EWR 21 (2022), Nr. 2 (April)

Gregor Lang-Wojtasik (Hrsg.)
Bildung für eine Welt in Transformation
Global Citizenship Education als Chance für die Weltgesellschaft
Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich 2019
(192 S.; ISBN 978-3-8474-2284-6; 24,90 EUR)
Bildung für eine Welt in Transformation Unter der Überschrift "Es wird Zeit" beginnt dieses zum Nachdenken anregende Buch mit einer doppelten - ontologischen und praktischen - und immens aktuellen Frage: „Wie wollen wir leben, damit alle überleben können und wie können wir durch erziehungswissenschaftlich fundierte und reflektierte Bildungsprozesse zu einer lebenswerten Welt beitragen?“ (7).

Globale Veränderungsprozesse des 21. Jahrhunderts werden als „große Transformation“ (Polanyi) charakterisiert. Der Herausgeber geht von Folgendem aus: wenn sich alles verändert, muss die Welt durch Bildung auf diesen Wandel vorbereitet werden; die Verflechtung von Forschung und Bildung sei in diesem Rahmen unausweichlich; und schließlich die Möglichkeit, ein aktiver Teil der Transformation zu sein, könne nur durch Bildung und Forschung erreicht werden. Global Citizenship Education (GCE) wird so als eine potenziell transformative Bildung betrachtet, die uns dringend benötigte Antworten liefern könne.

Die Autor*innen des Bandes kommen aus verschiedenen Disziplinen und nähern sich in zehn Beiträgen konzeptionell, methodisch, praktisch und empirisch dem Potenzial von GCE aus je einem oder mehreren Aspekten des Transformationsdiskurses.

Das Buch baut auf den Ergebnissen einer Arbeitsgruppe des DGFE-Kongresses 2018 auf, die sich mit dem Transformationsquartett aus dem WBGU-Gutachten 2011 [1] auseinandergesetzt hat: (1) Transformationsforschung: In welcher Welt leben wir?; (2) Transformative Forschung: In welcher Welt wollen wir leben?; (3) Transformative Bildung: Welche Bildung hat transformatives Potenzial?; (4) Transformationsbildung: Welche Bildungseinrichtungen ermöglichen Transformation? (12). Gregor Lang-Wojtasik behandelt die ersten beiden Fragen im ersten und die letzten beiden Fragen im zweiten Kapitel. In Kapitel 1 verbindet er in einer funktionalen Denkweise Luhmanns Konzepte von Weltgesellschaft und Weltgemeinschaft mit Plessners philosophischer Anthropologie vor dem Hintergrund von Rosas Unüberschaubarkeit der Weltgesellschaft in der Spätmoderne (24).

In Kapitel 2 folgen Überlegungen zu den bildungsbezogenen Aspekten des Transformationsquartetts. Am Beispiel von „Education For All“-Diskursen wird gefragt, welche Bildungsinstitutionen die Bedingungen für Transformation durch Bildung schaffen können. Mit Blick auf den formalen Schulbereich skizziert der Autor entlang räumlicher, zeitlicher, sachlicher und sozialer Dimensionen zentrale historische Grundzüge des Globalen Lernens (GL) und GCE: beide sind in der europäischen Aufklärung verankert und werden von der UNESCO gefördert, daher ihre große Legitimität. Die größte Herausforderung des GL bestehe in seiner unzureichenden Verbreitung. Um wirksam zu sein, muss GL mehr Menschen auf der ganzen Welt erreichen. Lehrerinnen und Lehrer werden als Change Agents oder „Pioniere transformativer Prozesse“ gesehen (44-5), die diese gewünschten Veränderungen herbeiführen können.

