EWR 12 (2013), Nr. 5 (September/Oktober)

Elke Kleinau / Barbara Rendtorff (Hrsg.)
Differenz, Diversität und Heterogenität in erziehungswissenschaftlichen Diskursen
Schriftenreihe der Sektion Frauen- und Geschlechterforschung in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE)
Band 3
Opladen u.a.: Barbara Budrich Verlag 2013
(156 S.; ISBN 978-3-8474-0073-8; 22,90 EUR)
Differenz, Diversität und Heterogenität in erziehungswissenschaftlichen Diskursen Ist die Kategorie Geschlecht in Begriffen wie Diversität und Heterogenität in erziehungswissenschaftlichen Diskursen immer schon aufgehoben? Und was ist aus der Perspektive erziehungswissenschaftlicher Genderforschung von Heterogenitätskonjunkturen zu erhoffen oder zu befürchten? Diese Fragen bearbeitet der vorliegende Band, der die Debatten der Jahrestagung 2011 der Sektion Frauen- und Geschlechterforschung in der DGfE in ausgewählten Beiträgen dokumentiert.

Begriffe wie Diversität und Heterogenität, so die Herausgeberinnen, dienen in erziehungswissenschaftlichen Kontexten häufig als “Plastikworte” (7): Einerseits steht in konkret-pädagogischen Diskursen Geschlecht oft in einer diffusen Liste von unterschiedlichsten Verschiedenheiten, deren spezifische Wirkweisen nicht weiter bearbeitet werden müssen, wenn man sich darauf einigt, die Verschiedenheit aller Menschen als Chance zu begreifen. Zu beobachten sei eine problematische Verwischung der Kategorien und eine De-Thematisierung von Geschlecht (vgl. 8). Andererseits setzten auch auf der Ebene der Theoriebildung, so die Herausgeberinnen weiter, theoretische Einsprüche gegen eine zu starke Fokussierung auf die Kategorie Geschlecht die analytische Schärfe aufs Spiel (ebd.). Die Herausgeberinnen zeigen sich einem vielfach behaupteten Paradigmenwechsel von Gender- zu Intersektionalitätsforschung gegenüber skeptisch, denn ob mit neuen Konzepten Transformationen in den Geschlechterverhältnissen präziser zu fassen sind als bisher, sei erst noch zu zeigen (vgl. 9).

Im Kontext dieser Problematisierungen stehen in den Beiträge die Arbeit an Begriffen und theoretischen Werkzeugen sowie die Einschätzung disziplinärer Diskurse im Zentrum, zwei Artikel präsentieren empirische Arbeiten. Der Band repräsentiert dabei wesentliche Stränge im aktuellen Diskurs: Feministische psychoanalytische Differenztheorie, kritische Bildungstheorie, Intersektionalitätskonzeptionen, Queertheorie und postkoloniale Theorie bilden die Bezugspunkte. Da die Beiträge einführende und kontextualisierende Passagen zu den jeweiligen Referenztheorien enthalten, eignen sie sich auch für alle, die sich in aktuellen Debatten der Genderforschung orientieren möchten.

Im Folgenden konzentriere ich mich auf jene Texte, die der Bestimmung des Verhältnisses von Gender- und Intersektionalitätsforschung in der Erziehungswissenschaft aus einer theoretischen Perspektive nachgehen.

Für eine eigenständige Theoriebildung zur Kategorie Geschlecht plädiert Barbara Rendtorff (’mitgedacht’ – Geschlecht als diskursive Figur). Denn Geschlecht in Begriffen wie Differenz, Diversität und Heterogenität ‘mitzudenken’, führe dazu, spezifische Wirkmechanismen nicht mehr theoretisch fassen zu können (vgl. 23). Sie legt dar, wie feministische Theorien schon früh – und entgegen gängigen Genealogie-Erzählungen über einen essentialistischen Differenzfeminismus der zweiten Frauenbewegung – radikale Denkwerkzeuge entwickelten. Dazu zählt ein Verständnis von Geschlechterdifferenz als Verhältnis und als symbolische Struktur, als Abstand und zugleich Bezogenheit der zwei logischen Positionen Weiblichkeit und Männlichkeit, sowie die Analyse der mit dieser Spaltung verknüpften Machtverhältnisse.

In der Thematisierung von Geschlecht als einer Differenzkategorie unter anderen sehen weitere Beiträge hingegen durchaus positive Effekte für die Geschlechterforschung bzw. für die Analyse von Ungleichheiten. Sie holen dabei die im knappen Aufriss des Themas etwas zu kurz gekommene Differenzierung der äußerst uneinheitlichen pädagogischen Ansätze rund um Differenz, Diversität und Heterogenität ein. Ihre Vorschläge zur systematischen Unterscheidung etwa machtkritisch motivierter Intersektionalitätsansätze von Diversitymanagement oder schulpädagogischen Ansätzen individualisierter Vielfalt erweisen sich m.E. als lohnend, um aus der Perspektive der Geschlechterforschung kritisch zu intervenieren. Die Schwierigkeit, Intersektionalitätskonzepte für den Gegenstandsbereich der Erziehungswissenschaft zu konkretisieren und ihre Relevanz aus der Disziplin heraus zu formulieren wird dabei insbesondere von Jürgen Budde und Astrid Messerschmidt bearbeitet:

Jürgen Budde (Das Kategorienproblem. Intersektionalität und Heterogenität) fragt danach, was eine bestimmte Thematisierung von Differenzen, nämlich jene im Begriff Intersektionalität, für erziehungswissenschaftliche Genderforschung leistet. Nicht die bloße Feststellung von Intersektionalität sei dabei ein Erkenntnisgewinn, sondern Wissen über die Bedeutung von sozialen Kategorien in pädagogischen Praktiken (vgl. 40). Es bedürfe dazu eines geschärften Machtbegriffs, wobei Budde die Ebene von Mikroprozessen und die Vollzugslogiken pädagogischer Praktiken fokussiert (vgl. 42). Ein solcherart geschärfter Begriff von Intersektionalität begreife soziale Kategorien nicht als Eigenschaften von Personen, sondern analysiere sie in den pädagogischen Praktiken, was an einem Beispiel aus einer ethnographischen Studie skizziert wird (vgl. 37f).

