Die Beratung von Eltern durch Lehrkräfte stellt einen Fall pädagogischen Handelns dar, der bis heute widersprüchlich in Disziplin und Profession verhandelt wird. Folgerichtig beginnt die Autorin in ihrer qualitativ-empirischen Studie mit einigen dieser zentralen Widersprüche. So lässt sich einerseits die programmatisch fixierte und normativ stark betonte Bedeutung von Beratungsleistungen durch Lehrkräfte feststellen, der aber andererseits in der Lehrerbildung und pädagogischen Handlungsforschung bisher kaum systematisch Platz eingeräumt wurde. Dies mag daran liegen, dass Beratung zunächst auf einen stark alltagssprachlich verwendeten Begriff verweist, dem als einer zu professionalisierenden Handlungsform prinzipiell schlechte Startbedingungen für einen Professionalisierungsdiskurs mitgegeben sind – wobei diese Feststellung als Teil des deutschen Sonderweges in der Erziehungswissenschaft aufzufassen ist, dem eine im internationalen Kontext reichhaltig ausdifferenzierte Verhandlung von Beratung als professionelle Hilfeform gegenübersteht.
Es wundert daher nicht, dass aufgrund dieser unklaren Lage des Beratungsbegriffes sowohl in der theoretischen Aufarbeitung (die die Autorin entlang der Literaturbestände aus dem deutschsprachigen Raum vollzieht) als auch als wesentliches Desiderat aus dem empirischen Teil neben gekonntem Handeln auch Fehlentwicklungen und problematische Aspekte von Beratung von Lehrkräften zu Tage treten: Das direktive Vermitteln von Informationen, die Nutzung von Beratungsanlässen lediglich zur einseitigen Rückmeldung von der Lehrkraft an die Eltern, das Negieren reflexiver Basisbedingungen für gelingende Beratungsprozesse etc. lassen sich konsistent als Befund eines erst sich entwickelnden Professionalisierungsdiskurses um Beratung an der Schule lesen, den die Autorin in ihrer Studie nachzeichnet.
Auf welchem Weg erfahren die LeserInnen von diesem durchaus kritischen Befund? Zunächst stellt die Autorin dazu in Kapitel 2 Beratung durch Lehrkräfte als professionelle Aufgabe vor und beruft sich dabei auf Bildungsprogrammatik und Professionstheorie. Diese beiden Begründungszusammenhänge als Ausgangspunkt nehmend, stellt sie dann zunächst pädagogische und psychologische Definitionen von Beratung als Aufgabe von Lehrkräften dar. Es wundert beratungserfahrene LeserInnen an dieser Stelle dann nicht, dass aufgrund der heterogenen Literaturlage aus dieser Zusammenschau Beratung durch Lehrkräfte folgerichtig als eklektisch-integrativer Ansatz erscheint, in der die bisweilen widersprüchlichen Versatzstücke aus methodischen und programmatischen Beratungsansätzen dann fall- und situationsspezifisch (re)kombiniert werden sollen.
Jenseits dieser oft eng geführten Debatten zur inhaltlich-methodischen Vorgehensweise findet sich die Systematisierung von Beratung nach Formalisierungsgraden, die gerade für das Arbeitsfeld Schule aufschlussreich ist. Die Bandbreite umfasst dabei spontane Tür-und-Angel-Gesprächen bis hin zu hochgradig artifiziell ausgestalteten Beratungskontakten mit Terminvorgabe und weitgehender Vorstrukturierung. Für das Verständnis der eingangs geschilderten kritischen Anteile des Diskurses zu Beratung an der Schule ist ein Kapitel zu Funktionen und Fehlformen besonders aufschlussreich und zum Verständnis der gewonnenen empirischen Daten dringend notwendig. Die so informierten LeserInnen erfahren im Anschluss etwas über die personengebundenen Fähigkeiten, also die Beratungskompetenz von Lehrkräften, die beraten sollen und / oder wollen. Auch hier stellt die Studie von Daniela Sauer erfreulicherweise neben den vorzuhaltenden Wissens- und Könnensaspekten ebenso zentrale Dilemmata und Widersprüche von Beratungshandeln heraus, die sich gerade in der je einzigartigen Vorgehensweise von Fachkräften zeigen und ausgehalten und ausgehandelt werden müssen: Umgang mit (heimlicher) Moral, Hierarchie- und Rollenkonflikte etc.
Aus dem an dieser Stelle abgeschlossenen Theorieteil entwickelt Daniela Sauer dann in Kapitel drei ihre Forschungsfragen, die sich konsistent aus der heterogenen Literaturlage ergeben: So wissen wir zu wenig darüber, wie und aufgrund von welchem Beratungsverständnis Lehrkräfte Eltern an der Schule beraten.
