EWR 16 (2017), Nr. 3 (Mai/Juni)

Verena Schurt / Wiebke Waburg/ Volker Mehringer / Josef Strasser (Hrsg.)
HeterogenitÀt in Bildung und Sozialisation
Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich 2016
(219 Seiten; ISBN 978-3-8474-0517-7; 29,90 EUR)
HeterogenitĂ€t in Bildung und Sozialisation SpĂ€testens seit den 2000er Jahren ist HeterogenitĂ€t zu einem Schlagwort der sozialwissenschaftlichen Forschungslandschaft avanciert. Dabei sind die Perspektiven, die unter diesem Label verhandelt werden, ebenso weitreichend wie uneinheitlich – und nicht zuletzt auch paradox: Mit unterschiedlich akzentuierten ZugĂ€ngen wie Diversity, Lern- und Begabungsforschung, IntersektionalitĂ€t, Inklusion oder DifferenzreflexivitĂ€t bewegen sich aktuelle HeterogenitĂ€tsvorstellungen „zwischen affirmativen Steuerungskonzepten und identitĂ€tskritischen AnsĂ€tzen“ [1] und haben entsprechend auch unterschiedliche Implikationen mit Blick auf Bildungs- und SozialisationszusammenhĂ€nge. So erscheint HeterogenitĂ€t im ersten Fall primĂ€r als Frage nach natĂŒrlichen Ressourcen und damit verbundenen (pĂ€dagogischen) Förderungsstrategien, wĂ€hrend im zweiten Fall vor allem gesellschaftliche Privilegierungs- und Benachteiligungskategorien und damit die Frage nach Diskriminierung in den Blick rĂŒcken.

Eben diese konzeptuelle Vielfalt und die inneren Spannungen in Bezug auf den HeterogenitĂ€tsbegriff sind der Ausgangspunkt fĂŒr den vorliegenden Sammelband. Zugrunde liegt hier der Anspruch, HeterogenitĂ€t nicht verkĂŒrzt als pĂ€dagogisch handhabbare und „ontologische Tatsache“ (Schurt / Warburg / Mehringer / Strasser, 11) zu verstehen und stattdessen vor allem die Konstruktionsmacht heterogenitĂ€tsbezogener Zuschreibungen in den Blick zu nehmen. IdentitĂ€tskritisch liest sich dieser Anspruch insofern, als er HeterogenitĂ€t nicht im Sinne von objektiv gegebenen Wesensmerkmalen einer bestimmten Klientel thematisiert, sondern zunĂ€chst auf pĂ€dagogische Zuordnungsprozesse entlang von sozialen Differenzlinien hinweist, die als solche in der Regel unsichtbar bleiben. Die Herausgeber/-innen Verena Schurt, Wiebke Warburg, Volker Mehringer und Josef Strasser, die alle in erziehungswissenschaftlicher Forschung und Lehre an der UniversitĂ€t Augsburg verortet sind, heben dazu drei besondere Anliegen hervor: erstens die theoretische SchĂ€rfung aktueller HeterogenitĂ€tsvorstellungen, zweitens die Analyse der pĂ€dagogischen Herstellungsprozesse von und Umgangsweisen mit HeterogenitĂ€t auf empirisch-methodologischer Ebene und drittens die heterogenitĂ€tssensible Entwicklung pĂ€dagogischer Praxiskonzepte. Als geeignete Vorgehensweise fĂŒr die Untersuchung entsprechender Settings werden vorwiegend rekonstruktive Methoden der Sozialforschung in Form von Interviewstudien, Befragungen und Diskursanalysen hinzugezogen. Die insgesamt zehn BeitrĂ€ge gehen zum Großteil aus Forschungsarbeiten des Augsburger Promotionskollegs „HeterogenitĂ€t und Bildungserfolg“ hervor und gliedern sich innerhalb des Sammelbandes in die beiden Abschnitte „Schule als Bildungs- und Sozialisationskontext“ und anschließend – sehr allgemein – „weitere Bildungs- und Sozialisationskontexte“.

