EWR 17 (2018), Nr. 3 (Mai/Juni)

Liening-Konietzko, Antje
Schülerpartizipation ermöglichen
Erfahrungen von Lehrerinnen und Lehrern an Gemeinschaftsschulen
(Studien zur Bildungsgangforschung, Bd. 45)
Opladen, Berlin & Toronto: Verlag Barbara Budrich 2017
(484 S.; ISBN 978-3-8474-2021-7; 56,00 EUR)
Schülerpartizipation ermöglichen Kindern und Jugendlichen „entgegenkommende Lebensformen“ (Habermas) zu eröffnen, um Demokratie als Lebens-, Gesellschafts-, und Herrschaftsform mitbestimmen und -gestalten zu können, erfährt in der gegenwärtigen erziehungswissenschaftlichen, pädagogischen und (bildungs-)politischen Diskussion aus unterschiedlichen Gründen eine hohe Aufmerksamkeit: Demokratielernen wird als Reaktion auf gesellschaftliche Krisenphänomene (Populismus, Extremismus) politisch gefördert und gefordert; eine demokratische Schul- und Unterrichtskultur soll konstruktive Konfliktaustragung ermöglichen; demokratische Unterrichtsstile Effizienz und Nachhaltigkeit des Lernens unterstützen und/oder Partizipation von Kindern und Jugendlichen wird – im Sinne einer pädagogischen Ethik und der Kinderrechte – als umzusetzende Selbstverständlichkeit erachtet. Das pragmatische Paradigma (Dewey) hat sich, ganz gleich welche Zielsetzung mit Partizipation verbunden wird, etabliert: Demokratie kann gelernt, verwirklicht und entwickelt werden, indem sie erfahren, mitgestaltet und bedacht wird.

Ausgangspunkt der Untersuchung von Antje Liening-Konietzko ist das wahrgenommene Defizit der Institution Schule, Kindern und Jugendlichen Erfahrungen der Mitbestimmung und -gestaltung zu ermöglichen: Sozialisationserfahrungen und Erziehungsstile in der Schule widersprächen dem zunehmend in Familien vorhandenen verhandlungsorientierten Umgangsstil. Sie konstatiert berechtigt, dass sich vorhandene Untersuchungen zu Bedingungen schulischer Partizipation überwiegend mit der Perspektive der Schülerinnen und Schüler auseinandersetzen. Der besondere Verdienst ihrer im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des Berliner Schulversuchs „Pilotphase Gemeinschaftsschule“ entstandenen Untersuchung und zugleich Dissertationsschrift ist es, sich Erfahrungen von Lehrerinnen und Lehrern zu widmen, die Schülerpartizipation zu ermöglichen versuchen. Die qualitative Fallstudie zielt darauf, deren konzeptionelles Selbstverständnis sowie den „selbstreflexiven Blick“ auf berufliche Anforderungen und förderlichen sowie hinderlichen Bedingungen bezüglich Schülerpartizipation zu rekonstruieren. Mithilfe der dokumentarischen Methode werden Lehrer-Typen entwickelt und vorgeschlagen, die in unterschiedlicher Weise mit dem professionellen Anspruch, Schülerpartizipation zu ermöglichen umgehen. Die – in vier Teile und 13 Kapitel gegliederte – umfangreiche Studie stellt so einen Beitrag zur demokratiepädagogischen Lehrerprofessionalisierung dar.