Ausgehend von Vorstellungen vom Weltbürgertum (Erasmus), Weltbürgerrecht (Kant), Handlungsmöglichkeiten (Arendt, Aristoteles), Erkenntnissen aus der Psychiatrie (Freud) und der Friedensforschung schlägt Till Bastian in Kapitel 3 einen ökologischen Ansatz als globale Partnerschaft vor, der Zugehörigkeit, Bindung und Emotionen für den Umgang mit dem Klimawandel im Anthropozän betont.

Annette Scheunpflug bietet in Kapitel 4 eine im Vorfeld historisch kontextualisierte Definition des transformativen GL als „offenes, lösungsorientiertes, subjektorientiertes Lernen“ (68), das lokale Kontexte mit globalen Horizonten verbindet. Sie stellt konkrete Vorschläge für didaktische Methoden des GL vor, wie z.B. das Überwältigungsverbot, Wissensgenerierung, In-Beziehung-Setzen, Selbstzuordnungskompetenz, Entscheidungsunterstützung und didaktische Planung.

Claudia Bergmüller präsentiert in Kapitel 5 Erkenntnisse aus der qualitativen Forschung zur Umsetzung von GL zur Veranschaulichung einer Typologie von Engagement-Modi von Schüler*innen. Die Schlussfolgerungen sind wissenschaftlich anspruchsvoll und folgenreich für die Praxis: Selbst bei fehlender Handlungsmotivation gibt es Veränderungspotenzial, solange Schüler*innen die Möglichkeit haben, in „communities of practice“ zu handeln, sodass transformatives Lernen als „kollektives Moment“ verstanden wird (86).

Ein erweitertes Verständnis von interkultureller Bildung, das transnationale Mobilität ernst nimmt - und zwar als eigenständige Möglichkeit für alle Schüler*innen - wird in Kapitel 6 von Yasemin Karakaşoğlu und Dita Vogel dargelegt. Dieser Perspektivwechsel gibt Anlass, sowohl die erziehungswissenschaftliche Disziplin zu überdenken als auch auf eine Transformation der Institution Schule insgesamt zu drängen.

Heidi Grobbauer diskutiert das transformative Potenzial von GCE in Kapitel 7 als ein inhärent politisches Unterfangen. Ausgehend von dem Best-Practice Beispiel eines GCE Universitätslehrgangs in Österreich wird dargestellt, wie sich theoretische, konzeptionelle und praktische Herausforderungen sowie Chancen einer zukunftsorientierten Hochschulbildung mit postkolonialen Ansätzen zu einem klaren Engagement gegen globale Ungleichheiten verbinden lassen.

Mit Blick auf Menschenrechtsbildung und der ideologischen Angebote der Neuen Rechten diskutiert Constanze Berndt in Kapitel 8 Universalismus und Ethnopluralismus als gegenläufige Konzeptionen des Menschseins, die neue Anforderungen an die didaktische Praxis mit sich bringen. Sie argumentiert, dass Menschenrechtsbildung vor einer großen Chance und Herausforderung im Kontext aktueller Lerntheorien steht, eine bedeutsamere Verknüpfung mit der Lebenswelt der Lernenden herzustellen.

Unter Bezugnahme auf Assisi, Papst Franziskus, Papst Johannes Paul II u.a., schlägt Thomas Nauerth in Kapitel 9 ein universalisierendes Friedenskonzept als Leitperspektive für den interreligiösen Dialog vor. Mit Beispielen von lokalen Initiativen auf Schulebene wird argumentiert, warum interreligiöse Bildungsarbeit von der Graswurzelebene ausgehen muss.
Einen kritischen Blick auf das erhoffte transformative Potenzial der Friedenspädagogik wirft Norbert Frieters-Reermann in Kapitel 10. Ausgehend von dem Gewaltdreieck und dessen empirisch basierter Erweiterung werden die Chancen der Friedenspädagogik verdeutlicht, die als Handlungsspektrum auf der Basis von sieben Kompetenzbereichen verstanden wird.