Im ersten Abschnitt werden in sieben BeitrĂ€gen sowohl auf pĂ€dagogische Professionalisierung und schulische Organisationsformen bezogene Problemstellungen als auch biografische Aspekte schulischer BildungsverlĂ€ufe vorgestellt. Beleuchtet werden dabei zunĂ€chst interkulturelle LehrprofessionalitĂ€tskonzepte (Josef Strasser), die Wahrnehmung struktureller Herausforderungen von ÜbergĂ€ngen in den Lehrberuf (Karin AschenbrĂŒcker / Marco Schröder / Alexandra Zernikel), herkunftsbezogene Kognitionsverzerrungen in der Urteilsbildung von Lehrer/-innen (Anita Tobisch / Markus Dresel), Bewertungsunterschiede der HeterogenitĂ€tsdimension zwischen homogenen und jahrgangsgemischten Eingangsklassen (Andreas Hartinger / Frauke Grittner / Cornelia Rehle) sowie die schulische Haltung gegenĂŒber Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit (Isabella Wlosslek / Martina Rost-Roth). Das Pendant zu diesen primĂ€r lehrzentrierten Perspektiven bilden zwei BeitrĂ€ge, die sich anschließend mit Bildungslaufbahnen von jugendlichen Migrant/-innen und dem Zusammenhang von selbstbestimmter Motivation (Marie Horstmeier) und elterlicher UnterstĂŒtzung migrantischer SchĂŒler/-innen (ValĂ©rie-D. Berner / Sonja Bieg) beschĂ€ftigen. Der zweite Abschnitt, der mit drei BeitrĂ€gen wesentlich knapper ausfĂ€llt, gibt einen exemplarischen Einblick in außerschulische Forschungsbereiche und gesellschaftliche Handlungskontexte, in denen HeterogenitĂ€t als aktuelles Thema verhandelt wird. Die BeitrĂ€ge umfassen im Einzelnen eine methodologische Auseinandersetzung mit reifizierenden Wirkungsweisen des IntersektionalitĂ€tsansatzes (Anette Schultheiß-Roche), eine Diskursanalyse zu IntergenerationalitĂ€tskonstruktionen im Konfliktfeld Computerspiele und Gewalt (Michael Lippock) sowie eine partizipative Projektevaluation der Umsetzung von gender- und diversity-orientierten Gleichstellungskonzepten im betrieblichen Umfeld (Hildegard Macha / Stefanie Hitzler / Elena Spiegler).

Ausgehend von dem klar gesetzten identitĂ€tskritischen Anspruch liegt die StĂ€rke des Sammelbandes darin, dass durch zahlreiche empirische und methodologische Bearbeitungen des Themas die Tragweite gegenwĂ€rtiger Erwartungen gegenĂŒber der HeterogenitĂ€tsdimension in vielerlei Hinsicht sichtbar wird. Hierzu zĂ€hlt auch die Miteinbeziehung einer Bandbreite von unterschiedlichen Kategorien, die neben herkunfts-, klassen- und geschlechtsbezogenen Kriterien auch die pĂ€dagogisch bislang weniger stark untersuchte Differenzlinie Alter/Generationenzugehörigkeit aufgreift. Gleichwohl fĂ€llt auf, dass die Kategorie Geschlecht bis auf eine Ausnahme insgesamt eher marginal und körperliche BefĂ€higung und SexualitĂ€t als Kategorien in keinem der BeitrĂ€ge zentral behandelt werden. Dennoch lassen sich die WirkungszusammenhĂ€nge zwischen einzelnen Kategorien stellenweise sehr plastisch nachvollziehen. So wird etwa deutlich, dass die Bewertung sozialer Kategorien je nach Vorbereitung im Studium stark variiert und hier vor allem im Bereich Migration/Rassismus gegenĂŒber den Bereichen Gender und Inklusion ein wesentlich höherer Sensibilisierungsbedarf besteht (vgl. AschenbrĂŒcker / Schröder / Zernikel, 66). Ebenso zeigt sich, dass gerade die Kombination der Kategorien Ethnie/Migrationshintergrund und Klasse in der Schule zu folgenreichen Assoziationsketten fĂŒhren kann und die Erwartungshaltung von Lehrpersonen in Bezug auf Leistung und Sozialverhalten z. T. maßgeblich beeinflusst (vgl. Tobisch / Dresel, 78 ff). Die Fragen, welche Diskriminierungs- und MachtverhĂ€ltnisse in aktuellen Diskursen tendenziell noch immer bagatellisiert werden oder inwieweit spezifische Gruppenmarkierungen hier klar mit konkreten gesellschaftlichen ZugestĂ€ndnissen verknĂŒpft sind, erlangen so eine besondere Bedeutung. Gleichzeitig findet hierbei auch der wichtige Aspekt der Institutionenkritik Beachtung, wenn z. B. auf „die heterogenisierende Wirkung des Bildungswesens“ (AschenbrĂŒcker / Schröder / Zernikel, 58) oder im Anschluss an Ingrid Gogolin auf den „monolingualen Habitus der Schule“ (Wlossek / Rost-Roth, 106; Horstmeier, 138) hingewiesen wird und damit neben professionsspezifischen auch organisationale Rahmenbedingen schulischer Selektionsprozesse in den Blick rĂŒcken.

