Die empirische Schul- und Unterrichtsforschung hat sich kaum explizit mit den pädagogischen Beziehungen beschäftigt, obwohl Lehrer-Schüler-Interaktionen im Unterricht in vieler Hinsicht relevant sind, wie die Monographie zur Geltung bringt: „Wenn in diesem Buch die Gestaltung der pädagogischen Beziehung in den Blick genommen wird, so geht es um gleichzeitige Prozesse, die innerhalb aller pädagogischen Tätigkeiten immer auch parallel vorkommen“ (16). Die Wirkung von lernförderlichem Klima in Schulklassen wurde von Meyer [3] in seinem Katalog der „Merkmale des guten Unterrichts“ aufgegriffen, während Hattie [4] die Wirkung von Lehrermerkmalen auf Leistungen von Schülern in seiner Meta-Studie nachwies. Hiermit betritt die Autorin der vorliegenden Monographie grundsätzlich kein Neuland. Das Buch hebt sich jedoch insofern von den vorhandenen Beiträgen zum Thema ab, als dass es hier um die Qualität und kindverletzenden Prägungen der pädagogischen Beziehungen im Unterricht geht.
Annedore Prengel ist deutschlandweit bekannt u. a. für ihre wissenschaftliche Tätigkeit und ihr Engagement in Fragen der Heterogenität und Inklusion in der Bildung, der Integrationspädagogik und Genderforschung sowie Forschungen zur Menschenrechtsbildung, Anerkennung und Missachtung in der Schule. Sie gründete 2011 das Projektnetz INTAKT (Soziale Interaktionen in pädagogischen Arbeitsfeldern) und den Arbeitskreis Menschenrechtsbildung für bildungshistorische und zeitdiagnostische Forschung.
Ausgehend von existenzieller menschenrechtlich begründeter Pädagogik, verbunden mit dem Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung, behandelt das 136 Seiten umfassende Buch die Problematik der pädagogischen Beziehungen zunächst theoretisch, bevor mittels Beobachtung gewonnene pädagogische Feldvignetten auf Beziehungsmodi analysiert und kategorisiert werden. Die im Buch aufgeführte theoretische Analyse des Lehrerhandelns auf der Grundlage sozialpsychologischer Kommunikationstheorien sowie beziehungspsychologischer Aspekte der Lehrer-Schüler-Beziehungen im schulischen Kontext weisen darauf hin, dass das Thema mit den Jahren immer komplexer wurde. Ihre interdisziplinären Ansätze der Betrachtungsweise des pädagogischen Lehrerverhaltens, speziell des Fehlverhaltens, in Verbindung mit mehrdimensionalen Theorien des Phänomens der Relationalität, sind hier von besonderem Interesse.
Die Autorin übernimmt die Definition der pädagogischen Beziehung von Lenz / Nestmann [5] als „Arbeitsbeziehung zwischen pädagogisch tätigen Erwachsenen und den Kindern bzw. Jugendlichen, die sie betreuen, unterrichten, erziehen, beraten“ (19). Dabei hebt sie das Problem der Wechselwirkung zwischen den existenziellen persönlichen Erfahrungen mit dem professionellen institutionellen Kontext hervor. Die Interaktionen zwischen lehrenden und lernenden Personen wurden im Rahmen von Unterricht beobachtet und verbale Äußerungen der Lehrenden protokolliert. Nach der Analyse der Ergebnisse von Feldvignetten wurde die Brücke zur Makroebene aufgebaut, in der die Kompetenzen von Lehrenden als Vertreter der pädagogischen Institutionen bewertet wurden. Grundlegend plädiert Prengel für die Notwendigkeit der juristischen Klärung psychischer Verletzungen, welche selbstredend als Ruf zur Synergie der wissenschaftlichen Bemühungen in Fragen der Demokratisierung der Bildung und der gewaltfreien Erziehung verstanden sein könnte. Einen möglichen Weg dorthin stellt für sie die Anerkennung als Steuerungsmodus der professionellen Lehrer-Schüler-Beziehungen in pädagogischen Institutionen dar. Prengel stützt sich auf Anerkennungsformen der familiär orientierten Liebe von Honneth [6]: „persönliche Anerkennung durch anerkennende Zuwendung von nahen Bezugspersonen im persönlichen Lebensumfeld, rechtliche Anerkennung durch Achtung und Respekt in rechtlich verbriefter Gleichheit und Freiheit, soziale Anerkennung durch Wertschätzung von Fähigkeiten und Leistungen“ (60) und begründet professionelle Formen der pädagogischen Anerkennung der Lehrenden im Bildungswesen mit:
- Solidarität mit Fremden,
- Achtung von kindgerechten Ansätzen gleicher Freiheit und
- Wertschätzung von individueller Leistung.
