EWR 20 (2021), Nr. 4 (Juli/August)

Maura Sellars
Educating Students with Refugee and Asylum Seeker Experiences
A Commitment to Humanity
Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich 2020
(160 S.; ISBN 978-3-8474-2289-1; 29,90 EUR)
Educating Students with Refugee and Asylum Seeker Experiences Wie die Beschulung geflĂŒchteter SchĂŒler:innen organisiert werden kann, ist eine Diskussion, die seit einigen Jahren wieder verstĂ€rkt gefĂŒhrt wird. Dabei wird nicht nur politisch ĂŒber (fehlende) Umsetzungen des Menschenrechts auf Bildung verhandelt, sondern auch erziehungswissenschaftliche Fragen nach gleichberechtigter Teilhabe, angemessenen didaktischen Methoden oder schulorganisatorischen Einbindungen geflĂŒchteter (und/oder neu migrierter) SchĂŒler:innen diskutiert. Das Buch von Maura Sellars verspricht dieser Diskussion einen relevanten Aspekt hinzuzufĂŒgen, indem – ohne Fokus auf ein Aufnahmeland – grundsĂ€tzlich gefragt wird, welche Auswirkungen neoliberale Gesellschaftsmodelle auf die Teilhabemöglichkeiten geflĂŒchteter Kinder und Jugendlicher an schulischer Bildung haben und welche Implikationen sich fĂŒr die pĂ€dagogische Arbeit an Schulen ergeben.

Das Buch umfasst neun Kapitel, die sich drei Themenkomplexen zuwenden. WĂ€hrend im zweiten und dritten Kapitel grundlegende theoretische Annahmen zu gesellschaftlichen MachtverhĂ€ltnissen, Neoliberalismus und Bildung abgehandelt werden, wird in den Kapiteln vier bis sieben ein Fokus auf fluchtbedingte BedĂŒrfnisse von SchĂŒler:innen und adĂ€quate Reaktionen von Schulen gerichtet. Abschließend wird in Kapitel acht und neun eine kulturvergleichende Perspektive eingenommen und AnsĂ€tze fĂŒr eine SchulpĂ€dagogik fĂŒr GeflĂŒchtete abgeleitet.

Wie ein roter Faden zieht sich eine Argumentationslinie durch das Buch: Ausgehend von der Feststellung, „mass education“ (2) in vom Neoliberalismus geprĂ€gten kapitalistischen Gesellschaften „reduces the wholeness and complexity of human life to simply that of workers“ (5) wird fĂŒr eine Reform der SchulpĂ€dagogik plĂ€diert. Argumentiert wird, dass SchĂŒler:innen wieder als „the ‚whole child‘“ (7) gebildet werden mĂŒssten. Dies sei insbesondere fĂŒr geflĂŒchtete Kinder und Jugendliche elementar, da es diese SchĂŒler:innen seien „who have the greatest need for educational experiences which exemplify pedagogical love and care, and respect what it is to be human“ (14).

Im ersten Teil des Buches erfolgt mit Bezugnahme auf Foucault ein kurzer Abriss zu Machtasymmetrien im Bildungssystem. Herausgestellt wird, dass geflĂŒchtete SchĂŒler:innen marginalisierte Positionen einnehmen und nicht nur als Problem ausgemacht, sondern auch dazu gebracht werden, Normen, Werte und Erkenntnisse der Aufnahmegesellschaft fraglos auf- und anzunehmen. Als wichtigstes Argument, warum GeflĂŒchtete in „westlich“ (19) klassifizierten Bildungsinstitutionen als unzulĂ€nglich betrachtet werden, benennt die Autorin „the narrowness of the definitions of ‚knowledge‘ determined by the powerful“ (31) und kritisiert, dass das Wissen, welches GeflĂŒchtete aus ihren HerkunftslĂ€ndern mitbrĂ€chten, nicht anerkannt wird. Unter Formalisierung, Technisierung und Standardisierung schulischer pĂ€dagogischer Arbeit als „one size fits all pedagogies“ (42) im Zuge neoliberaler Vergesellschaftung leiden, so die Autorin, geflĂŒchtete SchĂŒler:innen besonders. Schlussfolgernd wird festgehalten, dass Schulen in neoliberalen Gesellschaften ein „totally inadequate setting“ (45) fĂŒr GeflĂŒchtete seien.

