EWR 15 (2016), Nr. 1 (Januar/Februar)

Laura Fölker / Thorsten Hertel / Nicolle Pfaff (Hrsg.)
Brennpunkt(-)Schule
Zum Verhältnis von Schule, Bildung und urbaner Segregation
Opladen: Budrich 2015
(241 S.; ISBN 978-3-8474-0142-1; 33,00 EUR)
Brennpunkt(-)Schule Die Publikation „Brennpunkt(-)Schule“ widmet sich den komplexen Wechselverhältnissen von sozialräumlichen und schulischen Segregationsprozessen. Der von Nicolle Pfaff, Professorin im Bereich Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen, und ihren MitarbeiterInnen Laura Fölker und Thorsten Hertel herausgegebene Sammelband verbindet Beiträge aus der Erziehungswissenschaft mit Perspektiven der Stadt- und Bildungssoziologie. Nachdem in der Einleitung die sich gegenseitig verstärkenden Effekte urbaner und schulischer Ungleichheit hervorgehoben werden, folgen vorwiegend empirisch orientierte Beiträge, die Einzelaspekte dieses Beziehungsgeflechts genauer beleuchten.

Eingangs werden einige grundlegende epistemische und normative Problemstellungen des Forschens und Schreibens ĂĽber stigmatisierte Stadt- und Schulräume reflektiert. So verweist Patricia Stošić auf die Tendenz von negativen Zuschreibungen wie „Brennpunkt-Schule“, komplexere sozio-strukturelle Prozesse zugunsten moralisch aufgeladener Schlagwörter auszublenden. Auch von Astrid Sundsbø wird angemerkt, dass mit solchen Benennungspraktiken die Sozial- und Bildungswissenschaften selbst individualisierende Attribuierungsmuster fortschreiben, denen zufolge letztlich den SchĂĽlerInnen und ihren Familien die Schuld an der Bildungsmisere zugeschrieben wird. AnschlieĂźend folgt eine Reihe von Fallstudien, bei denen oft kontrastiv-vergleichend vorgegangen wird, wobei unterschiedliche Methoden wie Fragebögen, qualitative Interviews und ethnografischen Beobachtungen zum Einsatz kommen. Die HerausgeberInnen veranschaulichen auf diese Weise in einem gemeinsamen Artikel, dass sich Schulen in vergleichbarer sozialräumlicher Lage auf sehr unterschiedliche Weise zum Sozialraum positionieren können. Kathrin Oester, Bernadette Brunner und Ursula Fiechter unterscheiden jeweils unterschiedliche Selektionskulturen an drei Berner Schulen und verdeutlichen damit, dass Schulen aufgrund ihrer institutionellen Geschichte, mittels der Wahl pädagogischer Strategien und infolge der politischen Einstellung des Lehr- und Leitungspersonals auch unter vergleichbaren Rahmenbedingungen unterschiedliche Selektionspraxen entwickeln. Laura Fölker und Thorsten Hertel vergleichen pädagogische Orientierungen an zwei Vergleichsschulen und Kathrin Racherbäumer und Isabell van Ackeren stellen divergierende Schulentwicklungen in schwieriger Lage einander gegenĂĽber, wobei sie die zentrale Rolle der Schulleitung hervorheben. Christina Funke und Marten Clausen kontrastieren erfolgreiche mit weniger erfolgreichen Schulen anhand von standardisierten LehrerInnen-Befragungen zur Unterrichtspraxis. Laura Fölker stellt abschlieĂźend zwei Schulreformprozesse mittels einer ethnografisch-schulhistorischen Blickweise einander gegenĂĽber und macht dabei sowohl Kontinuitäten als auch Irritationen in den handlungsleitenden Orientierungen der Lehrenden sichtbar. Neben diesen Studien zu Schulentwicklung und -positionierung stehen Beiträge mit einem stärkeren Fokus auf die pädagogischen Praktiken innerhalb segregierter Schulen. Katharina Kunze widmet sich der Zusammenarbeit im Jahrgangsteam und Thorsten Hertel dem „Trainingsraum“. Hertel beschreibt diesen zunächst im Anschluss an Foucault als eine Mischform aus gouvernementalen und disziplinären Herrschaftsweisen und rekonstruiert anschlieĂźend ethnografisch dessen praktische Umsetzung im Schulalltag. Dabei zeigt sich, dass die Anwendung des „Trainingsraum“-Konzeptes stark umstritten ist und pädagogische Akteure die programmatischen Vorgaben dann auch noch eigenmächtig unterlaufen.

