In Grundschulen begeben sich Schülerinnen und Schüler zu unterschiedlichen Anlässen mit der jeweiligen Lehrperson in einen (Gesprächs-)Kreis. Friederike Heinzel definiert einen solchen täglich am Morgen stattfindenden Kreis als Morgenkreis. In der vorliegenden Fallanalyse nutzt sie Material, das im Rahmen ihrer unveröffentlichten Habilitationsschrift aus dem Jahr 2001 zum Morgenkreis in der Grundschule bei Beobachtungen entstanden ist. Mit der Publikation will Heinzel die bisher geringe Zahl an Veröffentlichungen zum Morgenkreis ergänzen. Ziel der Studie ist die Erforschung von Ablauf und Funktion des Morgenkreises.
Nach einer Einleitung, in der die Bedeutung eines Morgenkreises hervorgehoben wird, referiert Kapitel zwei ausgewählte strukturfunktionalistische und symbolisch-interaktionistische Theorien und Konzepte, auf die sich Heinzel in ihrer Fallanalyse und Fallinterpretation bezieht. Beispielsweise geht das theoretische Konzept des Kindes „als sozialer Akteur“ davon aus, dass das Kind an der Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit aktiv beteiligt ist. Heinzel verortet ihre Herangehensweise in Theorien zu ethnografischen und handlungsorientierten Ansätzen, etwa unter theoretischer Bezugnahme auf Goffmans Bühnenkonzept (im Hinblick auf die Selbstdarstellung) und Wulfs ritualtheoretische Überlegungen (hinsichtlich des Erlernens ritualisierter Handlungen).
Kapitel drei beschäftigt sich mit dem Forschungsstand zu Kreisgesprächen. Dieser beschränkt sich im Verhältnis zu Praxishandreichungen auf nur wenige empirische Studien vornehmlich zu den Schwerpunkten Klassenrat, Kreisgespräche, Morgenkreise und Morgenkreisprotokolle. Der Forschungsstand ist mit den jeweils wichtigsten Ergebnissen der einzelnen Studien dargestellt. Wesentliche Forschungsbefunde sind unter anderem, dass der Morgenkreis die jeweilige Lehrperson vor Herausforderungen stellt, etwa die eigenen Redeanteile zu reduzieren. Gleichzeitig sollen die Schülerinnen und Schüler unter anderem in ihrer Sprachkompetenz sowie in den sozialen Fähigkeiten gefördert werden.
Im anschließenden vierten Kapitel wird das methodische Vorgehen näher beschrieben. Für Heinzels Habilitationsprojekt wurden bereits in den 1990er Jahren in 23 Grundschulklassen teilnehmende Beobachtungen durchgeführt. Für die vorliegende Fallanalyse wurde aus dem bereits erhobenen Datenmaterial eine Klasse mit anfangs 18, später 19 Schülerinnen und Schülern im Alter zwischen neun und zwölf Jahren ausgewählt. Die an fünf aufeinanderfolgenden Tagen videografierten Morgenkreise sowie deren Transkriptionen bilden somit die Datengrundlage. Ergänzt wird dieses Material um interpretative Beschreibungen auf der Grundlage von Feldnotizen und Transkriptionen sowie darüber hinaus um ausgewählte Leitfadeninterviews. Für diese Leitfadeninterviews wurden zwei Kinder – wenige Monate nach deren Grundschulzeit – zu ihren Erfahrungen mit Kreisgesprächen interviewt. Die damals beteiligte Lehrperson wurde ebenfalls zum Morgenkreis befragt.
In Kapitel fünf werden die beobachteten Morgenkreise des ausgewählten Falls tageweise geschildert. Die Zwischenüberschriften bestehen teilweise aus Zitaten und teilweise aus Inhalten der im Morgenkreis besprochenen Themen. Diese Art der Ergebnisdarstellung nach Wochentagen und jeweiligen Inhalten des Gesprächs im Morgenkreis ist für Leserinnen und Leser, die mit ethnografischer Forschung wenig Erfahrung haben, zunächst nicht eindeutig nachvollziehbar, da keine Einleitung zur Darstellungsform der Ergebnisse erfolgt. Um Studierende als Leserschaft zu gewinnen, wäre hier eine kurze Notiz zur Darstellungsform hilfreich gewesen. Am Ende jeder Darstellung resümiert Heinzel die wichtigsten Aspekte und Themen vom jeweiligen Tag. Dabei stellt sie interpretierende Bezüge zu den von ihr bereits aufgezeigten theoretischen Aspekten und dem Forschungsstand her. Im Anschluss wertet die Autorin ergänzend die Sichtweisen einzelner Schülerinnen und Schüler aus den geführten Leitfadeninterviews themenzentriert aus. Hierbei findet eine forschungsmethodische Triangulation statt. Die Interviews wurden im Hinblick auf verschiedene Perspektiven (auf der Grundlage von den Kreisgesprächen und den Einzelinterviews) miteinander verknüpft und verglichen. Ein Schwerpunkt liegt auf der Interaktionsanalyse, die sich aus der Sichtweise der befragten Kinder und der Lehrperson ergibt. Ein Ergebnis ist hier, dass die Sitzplatzwahl der Schülerinnen und Schüler im Morgenkreis nicht willkürlich, sondern bewusst erfolgt. Diese Wahl hängt von drei Faktoren ab: von der Position der Freunde und der Lehrkraft im Kreis sowie vom Geschlecht der benachbarten Schülerinnen und Schüler.
