Die Frage nach und der Umgang mit Differenzlinien spielt vor dem Hintergrund gegenwärtiger Prozesse von Pluralisierung, Individualisierung und Entstandardisierung in pädagogischen Diskursen eine wichtige Rolle. Dabei ist zunehmend von Interesse, wie Kinder selbst an der Konstruktion dieser Differenzlinien beteiligt sind und wie sie diese, sowohl in Auseinandersetzung mit den Erwachsenen als auch im Kontakt mit anderen Kindern (ko-)konstruieren – insbesondere in institutionellen Settings wie Kindertageseinrichtungen und Schulen. Melanie Kubandt widmet sich in ihrer Untersuchung der Frage, wie Erwachsene und Kinder in Kindertageseinrichtungen insbesondere mit der Differenzlinie Geschlecht umgehen und welche doing-gender-Prozesse sich hier zeigen. Bereits in ihrer Einleitung verortet die Autorin ihre Arbeit als ausdrücklich erziehungswissenschaftliche Studie und grenzt sich damit sowohl von soziologischen als auch pädagogischen Herangehensweisen ab. Die bereits an dieser Stelle deutlich werdende Intensität der Reflexion des eigenen Forschungsprozesses ist ein Qualitätsmerkmal, welches sich durch die gesamte Arbeit zieht.
Melanie Kubandts Buch ist zunächst in vier große Bereiche unterteilt. In Teil A widmet sie sich umfassend dem Forschungsgegenstand Geschlecht und beleuchtet diesen zunächst bzgl. wissenschaftlicher Diskurslinien und theoretischer Annahmen zur sozialen Konstruktion von Geschlecht, um das Thema schließlich für das frühpädagogische Feld zuzuspitzen. Anschließend wird in Teil B die methodologische Anlage der empirischen Untersuchung erläutert. Diese lässt sich kennzeichnen als ethnographische Studie, in der insbesondere mit teilnehmenden Beobachtungen gearbeitet wird. Während der 14-monatigen Erhebungsphase entsteht das Datenmaterial, welches sich zusammensetzt aus Beobachtungsprotokollen und Videomitschnitten. Diese werden kodiert, kategorisiert und sequenzanalytisch ausgewertet. Neben der üblichen Darstellung methodologischer und methodischer Spezifika des eigenen Forschungsvorgehens beinhaltet dieser Teil auch Ausführungen zur eigenen Rolle als Forscherin im Feld. In Teil C folgt die Darstellung der Ergebnisse zu Geschlechterkonstruktionen in der untersuchten Kindertageseinrichtung, strukturiert nach den verschiedenen AkteurInnengruppen Fachkräfte, Kinder und Eltern. Diese Strukturierung wird von der Autorin selbst zunächst hinterfragt, denn „im Alltag der Kindertageseinrichtung agieren die AkteurInnengruppen nicht isoliert voneinander“ (185), daran anschließend aber als sinnvolles Vorgehen begründet. Auf Fachkraft-Ebene nimmt die Autorin dabei nicht nur Beobachtungen der Fachkräfte untereinander oder zwischen Fachkräften und Kindern in den Blick, sondern bezieht insbesondere mit ein, wie die Fachkräfte auf sie re- und mit ihr als Forscherin interagieren. Dazu gehören sowohl Vermutungen der Fachkräfte, welche Situationen bzgl. der Forschungsfrage nach einem Umgang mit Geschlecht in der Kindertageseinrichtung für die Forscherin interessant sein könnten als auch ihre eigene Rolle als „Ersatzkraft“, die impliziert, dass die Forscherin längere Zeit mit den Kindern alleine sein darf. Diesen Status reflektiert Melanie Kubandt vor dem Hintergrund der eigenen Weiblichkeit und fragt, inwieweit ihr als weibliche Forscherin in dem weiblich konnotierten Arbeitsfeld Kindertageinrichtung im Sinne einer „Normalitätsfolie“ (211) eine pauschale Unschuldsvermutung entgegengebracht wird.
Diese Frage wäre auch interessant im Zusammenhang mit den Ergebnissen bzgl. der Gruppe der Eltern und deren Geschlechtskonstruktionen. Diese werden jedoch in Form eines Exkurses und im Vergleich zu den AkteurInnengruppen Fachkräfte und Kinder relativ knapp vorgestellt und fokussieren insbesondere auf das Spannungsfeld Natur vs. Kultur.
Bei den Ergebnissen der AkteurInnengruppe der Kinder fokussiert die Autorin insbesondere auf den starren vs. flexiblen Umgang der Kinder mit dem Thema Geschlecht. So stellt sie fest, dass die Kinder in unterschiedlichen Situationen teilweise nachträglich Geschlechterkategorisierungen vornehmen (z. B. bei Essenssituationen, wenn die Kinder an verschiedenen Tischen sitzen), teilweise flexibel (z. B. bei kollektiven Spielen) und teilweise starr (z. B. im Rollenspiel) mit Geschlechterkategorisierungen umgehen. Zudem kreieren die Kinder geschlechtliche Zwischenformen, z. B. beschreiben sich Kinder als Jungenfan/Mädchenfan bzw. Jungenmädchen/Mädchenjunge. „Demzufolge bewerkstelligen es die Kinder, die sich gegenseitig ausschließenden Pole der Geschlechterdifferenz ein Stück weit für sich aufzulösen und generieren eigene geschlechtlich frei konnotierte Zwischenräume, die sie für sich relativ frei deuten bzw. mit eigenen Inhalten füllen“ (252). Dies vollzieht sich allerdings immer vor dem Hintergrund der Geschlechterdichotomie, auf die die Kinder jeweils rekurrieren. Abschließend beschäftigt sich die Autorin mit der Frage, wie die bei den Kindern beobachteten Differenzierungspraktiken einzuordnen sind und kommt zu dem Schluss, dass diese weniger als Ungleichheitskonstruktionen im Sinne einer klaren Differenzierung oppositioneller Geschlechterparteien zu sehen sind, sondern vielmehr dazu dienen, über kollektivierende Zuschreibungen individuell Kontakt aufzunehmen (278).