Diesen spannenden Fragen geht die Autorin in Kapitel vier im Rahmen einer qualitativ-rekonstruktiven Studie nach. In leitfadengestützten Interviews mit Lehrkräften an der Schule untersucht sie methodisch entlang der dokumentarischen Methode die Handlungspraxis in der Beratung von Eltern. Konsistent mit dem gewählten Forschungsansatz entwickelt sich so zunächst aus der formulierenden, dann reflektierenden Interpretation des gewonnenen Interviewmaterials die in der dokumentarischen Methode vorgesehene Typenbildung. Die Studie ist sehr sorgfältig und ausführlich dokumentiert, was dem Charakter einer monografischen Dissertation entspricht. Weniger an Forschung interessierte LeserInnen werden an dieser Stelle vermutlich manche Kapitel überspringen, in denen sehr kleinschrittig das Interpretationsverfahren erläutert wird, das dann über ausführlich dargestellte Fallportraits von vier interviewten Lehrkräften zu den gewonnenen sinngenetischen Typen von Beratung führt.
In dieser in Kapitel fünf dargestellten Typologie werden zunächst zwei übergeordnete Wege unterschieden: Typ A (Beratung als durch elterliche Problemwahrnehmung initiiertes Lehrer-Elterngespräch) sowie Typ B (Beratung als durch lehrkraftbezogene Problemwahrnehmung initiiertes Lehrer-Elterngespräch). Diese beiden Typen differenzieren sich nochmals zu vier Untertypen aus, in denen Beratung vom Typ A dann als responsives Unterstützungsangebot (Typ A-1) oder als direktiver Ratschlag (Typ A-2) rekonstruiert werden kann, während sich Typ B-Beratungen als lehrkraftinitiierte Rückmeldung (Typ B-1) oder als Bearbeitungsversuch in einem belastenden Konflikt (Typ B-2) zeigen.
In dieser Typologie zeigen sich sehr detailliert sowohl gelingende Anteile von Beratung (z.B. das responsive Aufgreifen von Elternbedürfnissen), aber eben auch problematische Praxisformen, in denen Beratung z.B. zur Instruktion verkommt und so ihr Potential nicht zu entfalten vermag und die fehlende Differenz zwischen Unterrichten und Beraten deutlich wird. Die Autorin entwickelt nun im Aufgreifen ihrer Ergebnisse in Kapitel 6 und 7 das Konzept einer gegenstandsbezogenen Theoriebildung zur Lehrer-Elternberatung sowie eine „didaktische Landkarte der Lehrer-Eltern-Beratung“, wobei sie beide Teilprojekte im Kontext von Professionalisierung und Verbesserung der LehrerInnenausbildung und der anwendungsnahen Praxisforschung versteht.
Insgesamt handelt es sich bei der Studie von Daniela Sauer um ein sehr lesenswertes Buch sowohl für Lehrkräfte als auch für Lehrende und Forschende. Der 183 Seiten umfassende Text wird durch sieben Abbildungen und sieben Tabellen illustriert. Aus Sicht des Rezensenten ist die Perspektive der Autorin (und der von ihr genutzten Literatur), die von einer starken Professionalisierungsbedürftigkeit von Beratung durch Lehrkräfte ausgeht, gut nachvollziehbar. Eine solche Perspektive muss dann, wie von der Autorin beginnend entwickelt, nach Theoriebildung, aber auch nach dem Vermitteln und Entstehen einer beraterischen Könnerschaft fragen, die sich deutlich von der Tätigkeit des Unterrichtens unterscheiden wird und muss und in Zeiten der Umgestaltung von Schule (Stichworte Inklusion, Ganztag, Gemeinschaftsschulkonzepte) noch weiter an Bedeutung gewinnen wird.
EWR 15 (2016), Nr. 4 (Juli/August)
Wie beraten Lehrkräfte Eltern?
Eine qualitativ-rekonstruktive Studie zur Beratungsaufgabe von Lehrkräften
ZBBS-Buchreihe: Studien zur qualitativen Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung
ZBBS-Buchreihe: Studien zur qualitativen Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung
Opladen: Barbara Budrich 2015
(183 S.; ISBN 978-3-8474-0731-7; 28,00 EUR)
Marc Weinhardt (Darmstadt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marc Weinhardt: Rezension von: Sauer, Daniela: Wie beraten Lehrkräfte Eltern?, Eine qualitativ-rekonstruktive Studie zur Beratungsaufgabe von Lehrkräften ZBBS-Buchreihe: Studien zur qualitativen Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung. Opladen: Barbara Budrich 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384740731.html
Marc Weinhardt: Rezension von: Sauer, Daniela: Wie beraten Lehrkräfte Eltern?, Eine qualitativ-rekonstruktive Studie zur Beratungsaufgabe von Lehrkräften ZBBS-Buchreihe: Studien zur qualitativen Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung. Opladen: Barbara Budrich 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384740731.html