Das sechste Kapitel befasst sich mit den Strukturmerkmalen von Morgenkreisen, die Heinzel anhand ihrer Beobachtungen und Interviews identifiziert hat. Diese analytische Zusammenschau liegt quer zu den vorab chronologisch dargestellten Ergebnissen. Sie unterteilt die Strukturmerkmale in Strukturen der Interaktion, Strukturen der Partizipation und Strukturen des Zwischenraums. Heinzel stellt fest, dass im Morgenkreis oftmals die aus dem Frontalunterricht bekannte Interaktionsstruktur „Lehrerfrage – Schülerantwort – Lehrerrückmeldung“ (98) vorkomme, allerdings genauso charakteristisch die Struktur „Schülerbeitrag – Schülerfrage – Schülerantwort“ (98) ist. Dabei konnten jedoch keine längeren inhaltlichen Gespräche zwischen den Schülerinnen und Schülern beobachtet werden. Stattdessen verliefen die Gespräche formalisiert und zum Teil ritualisiert ab. Innerhalb der Partizipationsstrukturen findet die Autorin heraus, dass die Schülerinnen und Schüler im Morgenkreis Raum für Mitbestimmungen erhalten. Bei ihrer Analyse des Morgenkreises als Zwischenraum konstatiert Heinzel, dass sie diesen als Übergangsraum im Sinne Winnicotts (1969) versteht, worin ritualisierte Kommunikation und Vermittlung zwischen und innerhalb der Generationen stattfindet. Besonders hier wird deutlich, was der Untertitel des Bandes andeutet: Der Morgenkreis stellt sich als klassenöffentlicher Unterricht dar, der sich zwischen einerseits schulischen und andererseits peerkulturellen Herausforderungen bewegt.
Das Schlusskapitel ist schulpädagogischen und praxisbezogenen Erörterungen zum Morgenkreis und seinem Potential für schulisches und pädagogisches Handeln gewidmet. Eine wesentliche Bedeutung kommt der Lehrperson zu, da diese für die Organisation und Durchführung des Morgenkreises verantwortlich ist. Zu Ablauf und Funktion des Morgenkreises im praktischen Vollzug empfiehlt Heinzel, diese zwei Aspekte immer wieder neu und kritisch zu reflektieren, um so die Legitimität von Routinen zu begründen bzw. zu überdenken. Die Relevanz der unterrichtlichen Interaktionen wird im Schlusskapitel besonders hervorgehoben und sollte Heinzel zufolge in der Lehrerbildung mehr Beachtung erlangen.
Insgesamt besteht der besondere Reiz der vorliegenden Veröffentlichung darin, dass der Morgenkreis als eigenständige Sozialform herausgearbeitet wird. Dies mag zunächst überraschen, doch Heinzel legt die spezifische Funktion des Morgenkreises dar. Im Unterschied zum (herkömmlichen) Frontalunterricht, der ebenfalls ein klassenöffentlicher Unterricht ist, steht im Morgenkreis die Gruppe und nicht die Lehrkraft im Vordergrund. Die Schülerinnen und Schüler werden im Morgenkreis als Gruppe deutlich und können sich wechselseitig als solche betrachten. Dabei können sie sich als Teil der Schülerschaft einer Schule und gleichzeitig als Angehörige einer Lerngruppe erkennen. Damit geht für Lehrkräfte wie für Schülerinnen und Schüler der ambivalente Anspruch einher, im Morgenkreis sowohl schulischen als auch peerkulturellen Herausforderungen gerecht zu werden. Das Buch ist Personen zu empfehlen, die an Fallstudien interessiert sind, und auch Praktikerinnen und Praktikern, die eine neue Perspektive auf Gewohntes suchen.
EWR 16 (2017), Nr. 1 (Januar/Februar)
Der Morgenkreis
Klassenöffentlicher Unterricht zwischen schulischen und peerkulturellen Herausforderungen
Pädagogische Fallanthologie, Band 13
Pädagogische Fallanthologie, Band 13
Opladen: Barbara Budrich 2016
(121 S.; ISBN 978-3-8474-0762-1; 12,90 EUR)
Tina von Dapper-Saalfels (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Tina von Dapper-Saalfels: Rezension von: Heinzel, Friederike: Der Morgenkreis, Klassenöffentlicher Unterricht zwischen schulischen und peerkulturellen Herausforderungen Pädagogische Fallanthologie, Band 13. Opladen: Barbara Budrich 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 1 (Veröffentlicht am 02.02.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384740762.html
Tina von Dapper-Saalfels: Rezension von: Heinzel, Friederike: Der Morgenkreis, Klassenöffentlicher Unterricht zwischen schulischen und peerkulturellen Herausforderungen Pädagogische Fallanthologie, Band 13. Opladen: Barbara Budrich 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 1 (Veröffentlicht am 02.02.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384740762.html