
Jutta Hartmann, Astrid Messerschmidt und Christine Thon befassen sich in ihrem einführenden Aufsatz mit „Queering Bildung“ und setzen sich mit dem Dilemma der Reproduktion und identifizierenden Festschreibung von Geschlechts- und Begehrenskategorien im Kontext ihrer pädagogischen Bearbeitung auseinander. Sie plädieren dafür, diese Kategorien als relational und dynamisch zu begreifen. Damit soll der kritische Gehalt der Kategorie Gender für Theorie und Praxis wiedergewonnen werden, um nicht einer kulturellen Produktion von Normalitäts- und Abweichungsvorstellungen Vorschub zu leisten. Kritisiert wird dabei auch die mangelnde theoretische Fundierung des Begriffs „geschlechtliche und sexuelle Vielfalt“, der in vielen pädagogischen Programmen, aber auch von sozialen Bewegungen genutzt wird. Die Autor*innen plädieren unter Rückgriff auf die Subjekttheorie Butlers und queertheoretische Ansätze für eine Bildungskonzeption, die sich gegen Prozesse von Vereindeutigung stellt und sich ihrer Verortung in sozialen und diskursiv strukturierten Räumen bewusst ist.
Susanne Luhmann beschäftigt sich in ihrem Essay mit „Pedagogies of Displacement: On Playing Indian, Gypsy Romanticism und Growing Up Queer“ aus einer auto-ethnografischen Perspektive mit dem Konzept der Melancholie, das sie mit Butler zunächst auf die Kategorien Geschlecht und Begehren richtet. Ausgehend von einer Re-Lektüre von Faschingsverkleidungen aus der Kindheit der Autorin, einmal als „Indianerin“ und einmal mit einer Maskerade, in der die sogenannte „Zigeunerbluse“ zentral steht („Gypsy Drag“), analysiert Susanne Luhmann die Bedeutungen der Kategorien Geschlecht und Begehren sowie die Frage danach, wie durch diese Darstellungen Geschichten der dargestellten Gruppen vergessen bzw. verharmlosend überschrieben werden.
Anhand der Bildungspläne für den elementarpädagogischen Bereich stellt Juliane Noack-Napoles aus einer queertheoretisch informierten Perspektive die Frage, inwieweit diese Geschlecht und Geschlechtsidentität thematisieren und wie diese Thematisierungen heteronormativitätskritisch gelesen werden können. Im Ergebnis hält sie dabei unter anderem fest, dass die in den Bildungsplänen formulierten Zugänge und Inhalte „hetero-hegemoniale Verhältnisse“ (63) fortschreiben und damit kaum Potential zu einer wünschenswerten Veruneindeutigung der Kategorien Geschlecht und Begehren beinhalten. Noack-Napoles kommt zu dem Ergebnis, dass eine Perspektivierung von Geschlecht jenseits des zweigeschlechtlichen Rahmens, die sie in einer Rückbesinnung der Pädagogik auf ihre Wurzeln in der Aufklärung ermöglicht sieht, notwendig ist.
Mit dem Themenbereich „Queere Familien in pädagogischen Kontexten – zwischen Ignoranz und Othering“ nimmt Christine Riegel ein weiteres für pädagogische Handlungsfelder wichtiges Sujet auf. Sie untersucht erziehungswissenschaftliche und (sozial-)pädagogische Fachliteratur auf der einen und Aussagen aus dem Kontext der Familienforschung auf der anderen Seite. Dabei arbeitet sie heraus, dass queere Familien in pädagogischen Diskursen und Institutionen widersprüchlich – nämlich zwischen Othering und Silencing – behandelt werden. Sie macht deutlich, dass Sensibilisierungsmaßnahmen für pädagogisches Fachpersonal wichtig sind, aber genau da an ihre Grenzen stoßen, wo gesellschaftliche Machtverhältnisse und Dominanzordnungen unhinterfragt bleiben.
Ausgehend von Paul Mecherils Kritik an Konzepten zur Förderung interkultureller Kompetenz untersuchen Bettina Kleiner und Florian Cristobal Klenk an pädagogischen Praxisfeldern orientierte Publikationen, die Genderkompetenz und Lernen/Bildungsqualität adressieren. Der theoretische Blick des Beitrags fußt dabei zum einen auf queertheoretisch entwickelter Kritik, zum anderen auf Foucaults Gouvernementalitätskonzept. Der Beitrag stellt heraus, dass in den beiden untersuchten Konzepten die Handlungsempfehlungen zu Genderkompetenzentwicklung hinter den jeweiligen theoretischen Prämissen zurückbleiben. Mit dem Vorschlag des Begriffs der Genderkompetenzlosigkeitskompetenz soll ein Plädoyer für ein Verständnis der Grenzen eigenen Wissens und Handelns, eigener Professionalität und Souveränität entstehen und gleichzeitig eine Vorstellung quasitechnologischen Wissens über Geschlecht kritisiert werden.
Mit dem Themenfeld der kritischen politischen Bildung, die als geeigneter Bezugspunkt für eine kritische Thematisierung von Geschlechterarrangements und einer entsprechenden Spielraumerweiterung verstanden wird, befasst sich der Beitrag von Susanne Offen. Anhand eines Fallbeispiels „Politik in der beruflichen Bildung“ werden unterschiedliche Facetten dieses Zusammenhangs entwickelt. Dabei steht vor allem ein didaktischer Zugang, im Beitrag durch exemplarisches Material unterlegt, der Ermöglichung neuen Wissens und Erweiterung der eigenen Haltungen durch politische Bildung im Vordergrund der Abhandlung.
Der vorliegende Band, der als Jahrbuch noch weitere, nicht direkt zum Oberthema verfasste Beiträge enthält, zeigt auf unterschiedlichen Ebenen Einsätze, Möglichkeiten und Grenzen pädagogischer Umgangsweisen mit Geschlechtern und Begehren. Die verschiedenen Zugänge sind dabei produktiv, gerade in einem Feld, das in der Erziehungswissenschaft nicht zu den Bereichen gehört, in denen die Forschung als besonders umfangreich zu bezeichnen ist. Die zentrale Problematisierung des Spannungsfeldes von Benennung und Festschreibung, Identifikation und Veruneindeutigung wird durch die einzelnen Aufsätze auf je eigene Weise konkretisiert und produktiv gemacht. Gleichzeitig wird deutlich, dass an vielen Stellen empirischer wie theoretischer Forschungsbedarf besteht, der die kritischen Potentiale der Kategorialkonzepte Gender und Heteronormativität ausschöpft und weiterentwickelt. So wäre es sicherlich von Interesse zu untersuchen, wie bestimmte Formulierungen in Bildungsplänen oder praxisorientierten Konzeptionen entstehen, welche Aushandlungsprozesse stattgefunden haben und welche Anspruchsgruppen wie beteiligt wurden. Derlei Analysen würden der notwendigen theoretischen Arbeit eine zusätzliche Materialbasis verschaffen und dadurch den problematisierten Zusammenhang zwischen dem Einklagen von Toleranz und dessen Anschlussfähigkeit an einen „neoliberalen Bildungsmarkt“ (19), einer weitergehenden Analyse zugänglich machen.