Der Gesamteindruck leidet ein wenig unter dem fĂĽr interdisziplinäre Sammelbände typischen Problem der Verschiedenheit der Einzelbeiträge. Ich möchte auf eine Einzelbewertung der Beiträge verzichten, da diese von unterschiedlichen fachlichen und methodischen Prämissen ausgehen. Produktiver scheint es mir, einige grundlegende Spannungen dieser Aufsatzsammlung hervorzuheben – die Zuschreibung von Verantwortung, den Umgang mit Labels und das Verhältnis zum Staat. Auf der einen Seite werden neoliberale oder entpolitisierende Individualisierungstendenzen bei der Suche nach den Ursachen fĂĽr schulische Missstände in marginalisierten Stadträumen kritisiert, auf der anderen Seite stehen empirische Beiträge wie jener von Racherbäumer und van Ackeren, die genau in diese Richtung stoĂźen, indem sie die Schulleitungen als Hauptverantwortliche fĂĽr unterschiedliche Schulperformances ausmachen. Im Umgang mit Labels zeigen sich ebenfalls WidersprĂĽche. So wird die sozialräumliche Zuschreibung „Brennpunkt-Schule“ als eine verdinglichende Metapher kritisiert, trotzdem aber weiterverwendet, wobei im Titel des Buches dann zudem noch die AnfĂĽhrungszeichen verschwinden. Dass die HerausgeberInnen die sich verselbständigenden Dynamiken solcher negativen Zuschreibungen unterschätzen, zeigt sich u. a. daran, dass sie die „Brennpunkt“-Markierung als eine zunächst deskriptive Kategorie der Stadtsoziologie auffassen, welcher angeblich erst in jĂĽngster Zeit defizitäre Zuschreibungen angeheftet wurden. Christiane Reinecke fĂĽhrt die sich in den 1970er Jahren in der BRD etablierenden stadträumlichen Segregationssemantiken dagegen auf Krisenkonstellationen jener Zeit und die folgenreiche Ăśbernahme US-amerikanischer Deutungsmuster zurĂĽck [vgl. 1]. Ambivalent ist schlieĂźlich auch das Verhältnis zum Staat. So wird zwar eine kritische Haltung gegenĂĽber Exklusionsprozessen eingenommen und die Verstrickung der Erziehungswissenschaft in machtvolle Reproduktionszusammenhänge angemerkt (Stošić), doch werden Systemfragen zur reproduktiven Funktion „ideologischer Staatsapparate“ (Althusser; [2]) weitgehend ausgeblendet. Die miteinander verzahnten Prozesse schulischer und sozialräumlicher Ungleichheit werden zwar sinnvollerweise kleingearbeitet, wodurch sich mitunter lokale Verbesserungsansätze andeuten lassen. Allerdings wird es oft versäumt, dann wieder herauszublenden und den Staat sowie die Strukturen von Klassismus und Rassismus in die Analyse einzubeziehen.

Der Sammelband verdeutlicht somit wissenschaftliche Spannungen und Dilemmata in der gegenwärtigen Forschung zu drängenden politischen Themen. Er veranschaulicht aber auch die Detailliertheit und Reichhaltigkeit von Forschungen zu bildungshierarchisch und sozialräumlich defavorisierten Schulen. Geht man davon aus, dass im Zuge der sich abzeichnenden Abschaffung der Hauptschule zugunsten eines zweigliedrigen Schulsystem der räumlichen Lage einer Schule als Differenzierungskriterium eine zunehmende Bedeutung zukommen wird, dann ist dieses Buch zukunftsweisend. Einige Ergänzungen wären für die weitere Auseinandersetzung wünschenswert. Auf Seiten der Schulforschung sollten die Perspektiven der SchülerInnen stärkeres Gewicht erhalten, da deren Ansichten im vorliegenden Band viel zu selten berücksichtigt werden. Auf Seiten der Stadtforschung wiederum wäre eine Erweiterung in Richtung der Stadtanthropologie sinnvoll, welche ihre Einsichten in die Historizität, die Konstitutionsprozesse und die symbolischen Dimensionen von Stadträumen in die Diskussion um Schule, Bildung und urbane Segregation einbringen könnte. Dies könnte dazu beitragen, die wissenschaftliche Fortschreibung der „Brennpunkt“-Symbolik zu verabschieden.

[1] Reinecke, Ch.: Auf dem Weg zu einer neuen sozialen Frage? Ghettoisierung und Segregation als Teil einer Krisensemantik der 1970er Jahre, In: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 / 2012, 110–131.

[2] Althusser, L.: Ideologie und Ideologische Staatsapparate, In: Ders.: Ideologie und Ideologische Staatsapparate, Hamburg / Berlin: VSA, 1977, 108–153.
Stefan Wellgraf (Frankfurt / Oder)
Zur Zitierweise der Rezension:
Stefan Wellgraf: Rezension von: Fölker, Laura / Hertel, Thorsten / Pfaff, Nicolle (Hg.): Brennpunkt(-)Schule, Zum Verhältnis von Schule, Bildung und urbaner Segregation. Opladen: Budrich 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 1 (Veröffentlicht am 04.02.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384740142.html