Im Anschluss an die Darstellung der Ergebnisse erfolgt in Teil D deren Zusammenfassung und Diskussion vor dem in Teil A umrissenen theoretischen Hintergrund. Einleitend expliziert die Autorin an dieser Stelle nochmals das Ziel ihrer Untersuchung: „…eine wissenschaftliche Basis zu schaffen, um anhand der empirisch rekonstruierenden Bedeutungsdimensionen von Geschlecht im Alltag der Kindertageseinrichtung produktive Anregungen und perspektivische Erweiterungen für eine wissenschaftlich fundierte Diskussion von Geschlecht in der Pädagogik der frühen Kindheit zu offerieren“ (288). Die aktuell normativ geführten Diskurse in pädagogischer Praxis und Bildungspolitik werden jedoch nicht von ihr ignoriert, sondern kritisch in den Blick genommen, um die eigene Untersuchung mit diesen Diskursen in Beziehung zu setzen. Auf dieser Basis werden insbesondere innerhalb des frühpädagogischen Feldes fehlende theoretische und empirische Fundierungen bzgl. des Umgangs mit dem Thema Geschlecht deutlich. Kritisch werden von ihr sowohl das Thema Geschlechtergerechtigkeit (z. B. fehlende inhaltliche Bestimmung), der Umgang mit der Thematik der Kindertageseinrichtung als typisch weibliches Berufsfeld (insbesondere vor dem Hintergrund bildungspolitischer Initiativen zur Erhöhung des Männeranteils in Kitas) als auch die Diskrepanz zwischen Diskurs und Praxis (im Sinne einer rhetorischen Gleichbehandlung, die sich vor dem Hintergrund von Ungleichheiten vollzieht) diskutiert.
Das Buch von Melanie Kubandt bietet neben einer umfassenden Einführung in den Forschungsgegenstand Geschlecht eine sehr sorgfältig durchgeführte eigene Forschungsarbeit zur Frage nach der Konstruktion von Geschlechterdifferenzen in einer Kindertageseinrichtung. Ein besonderes Qualitätsmerkmal ist die beständige Reflexion der eigenen Rolle als Forscherin und der Einbezug von Datenmaterial, welches in direkten Interaktionsprozessen mit Fachkräften und Kindern entstanden ist. Durch eine gelungene Auswahl von Ausschnitten aus Beobachtungsprotokollen werden Ergebnisse und deren Interpretation nachvollziehbar. Kritisch anzumerken ist, dass – obwohl die Autorin selbst anmerkt, dass die verschiedenen AkteurInnengruppen, insbesondere Fachkräfte und Kinder, im Alltag zusammen agieren – gemeinsame Interaktionsprozesse weniger in den Blick genommen werden und auch die Ergebnisse bzgl. der Rekonstruktionen von Geschlecht, die von den Fachkräften und den Kindern vorgenommen werden, nur wenig aufeinander bezogen sind. Wie Kinder und Erwachsene Geschlecht in Kindertageseinrichtungen also gemeinsam ko-konstruieren, bleibt offen. Die Studie von Melanie Kubandt glänzt durch eine differenzierte Rekonstruktion der eigenen Forschungstätigkeit. Darüber hinaus leistet sie durch die klar erziehungswissenschaftliche Verortung einen wichtigen Beitrag zur disziplin- bzw. wissenschaftstheoretischen Reflexion der frühpädagogischen Auseinandersetzung mit dem Thema Geschlecht, die bislang insgesamt noch am Anfang steht und bzgl. Theoriebildung und Theorieentwicklung weiter ausgebildet werden müsste.
EWR 16 (2017), Nr. 1 (Januar/Februar)
Geschlechterdifferenzierung in der Kindertageseinrichtung
Eine qualitativ-rekonstruktive Studie
Studien zu Differenz, Bildung und Kultur Band 3
Studien zu Differenz, Bildung und Kultur Band 3
Opladen: Barbara Budrich 2016
(355 S.; ISBN 978-3-8474-0780-5; 44,00 EUR)
Julia Höke (Paderborn)
Zur Zitierweise der Rezension:
Julia Höke: Rezension von: Kubandt, Melanie: Geschlechterdifferenzierung in der Kindertageseinrichtung, Eine qualitativ-rekonstruktive Studie Studien zu Differenz, Bildung und Kultur Band 3. Opladen: Barbara Budrich 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 1 (Veröffentlicht am 02.02.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384740780.html
Julia Höke: Rezension von: Kubandt, Melanie: Geschlechterdifferenzierung in der Kindertageseinrichtung, Eine qualitativ-rekonstruktive Studie Studien zu Differenz, Bildung und Kultur Band 3. Opladen: Barbara Budrich 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 1 (Veröffentlicht am 02.02.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384740780.html