Im zweiten Teil des Buches befasst sich Sellars mit der Lebenssituation von GeflĂŒchteten in neoliberalen AufnahmelĂ€ndern. Dabei wird zwar festgehalten, dass es innerhalb der benannten Gruppe Unterschiede gebe, sie aber dennoch gemeinsam verhandelt werden könnten, da „all students with refugee experiences have suffered trauma“ (56). Ohne dieses Argument auszufĂŒhren, wird abgeleitet, dass Bildung fĂŒr geflĂŒchtete SchĂŒler:innen von einer nicht-kompetitiven PĂ€dagogik der Liebe, der FĂŒrsorge, des MitgefĂŒhls und der Zugehörigkeit geleitet sein sollte. Da eine solche PĂ€dagogik i. d. R. nicht an Schulen „with ‚good‘ results or reputations“ (63) erfolge, schlussfolgert Sellars, dass diese keine „ideal environments for these students“ (63) seien. Im Weiteren wird mit Bezug auf Bourdieus Kapital-Theorie herausgestellt, welche Bedeutung der Schule bei der Reproduktion sozialer Ungleichheiten zukommt, ohne von einem simplen Prozess oder gar einem Determinismus auszugehen, und geschlussfolgert: „much relies on the capacities of schooling to develope their person sense of ethical and moral behaviour [
] in order to reform their habitus [
] in order to authentically support students with refugee and asylum seeker experiences“ (80). Dieser Annahme folgend konzentriert sich Sellars auf die gesellschaftliche Mikroebene schulischer Praxen und fĂŒhrt aus, wie Schulen fĂŒr die benannte Zielgruppe sichere Orte sein und wie Schulleitungen eine unterstĂŒtzende Umgebung fĂŒr geflĂŒchtete SchĂŒler:innen und ihre Erziehungsberechtigten schaffen können.

Im abschließenden Teil des Buches wird mit Rekurs auf Theorien der kulturvergleichenden Psychologie argumentiert, dass mit dieser Perspektive das Verhalten von geflĂŒchteten SchĂŒler:innen verstanden und entsprechend pĂ€dagogisch reagiert werden könne (131ff.). Einerseits wird darauf verwiesen, dass GeflĂŒchtete mehr als andere SchĂŒler:innen „need an education that provides them with opportunities to develope the complexities of thinking and meaning making that will give them the hope to plan productive and constructive futures as wise global citizens“ (141). Andererseits könnten aber auch neoliberale Gesellschaften dadurch, dass Technologisierungen nicht die versprochenen Errungenschaften, sondern vielmehr immer grĂ¶ĂŸere weltweite Problemlagen erzeugt haben, von dem Wissen der GeflĂŒchteten profitieren, welches diese „as part of the heritage and relationship with the natural world“ (141) mitbrĂ€chten.

Das von Maura Sellars vorgelegte Buch verspricht eine gesellschaftstheoretisch fundierte Diskussion ĂŒber die Implikationen neoliberaler Bildungspolitik auf die Bildungsteilhabe geflĂŒchteter SchĂŒler:innen. Die Argumentation wird allerdings durch VerkĂŒrzungen komplexer (theoretischer wie auch empirischer) Sachverhalte, selektiver Verweise und Wiederholungen sichergestellt – was zulasten der inhaltlichen QualitĂ€t der Arbeit geht. So werden etwa vielschichte Problemlagen – wie In- und Exklusionsprozesse in Folge unterschiedlicher schulorganisatorischer Einbindungen geflĂŒchteter SchĂŒler:innen – einseitig und undifferenziert beleuchtet. Zudem ist das Buch durch zahlreiche Pauschalisierungen in Bezug auf geflĂŒchtete SchĂŒler:innen geprĂ€gt, die nahezu durchgehend als homogene Gruppe verhandelt werden. Ihnen wird nicht nur deterministisch Traumatisierungen und Hilflosigkeit attestiert. Vielmehr wird darĂŒber hinaus ein Bild von sich kontrĂ€r gegenĂŒberstehenden vermeintlich ‚westlichen hoch entwickelten‘ neoliberalen „first world countries“ (2) und „developing countries“ (70) skizziert, wobei letztere in einer traditionell engen Beziehung zur Natur stĂŒnden (140f.).

Auch wenn eine an individuelle BedĂŒrfnisse und Lebenswelten von SchĂŒler:innen anknĂŒpfende wertschĂ€tzende PĂ€dagogik einen wĂŒnschenswerten Ansatz darstellt, sind Sellars Schlussfolgerungen kritisch zu reflektieren. Das Buch stĂ€rkt eine auch im deutschsprachigen Kontext in pĂ€dagogisch-didaktischen Arbeiten ebenso wie in der Schulpraxis verbreitete Perspektive, dass neu migrierte und geflĂŒchtete SchĂŒler:innen aufgrund pauschal angenommener VulnerabilitĂ€t in exkludierenden BildungsrĂ€umen beschĂŒtzt werden sollten – anstatt ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe, sinnvolle deutsche Sprachförderung und gute Qualifikationsmöglichkeiten zu bieten. Gleichwohl erscheint es erkenntnisreich in der Fachdebatte um die Beschulung (neu) migrierter SchĂŒler:innen Auswirkungen des Neoliberalismus auf das Bildungssystem in Form von potenziell diskriminierenden Strukturen – die sich auch aus einem vermeintlich neutralen ‚Leistungsprinzip‘ ergeben (können) – fĂŒr geflĂŒchtete/migrierte SchĂŒler:innen stĂ€rker zu registrieren und zu diskutieren.
Judith Jording (Wuppertal)
Zur Zitierweise der Rezension:
Judith Jording: Rezension von: Sellars, Maura: Educating Students with Refugee and Asylum Seeker Experiences, A Commitment to Humanity. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.09.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384742289.html