterministisch Traumatisierungen und Hilflosigkeit attestiert. Vielmehr wird darĂŒber hinaus ein Bild von sich kontrĂ€r gegenĂŒberstehenden vermeintlich âwestlichen hoch entwickeltenâ neoliberalen âfirst world countriesâ (2) und âdeveloping countriesâ (70) skizziert, wobei letztere in einer traditionell engen Beziehung zur Natur stĂŒnden (140f.).
Auch wenn eine an individuelle BedĂŒrfnisse und Lebenswelten von SchĂŒler:innen anknĂŒpfende wertschĂ€tzende PĂ€dagogik einen wĂŒnschenswerten Ansatz darstellt, sind Sellars Schlussfolgerungen kritisch zu reflektieren. Das Buch stĂ€rkt eine auch im deutschsprachigen Kontext in pĂ€dagogisch-didaktischen Arbeiten ebenso wie in der Schulpraxis verbreitete Perspektive, dass neu migrierte und geflĂŒchtete SchĂŒler:innen aufgrund pauschal angenommener VulnerabilitĂ€t in exkludierenden BildungsrĂ€umen beschĂŒtzt werden sollten â anstatt ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe, sinnvolle deutsche Sprachförderung und gute Qualifikationsmöglichkeiten zu bieten. Gleichwohl erscheint es erkenntnisreich in der Fachdebatte um die Beschulung (neu) migrierter SchĂŒler:innen Auswirkungen des Neoliberalismus auf das Bildungssystem in Form von potenziell diskriminierenden Strukturen â die sich auch aus einem vermeintlich neutralen âLeistungsprinzipâ ergeben (können) â fĂŒr geflĂŒchtete/migrierte SchĂŒler:innen stĂ€rker zu registrieren und zu diskutieren.
EWR 20 (2021), Nr. 4 (Juli/August)
Educating Students with Refugee and Asylum Seeker Experiences
A Commitment to Humanity
Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich 2020
(160 S.; ISBN 978-3-8474-2289-1; 29,90 EUR)
Judith Jording (Wuppertal)
Zur Zitierweise der Rezension:
Judith Jording: Rezension von: Sellars, Maura: Educating Students with Refugee and Asylum Seeker Experiences, A Commitment to Humanity. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.09.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384742289.html
Judith Jording: Rezension von: Sellars, Maura: Educating Students with Refugee and Asylum Seeker Experiences, A Commitment to Humanity. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.09.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384742289.html