Im letzten Teil des Buches (93–114) werden die vorläufigen Ergebnisse der INTAKT-Studie vorgestellt. Wer eine umfassende Darstellung der Forschungsergebnisse der Studie erwartet, wird vermutlich enttäuscht sein. Im Projektnetz INTAKT wurden unterschiedliche theoretische und empirische Forschungen der letzten 15 Jahre erfasst. Insgesamt hat das Forschungsteam einen Datensatz von ca. 15.000 Feldvignetten an Schulen mit unterschiedlicher pädagogischer Ausrichtung und Schülerprofil gesammelt und kodiert. Lediglich 40% davon, zusammengetragen an Schulen in Klassen der Primarstufe, der Sekundarstufe I und II im Zeitraum von Februar 2010 bis Mai 2013, wurden einer qualitativ-quantitativen Inhaltsanalyse untergezogen und nach Anerkennungsgraden – anerkennenden, ambivalenten und verletzenden Bewertungen – kategorisiert. Dafür wurde ein Erhebungsinstrument zur Erfassung der Qualität von pädagogischen Interaktionen mit sechs Bewertungskategorien entwickelt: „sehr anerkennend“, „leicht anerkennend“, „neutral“, „leicht verletzend“, „sehr verletzend“, „schwer einzuordnen / ambivalent“. Unter den ausgewerteten Feldvignetten wurden insgesamt 10% als sehr anerkennende, 28% als leicht anerkennende, 34% als neutrale, 16% als leicht verletzende, 6% als sehr verletzende und 5% als schwer einzuordnende Interaktionen bewertet. Zu jeder Qualität von pädagogischer Interaktion wurde jeweils ein Beispiel mittels Beobachtungsprotokoll vorgestellt.
Der tabellarische Überblick der Anerkennungsbilanz weist bei ca. einem Viertel der pädagogischen Interaktionen auf eine seelische Verletzung hin, was auch rechnerisch bedeutet, dass „die Kinder im Schnitt täglich mindestens zwei Mal Zeugen einer starken psychischen Verletzung eines anderen Kindes werden“ (103). Gleichzeitig bedeutet das, dass die Schüler im Unterricht vom Lerngegenstand abgelenkt werden. Die langfristige Wirksamkeit der verletzenden pädagogischen Beziehungen auf Schüler wurde hier explizit nicht untersucht, obwohl man sie implizit beobachtete.
Durch die Analyse der Feldvignetten entdeckten die Forscher wiederkehrende Muster des pädagogischen Handels im Unterricht:
- Anerkennung: engagiertes Erklären, Lob, Ermutigung, Freundlichkeit;
- Verletzung: Anbrüllen, Beschämen, Ignorieren, Unterbrechen;
- Ambivalenz, z. B.: Lob mit Entwertung, Transparenz mit übermäßiger Lehrerdominanz.
Wenngleich die Kategorien der Solidarität, der Anerkennung und des Vertrauens als professionelle pädagogische Grundhaltungen keine neuen Definitionen der modernen Lehr-Lernkultur sind, leistet das Buch dennoch einen wichtigen Beitrag zur Enttabuisierung pädagogischer Kunstfehler und liefert Indizien dafür, wie Kunstfehler durch fehlende strukturelle Maßnahmen im Bildungswesen begünstigt werden. Mit ihrem Werk richtet sich Annedore Prengel an die „Akteure auf der Ebene der bundesweiten und föderalen Bildungspolitik einschließlich der Landesinstitute und Stiftungen, welche es in der Hand haben, einen öffentlichen Diskurs in Gang zu setzen, der nach angemessenen Normen pädagogischen Handels fragt und pädagogische Kunstfehler bewusst macht“ (126).
[1] Lewin, K. / Lippitt, R. / White, R.: Patterns of aggressive behavior in experimentally created social climates. In: Journal of Social Psychlogy,(10)1939, 271–299.
Tausch, R. / Tausch, A.: Erziehungspsychologie. Göttingen: Hogrefe 1963.
Giesecke, H.: Die pädagogische Beziehung. Pädagogische Professionalität und die Emanzipation des Kindes.Weinheim: Juventa 1997.
[2] Schweer, M. (Hrsg.): Lehrer – Schüler – Interaktionen. Inhaltsfelder, Forschungsperspektiven und methodische Zugänge. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008.
[3] Meyer, H.: Was ist guter Unterricht? Berlin: Cornelsen Scriptor 2004.
[4] Hattie, J. / Ăśbers. Von Beywl, W. / Zierer, K.: Lernen sichtbar machen. Baltmannsweiler (2014): Schneider Verlag Hohengehren.
[5] Lenz, K. / Nestmann, F. (Hrsg.): Handbuch Persönliche Beziehungen. Weinheim: Juventa 2009.
[6] Honneth, A.: Kampf um Anerkennung. Berlin: Suhrkamp 1992.