
Die erzählten Varianten der Techniken der Positionierungen differenziert Rhea Seehaus sowohl hinsichtlich verschiedener Gegenstände der elterlichen Sorge als auch – und dies macht die Analysen besonders aufschlussreich – als binnendifferenzierende Paarpraxis. Der empirische Teil untergliedert sich in drei Kapitel:
Erstens kategorisiert die Autorin in „Wer sorgt für das Kind? Elterliche Aufteilung von Sorgearbeit“ die Interviewsequenzen unter den Aspekten der feminisierten Sorgearbeit und den Sorgekonzepten ‚aktiver Vaterschaft‘. Hier konstatiert sie zwar – ähnlich wie andere Autor/innen der Geschlechterforschung – eine „deutliche Kluft zwischen den in den aktuellen Elternschafts- und Familiendiskursen verbreiteten Formen egalitärer Arbeitsteilungsmuster und den Darstellungen der Eltern bezüglich ihrer Zuständigkeiten“ (121). Dieser Widerspruch selbst bildet jedoch nicht den analytischen Ausgangspunkt von Seehaus. Dieser ist vielmehr die Art und Weise, wie Eltern diesen Widerspruch darstellen und vor allem plausibilisieren. Damit gelangt Rhea Seehaus zu alternativen Perspektiven auf die gegenseitigen, geschlechterdifferierenden Positionierungen, wenn bspw. ein Vater von der Mutter als „Backup-Lösung“ (80) adressiert wird oder in der Darstellung einer anderen Mutter diese die Arbeitsteilung naturalisiert, indem sie das Kind als „mein Kind“ positioniert und damit den Vater des Kindes als außenstehende Person konstruiert (75). Ebenfalls exemplarisch für diese wechselseitigen Positionierungen steht die Aussage einer Mutter, die die Transformation ihres Partners hin zum Vater im Vergleich zu sich als Mutter als weniger intensiv beschreibt, da dieser seinen sozialen Kontakten nach wie vor nachgeht (63). An Sequenzen wie diesen arbeitet die Autorin heraus, dass zentrale Referenzpunkte hierbei nicht nur die ‚Natur‘ des Sachverhalts oder strukturelle Begründungen sind, sondern auch das Wohl des Kindes. So zeigt sie anhand der Interviewsequenzen, wie differenziert Eltern das diskursive (und in sich widersprüchliche) Geschehen etwa um die Leitnorm der egalitären Elternschaft und den damit implizierten Geschlechterordnungen, welche an sie gerichtet und in welche sie eingebettet sind, wahrnehmen und reflektieren. Diese Leitnormen werden zugleich in der intimen Aushandlung um Elternverantwortung aufgerufen und argumentativ integriert. Folglich wird hier das Verhältnis von diskursiven Anrufungen und elterlichen (Sorge-)Praktiken sichtbar.
Im zweiten empirischen Teil diskutiert Rhea Seehaus unter dem Aspekt „Entwicklung unter Assistenz – Gegenstand elterlicher Sorgearbeit“ die Bearbeitung der an Eltern gerichteten Anforderung der angemessenen Begleitung der kindlichen Entwicklung. Hier analysiert die Autorin u. a. die Paradoxie, dass in den Darstellungen der Eltern die „Entwicklung“ des Kindes dem Muster der „Autopoiesis“ folgt. Dieses entpflichtet die Mütter und Väter allerdings nicht. Vielmehr ruft diese spezifische Perspektive auf die Entwicklung des Kindes die Eltern dazu auf, das Kind noch intensiver zu beobachten und zugleich ihr eigenes Handeln zu evaluieren, um es wiederum ‚kindgerecht‘ zu optimieren (152). Verknüpft man diese Ergebnisse mit Analysen von bildungspolitischen, aber auch fachlichen Diskursen in und um frühe Kindheit, so lässt sich das Konzept der „Autopoiesis“ als eine der zentralen Leitideen zeitgenössischer Kindheit herausarbeiten, die spezifische Handlungsroutinen beschreiben und alle beteiligten Erwachsenen entsprechend gegenüber dem Kind positionieren.
Drittens fokussiert Rhea Seehaus in „(Selbst-)Formierung der Elternsorge im Kontext der kindermedizinischen Untersuchungen“ die differenten Schnittstellen zwischen privaten und kindermedizinischen Verantwortungsübernahmen und -zuteilungen. Diese, nun an das DFG-Projekt „Kinderkörper in der Praxis“ [1], anschließende Fokussierung stellt u. a. das diffizile Grenzmanagement heraus, welches im Prozess zwischen der Sichtbarmachung von ärztlicher und elterlicher Professionalität hergestellt wird. Hier ist bspw. die Herausarbeitung der Argumentationsfigur des „kompetenten“ und „eigensinnigen Kind[es]“ zu benennen: Diese Figur konfiguriert „durch seinen Eigenwillen die elterliche Sorgepraxis“ (224) und kann dazu genutzt werden, um die öffentlichen Anrufungen zu relativieren, die die „Änderung der elterlichen Sorgepraxis einfordern“ (ebd.). Seehaus‘ Analyse des diskursiven Rückgriffs auf Kindfiguren, die das fürsorgerische Handeln Erwachsener verunmöglichen, erweist sich auch für weitere kindheitstheoretische Arbeiten, die im Schnittfeld von öffentlicher und privater Sorgetätigkeiten forschen, als sehr produktiv.
Insgesamt macht diese wiederkehrende hohe Anschlussfähigkeit der empirischen Ergebnisse an aktuelle kindheits-, geschlechter- und familientheoretische Diskurse die Qualität der Studie aus. Zugleich bleiben auch Fragen offen: So lässt sich nicht umstandslos erschließen, weshalb das Sample Interviews in drei Ländern umfasst, da letztlich kein systematischer transnationaler Vergleich durchgeführt wird. Zugleich aber geben die Ergebnisse für – teils nach wie vor getrennte – Diskursfelder zentrale Hinweise für deren weitere empirisch-theoretische Ausdifferenzierung: So mahnt die Studie an, die Binnendifferenz innerhalb von – in diesem Fall heterosexueller – Elternschaft und deren wechselseitige Zuschreibungspraxen analytisch differenzierter wahrzunehmen. Dabei zeichnet Seehaus nach, wie das Paar hin zur Familie verschiedene – und im Prinzip unabgeschlossene – Formen der Transition durchläuft und schließt mit diesen Analysen an transitionstheoretische Debatten an. Zudem arbeitet sie heraus, dass auch innerhalb der Elternpaare wechselseitige Beobachtungen und geschlechtersegregierende Statuszuweisungen stattfinden. Resümierend heißt es auch, dass „Eltern nicht nur verantwortlich gemacht werden, sie arbeiten – im Kontext der gesellschaftlichen Anforderungen, Normen und Institutionalisierungen – auch selbst aktiv an diesen Positionierungen“ (246). Die von Rhea Seehaus präzise analysierten wechselseitigen Adressierungen haben, wenn sie in der Interviewsituation artikuliert wurden, mit hoher Wahrscheinlichkeit auch wirklichkeitskonstituierenden Charakter im familiären Alltag. Diesem weiter zu folgen wäre ein weiteres ertragreiches empirisches Unterfangen.
[1] Kelle, H. (Hrsg.): Kinder unter Beobachtung. Kulturanalytische Studien zur pädiatrischen Entwicklungsdiagnostik. Opladen u. a.: Barbara Budrich 2010.