In Teil I wird der zugrundeliegende theoretische Bezugsrahmen zur Schülerpartizipationsforschung sowie zur (partizipationsorientierten) Lehrerprofessionalisierung (Bildungsgangtheorie und -forschung) entwickelt: Die Rekonstruktion der Traditionslinien von Schülerpartizipation stellt eine Einführung in demokratiepädagogisches Denken dar. Sie umfasst ein weites Feld substantieller reformpädagogischer (Dewey, Korczak, Freinet) und didaktischer (Schulz, Klafki, Klingberg) Reflexionen zum Verhältnis Partizipation, Erziehung, Schule und Unterricht. Die Verfasserin beschreibt die Genese, normativen Grundlagen, Handlungspraktiken und Ziele partizipationsorientierter Pädagogik, auch indem demokratiefördernde bildungspolitische Maßnahmen ausgehend von Re-Education, über die Unterrichtsreformen in den 1980er Jahren bis hin zum BLK-Programm „Demokratie lernen und leben“ skizziert werden. Angesichts seiner mitunter diffusen Verwendung in der schulpädagogischen und bildungspolitischen Diskussion liegt ein besonderer Verdienst darin, den Begriff Partizipation differenziert zu erschließen: Heuristiken zur Qualität und Reichweite werden vorgestellt (Partizipationsleiter, -würfel, -stufen). Die Unterscheidung von Schülermitwirkung, -mitbeteiligung, -mitbestimmung und -partizipation mündet in der Forderung, aktives Handeln von Schülerinnen und Schüler auf verschiedenen Ebenen (Schulleben, Klasse, Unterricht) und in unterschiedlichen Dimensionen (personal/sozial) zu ermöglichen. Die interaktionistische sozialisationstheoretische Reflexion von Partizipationserfahrungen verdeutlicht deren entwicklungspsychologische Relevanz und wie diese dazu beitragen kann, überfachliche Kompetenzen auf der personalen und sozialen Ebene zu fördern. Die Auseinandersetzung mit dem demokratiepädagogisch hochrelevanten Begriff Verantwortung mündet in einer Operationalisierung und im Hinblick auf die Ermöglichung von Partizipation relevanten Vorschlägen zur Schulkultur und Unterrichtsgestaltung: Verantwortungsübernahme für das eigene Lernen sowie die Schul- und Klassengemeinschaft und offene, individualisierte und selbständige Unterrichts- und Lernformen werden als förderlich für die Entwicklung demokratischer Handlungskompetenz erachtet.

In der Darstellung der Bildungsgangtheorie und -forschung wird das ihr immanente Verständnis von Schülerpartizipation herausgearbeitet: Schülerinnen und Schüler sind „Subjekte und Gestalter ihrer eigenen Bildungsgänge“ (109). Um die beruflichen Anforderungen von Lehrerinnen und Lehrer im Rahmen von Schülerpartizipation zu strukturieren, setzt sich die Verfasserin zunächst mit einem Kernbegriff der Bildungsgangtheorie auseinander: Als deren Entwicklungsaufgaben (Hericks) werden Rollenfindung, Vermittlung, Anerkennung und Kooperation beschrieben; die beiden letzteren werden hinsichtlich der Ermöglichung von Schülerpartizipation nachvollziehbar als besonders wichtig erachtet (Lehrer-Schüler-Beziehung). Das weiterführende Rahmenmodell zur Entwicklung pädagogischer Professionalität (Keller-Schneider) stellt eine heuristische Möglichkeit dar um zu erfassen, wie Lehrerinnen und Lehrer Entwicklungsaufgaben subjektiv wahrnehmen und objektive Anforderungen bearbeiten.

Im umfassenden forschungsmethodischen Teil II der Studie begründet die Verfasserin zunächst, weshalb die „neue Schulform“ Berliner Gemeinschaftsschule einen geeigneten Untersuchungsrahmen darstellt: Im Gründungsprozess werden Schülerinnen und Schüler an Schul- und Unterrichtsentwicklung beteiligt; die gewollte Heterogenität erfordert Auseinandersetzungen über das Zusammenleben und im Leitbild der Schulen ist der „selbstverantwortlich arbeitende Lernende“ manifestiert. Wenn auch stellenweise mühsam zu lesen, ist die Darstellung des methodischen Vorgehens beispielgebend: Die Auswahl der Stichprobe sowie das Sampling (Interviews mit zehn Lehrpersonen an zwei Berliner Gemeinschaftsschulen) und die Datenerhebung werden transparent erläutert sowie vor dem Hintergrund zuvor dargestellter Gütekriterien rekonstruktiver Sozialforschung legitimiert. Das episodische Leitfadeninterview ermöglicht es – kongruent zum Forschungsinteresse – „soziale Konstruktion von Wirklichkeit in der Darstellung von Erfahrungsweisen“ (170) zu erfassen. Die Verfasserin verortet die dokumentarische Methode methodologisch (Ethnomethodologie/Wissenssoziologie), erläutert deren grundsätzliches Erkenntnisinteresse (Sinngehalt, Orientierungsmuster) und methodisches Vorgehen. Hervorzuheben ist die prägnante und transparente Auswertung der Interviews: Die Schritte der Interpretation (formulierend, reflektierend) und die komparative Analyse werden ebenso veranschaulicht wie unterschiedliche Formen der Typenbildung (sinngenetisch, relational, soziogenetisch).