Unter Rückgriff auf den Capability-Ansatz und aufbauend auf sekundären Umfragedaten aus industrialisierten Ländern (Deutschland, Europa), argumentieren Ilka Koppel und Ralf Schieferdecker in Kapitel 11, dass Literalität und gesellschaftliche Teilhabe eng verbunden sind. Angesichts der zunehmenden Bedeutung der „textualisierte[n] Welt“ - nicht zuletzt über die sozialen Medien, kann die Alphabetisierung daher ein Impulsgeber für Transformation sein.

Ausgehend von einer historisch kontextualisierten Darstellung und von Beispielen aus dem Volkhochschulwesen beschreibt Ulrich Klemm im Kapitel 12 Konzepte der Erwachsenenbildung (lebenslanges, selbstgesteuertes, informelles, bürgerschaftliches und globales Lernen), die als Grundlage für ein andragogisches GCE dienen können. Er weist auch auf die größten Herausforderungen bei der Integration von GCE in der Erwachsenenbildung hin: Unterfinanzierung, Personalmangel und mangelnde Überführung von Projekten in Regelangebote.
Eine große Stärke des Buches besteht darin, dass es verschiedene Praxisfelder und wissenschaftliche Disziplinen sowie Methoden und Analyseebenen zusammenbringt. Da nicht jeder Beitrag gleichermaßen GCE oder Transformation diskutiert, gibt das Buch einen neuen mehrdimensionalen Impuls zur Erforschung von GCE in und für eine Welt im Wandel. Den Autor*innen gelingt es, mehr Klarheit in das unscharfe Begriffsfeld der GCE zu bringen (z.B. Lang-Wojtasik, Klemm) sowie ihre vielfältigen Dimensionen kritisch, systematisch und/oder historisch in ihren Bezügen zu spezifischen Forschungsfeldern abzubilden (z.B. Scheunpflug, Karakaşoğlu/Vogel, Frieters-Reermann). Diese werden durch Praxis- und Bottom-up-Beispiele (z.B. Bergmüller, Frieters-Reermann, Grobbauer, Nauerth) treffend ergänzt. Die zehn Thesen in der Einleitung des Bandes fassen die Kernaussagen dieser gelungenen Sammlung prägnant zusammen (15).

Fragt man nach dem transformativen Potenzial des Bandes, so scheint es notwendig, über die dort eingenommenen Perspektiven hinauszugehen, die weitgehend auf europäische und deutsche Erfahrungen zentriert bleiben - ein Aspekt, den einige Autor*innen auch ansprechen. Eine zweite große Stärke des Bandes hängt genau damit zusammen: mehrere Fragen werden durch das Nachdenken über die Beiträge aufgeworfen. Gibt es mehr als eine große Transformation, die mit GCE angegangen werden kann, oder muss? Wo liegen die Grenzen von GCE und wie könnten diese überwunden werden? Was sind denkbare und umsetzbare Szenarien für eine dekoloniale GCE? Wie kann man produktiv an den Unterscheidungen zwischen verwandten Begriffen in diesem Bereich (wie GL, BNE, GCE) ständig arbeiten und gleichzeitig eine Synergie der verschiedenen Perspektiven, Terminologien und Agenden, die den Bereich beeinflussen, ermöglichen?

Der Band ist argumentativ dicht, intellektuell anregend und breit gefächert, was ihn für ein breites Publikum interessant macht. Er leistet einen aktuellen Beitrag zu den laufenden Debatten über GCE im deutschsprachigen Raum, sowohl für Erziehungswissenschaftler*innen, die sich mit der Erforschung von GCE und verwandten Ansätzen befassen, als auch für die breite Öffentlichkeit.

[1] Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen. Hauptgutachten: Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Globale Transformation. Berlin WBGU
Simona Szakács-Behling (Leibniz/ Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Simona Szakács-Behling: Rezension von: Lang-Wojtasik, Gregor: Bildung für eine Welt in Transformation, Global Citizenship Education als Chance für die Weltgesellschaft. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich 2019. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384742284.html