DemgegenĂŒber liegt die SchwĂ€che der Publikation darin, dass eben dieser identitĂ€tskritische Anspruch nicht immer konsequent eingelöst werden kann. Entgegen der ausdrĂŒcklichen Akzentsetzung der Herausgeber/-innen, vor allem auch selbstreflexive Perspektiven auf die pĂ€dagogische Beteiligung an HeterogenitĂ€tskonstruktionen zu eröffnen, tendieren vor allem im ersten Teil des Bandes einige der BeitrĂ€ge zu einem kompensatorischen Gestus und damit einhergehend zu einer verkĂŒrzten Förderperspektive. Dies ist z. B. der Fall, wenn Strasser in Bezug auf die Interaktionen zwischen dominanzgesellschaftlichen Lehrpersonen und migrantischen SchĂŒler/-innen trotz seines stereotypenkritischen Zugangs von „interkulturellen Konflikten“ (Strasser, 38) – und eben gerade nicht von der Kulturalisierung von Konflikten – ausgeht und auf diese Weise letztlich die paternalistische Vorstellung von interkultureller Kompetenz als einer pĂ€dagogischen Sonderform bestĂ€tigt. HĂ€ufig verwendete Formulierungen wie Herausforderung oder der Umgang mit unterstreichen diesen Eindruck: Sie vermitteln ein Bild von HeterogenitĂ€t als besonderem Ausnahmefall und lenken den Fokus auf die Frage nach pĂ€dagogischer SouverĂ€nitĂ€t. Wichtige Ansatzpunkte metatheoretischer und diskriminierungskritischer Perspektiventwicklungen werden so bisweilen verschenkt bzw. auf unglĂŒckliche Weise wieder relativiert.
In Bezug auf die Schwerpunktsetzung lĂ€sst sich zudem festhalten, dass viele der BeitrĂ€ge tendenziell sozial- bzw. kognitionspsychologisch ausgerichtet sind und damit der Sozialisationsaspekt gegenĂŒber bildungstheoretischen Fragestellungen – sofern Bildung nicht auf den formalen Aspekt institutioneller Ausbildung verkĂŒrzt werden soll – stĂ€rker im Vordergrund steht. Gesellschaftskritische Kontextualisierungen geraten vor diesem Hintergrund manchmal deutlich zu kurz, indem HeterogenitĂ€ts- bzw. Differenzkonstruktionen vorwiegend auf der individuellen Vorurteils- und Einstellungsebene und weniger auf der gesellschaftlichen Ebene von Diskriminierung und MachtverhĂ€ltnissen beleuchtet werden. Dies gilt etwa dann, wenn UnverhĂ€ltnismĂ€ĂŸigkeiten in der Leistungsbeurteilung als Ergebnis einer unterschiedlichen „sozialen Informationserarbeitung“ (Tobisch / Dresel, 83) von LehrkrĂ€ften erscheinen. Ebenso zu diskutieren wĂ€re, ob die prekĂ€re Bildungssituation migrantischer SchĂŒler/-innen mit der Frage nach persönlicher Motivation und familiĂ€rer UnterstĂŒtzung (vgl. Berner / Bieg, auch Horstmeier, 130) angemessen erfasst ist, wenn diskursiv vermittelte Bilder ĂŒber Migrant/-innen als einer prototypisch ,bildungsfernen Bevölkerungsgruppe‘ und Subjektivierungsprozesse unter den Bedingungen von Rassismus hierbei nicht berĂŒcksichtigt werden.