Die Ergebnisse des aufwendigen rekonstruktiven Forschungsprozesses (Teil III): In ihren fallübergreifenden Ergebnissen stellt die Verfasserin zunächst konzeptionelle Schülerpartizipationsverständnisse, Potentiale, berufliche Anforderungen und Bedingungen dar. Drei Formen des Verständnisses von Schülerpartizipation werden unterschieden und münden in einem Modell „der Reichweiten der Ermöglichung von Schülerpartizipation“ (217): Lehrpersonen, die „situationsbezogene Möglichkeit der Teilhabe, Mitsprache und Wahl“ (z.B. Klassensprecher-Wahl) ermöglichen; Lehrpersonen die eine „prozessorientierte Konzeption von Schülerpartizipation“ verfolgen (Austausch mit Schülerinnen und Schüler über Gestaltungsprozesse) sowie Lehrpersonen mit einem „prozess- und zielorientiertem Partizipationsverständnis“, die einen geöffneten Handlungs- und Gestaltungsrahmen konstruieren und eröffnen (bspw. Lernenden als Expertinnen und Experten in Lehrerfortbildungen). Lehrpersonen erleben berufliche Anforderungen u.a. darin, die Balance zwischen Führung und Partizipationsmöglichkeiten zu gewährleisten und einen sozialen Rahmen für Anerkennung und Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen. Als förderliche bzw. hinderliche Bedingungen werden u.a. die Einstellung der Akteure zur Schülerpartizipation, deren Beziehung untereinander sowie die Rahmung von Schülerpartizipation (objektive Lernbedingungen) identifiziert.

Die Typenbildung erfolgt auf der Grundlage des erfassten konzeptionellen Schülerpartizipationverständnis, der Vorstellung des schulischen Auftrags und der zentralen Aufgabe als Lehrperson sowie der Haltung gegenüber und dem Umgang mit Schülerpartizipation. Drei Lehrer-Typen können so rekonstruiert und formuliert werden: Der „distanzierte Typus“ erachtet Schülerpartizipation gegenüber Vorgaben als nachrangig; der „ambivalente Typus“ erlebt eine Spannung zwischen der Erfüllung von Vorgaben und der Ermöglichung von Schülerpartizipation und der „überzeugte Typus“ sieht eine Vorrangigkeit der Schülerpartizipation im Rahmen vorhandener bzw. geschaffener Freiräume.

Hinsichtlich der Implikationen (Teil IV) ermöglichen die Forschungsergebnisse eine partizipationsorientierte Erweiterung bzw. Verfeinerung dargestellter Entwicklungsaufgaben sowie des Rahmenmodells zur Entwicklung pädagogischer Professionalität. Um Schülerpartizipation zu ermöglichen müssen Lehrerpersonen bspw. „Vorgaben und Partizipation in Einklang bringen“, „die SchülerInnen in Partizipationsprozessen anleiten“ oder auch „den sozialen Rahmen für Anerkennung und Partizipation schaffen“ (423). Damit die Institution den partizipationsorientierten Ansprüchen und Herausforderungen von Lehrpersonen gerecht werden kann, müssen hierfür notwendige Schulentwicklungsaufgaben erkannt und bearbeitet werden: Es geht also letztlich darum, eine demokratiepädagogische Schulentwicklung in Gang zu setzen, die es Lehrpersonen ermöglicht, den Partizipationsbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden.

Antje Liening-Konietzkos Studie stellt einen wertvollen Beitrag zur demokratiepädagogischen Lehrerprofessionalisierung und Schulentwicklung dar. Die rekonstruierten Typen fordern Lehrpersonen professionsethisch dazu auf, den eigenen Standpunkt zu klären: Wo stehe ich im beruflichen Spannungsverhältnis zwischen (wahrgenommenen) objektiven Vorgaben und Mitbestimmungs- und Gestaltungsrechten der Schülerinnen und Schüler? Und darüber hinaus: Wie kann Schule gestaltet werden, die sich ihrer Entwicklungsaufgaben bewusst ist und Schülerpartizipation als umzusetzendes Recht zu verwirklichen versucht?
Christian Welniak (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christian Welniak: Rezension von: Liening-Konietzko, Antje: Schülerpartizipation ermöglichen, Erfahrungen von Lehrerinnen und Lehrern an Gemeinschaftsschulen (Studien zur Bildungsgangforschung, Bd. 45). Opladen, Berlin & Toronto: Verlag Barbara Budrich 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 3 (Veröffentlicht am 06.07.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384742021.html