In diesem Zusammenhang fĂ€llt auch auf, dass gerade die empirischen ForschungsbeitrĂ€ge des Bandes sich teilweise auf einer eher deskriptiven Ebene bewegen und wenig (normative) Bewertung in die vorgestellten Untersuchungsergebnisse einfließen lassen. So werden heterogenitĂ€tsbezogene Konstruktionsprozesse zwar vielfach exemplarisch deutlich, jedoch besonders in den EinzelbeitrĂ€gen des ersten Teilabschnitts nicht immer explizit auch als solche benannt und hinterfragt. Eine stĂ€rkere theoretische Rahmung der methodologischen Settings wĂ€re hier stellenweise sicherlich von Vorteil gewesen, um den eigentlich so unmissverstĂ€ndlich hervorgehobenen identitĂ€tskritischen Anspruch der Herausgeber/-innen konsequenter zum Ausdruck zu bringen. Im Vergleich dazu setzen die BeitrĂ€ge des zweiten Teilabschnitts im Hinblick auf politische Positionierung und die theoretische Metareflexion forschungsbezogener Reproduktionsfallen deutlich entschlossenere Akzente – etwa dann, wenn hinsichtlich der gegenwĂ€rtigen Rezeption von Genderkonzepten die „Gefahr der Entpolitisierung“ (Macha / Hitzler / Spiegler, 200) als wesentlicher Forschungsanlass fĂŒr den Bereich betriebliche Gleichstellung herausgestellt wird. Hinweise solcherart sind wichtige Impulse fĂŒr einen selbstreflexiven Zugang zu heterogenitĂ€tsbezogener Forschung und als solche im Sammelband insgesamt leider zu wenig vertreten.

Trotz dieser EinwĂ€nde soll das grundsĂ€tzliche Anliegen des Sammelbandes abschließend nochmals ausdrĂŒcklich befĂŒrwortet werden – insbesondere insofern, als es sich ĂŒberwiegend um Dissertationsprojekte handelt, die auch zukĂŒnftig eine breit angelegte und nicht-affirmative Auseinandersetzung mit dem Thema HeterogenitĂ€t versprechen. Nicht zuletzt sind die angezeigten Leerstellen in Bezug auf die kritische Einordnung empirischer Forschungsergebnisse auch vor dem Hintergrund der (sozial-)wissenschaftlich noch immer stark verbreiteten Trennung von Empirie und Kritik zu lesen, bei der sich wissenschaftliche ObjektivitĂ€t und normative Stellungnahme im Forschungsprozess scheinbar dichotom gegenĂŒberstehen. In diesem Sinne handelt es sich bei der vorliegenden Publikation um einen aufschlussreichen Beitrag zu aktuellen Möglichkeiten und Wegen rekonstruktiver Sozialforschung zum Thema HeterogenitĂ€t, der aus einer diskriminierungskritisch und wissenschaftspolitisch interessierten Perspektive noch einige RĂŒckfragen offen lĂ€sst.

[1] Messerschmidt, A.: Über Verschiedenheit verfĂŒgen? HeterogenitĂ€t und Diversity zwischen Effizienz und Kritik. In: Kleinau, E. / Rendtorff, B. (Hrsg.): Differenz, DiversitĂ€t und HeterogenitĂ€t in erziehungswissenschaftlichen Diskursen. Opladen / Toronto: Barbara Budrich 2013, S.47-61, hier S. 47-49.
Lisa Freieck (Darmstadt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Lisa Freieck: Rezension von: Schurt, Verena / Waburg, Wiebke / Mehringer, Volker / (Hrsg.), Josef Strasser (Hg.): HeterogenitĂ€t in Bildung und Sozialisation. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 3 (Veröffentlicht am 30.05.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384740517.html