Eine ebenso kritische Zuspitzung von Heterogenitätsdiskursen visiert Astrid Messerschmidt (Über Verschiedenheit verfügen? Heterogenität und Diversity zwischen Effizienz und Kritik) an. Problematisierungen aus kritischer Genderforschungsperspektive dienen ihr dabei nicht als Anlass, Konzepte zur Auseinandersetzung mit Heterogenität zu verwerfen, sondern sie zu politisieren und den Blick auf soziale Interaktionen und Machtimplikationen zu lenken. Problematisiert wird ein Verständnis von Heterogenität, das Irritationen von Geschlecht (und anderen Kategorien) identifikatorisch in den Griff zu bringen versucht: Verschiedenheit werde meist als gegeben vorausgesetzt und pädagogisch entweder zur Geltung gebracht oder in handhabbare Bahnen gelenkt (vgl. 49). Abzugrenzen wäre ein kritischer Begriff von Diversität auch von individualisierenden Tendenzen, wo Kritik an sozialen Verhältnissen durch den Fokus auf individuelle Dispositionen ersetzt wird. Diese Tendenzen lassen sich auch als historisch nachzuzeichnende Spannung im Bildungsbegriff verstehen (vgl. 52) Daher ist eine kritische Pädagogik vor allem zu einem selbstreflexiven Umgang mit Bildungsverständnissen und Kategorien sozialer Unterscheidungen aufgefordert. Die Autorin fordert für (angehende) Pädagog_innen Räume zur Auseinandersetzung mit der eigenen Verstrickung in „institutionellen und interaktionellen Dominanzverhältnissen“ (59), anstelle der Ausstattung mit vermeintlichem Wissen über die Heterogenität der Zielgruppe.

Klemens Ketelhut (Diversity als Ordnungsstrategie. Anmerkungen aus der Perspektive der Queer-Theory) geht der These nach, dass Diversity-Konzepte weniger auf Ein- und Ausschlusspraktiken blicken als vielmehr selber neue hervorbringen. Aus normalisierungskritischer Perspektive zeigt er, wie Auseinandersetzung mit Vielfalt in Diversity-Ansätzen anstelle von Veruneindeutungen – was Queertheorien als Strategie im Umgang mit Differenzen und Identifizierungen vorschlagen – Reifizierung von sozialen Kategorien und Definitionen von essentiellen Gruppenidentitäten hervorbringt und als „Strategie zur Integration bestimmter anderer“ (69) zu verstehen ist. Die in Diversity-Konzepten propagierte generelle Akzeptanz von Unterschieden verleite zu einer Umdeutung von sozial problematischen Ungleichheiten in positive Vielfalt (vgl. 73). Im Nachdenken über Differenzen von Ungleichheiten auszugehen, die es zu verändern gilt, ist demnach die kritisch-analytische Kraft von Kategorien wie Geschlecht und das Potenzial von Intersektionalitätsdebatten (75).

Intersektionalitäten unter machtkritischer Perspektive zu thematisieren steht für Elisabeth Tuider (Geschlecht und/oder Diversität? Das Paradox der Intersektionalitätsdebatten) in der Tradition feministischer Politiken, Kategorien systematisch zu befragen und in Zweifel zu ziehen (vgl. 95f). Ihr Beitrag bringt queere-dekonstruktive sowie postkoloniale und rassismuskritische Stimmen von Aktivist_innen und Theoretiker_innen ein, um die Genealogie einer machtkritischen Perspektive innerhalb feministischer Theorien zu verdeutlichen, die Kontingenz von Identitäten sowie Erfahrungen in Grenz- und Zwischenräumen befragt. Diese kann insbesondere in Biographie- und Diskursforschung ihre Fortsetzung und eine forschungsmethodische Fassung finden (vgl. 91f).

In der Zusammenschau fällt auf, dass zwar die Bedeutung von Intersektionalitätsdebatten und deren theoretischen Implikationen für Genderforschung umstritten bleibt. Aber durchgängig werden machtkritisch informierte epistemologische Zweifel und Kritik an (auch eigenen) Kategorien, mit denen soziale Verhältnisse analytisch gefasst werden, als methodisches Werkzeug genutzt. Die Konkretisierung dieser kritischen Perspektiven für pädagogische Praktiken, Diskurse und Institutionen stellt m.E. die Ressource dar, die Genderforschung in Analysen von Ungleichheiten und Intersektionalität sowie Analysen der pädagogische Rede von Heterogenität einbringt. Insofern bietet der Band eine gute Grundlage für weitere Debatten, welche Begriffsangebote und Diskursinterventionen auf Grundlage von Gendertheorien entwickelt werden können, um aus “Plastikworten” und “Eimer-Begriffen” (Rendtorff, 13) analytisch geschärfte Werkzeuge zu formen.

Auch zwischen den Beiträgen entstehen Fragen und Leerstellen, die ebenfalls weitere Auseinandersetzung anregen können: Obwohl die Autor_innen eine grundsätzliche Problematisierung erziehungswissenschaftlicher Heterogenitätskonjunkturen teilen, scheinen auf der Ebene der Problemdefinition die differenten Positionen noch deutlicher zu akzentuieren zu sein: Geht es um eine zu kritisierende Zurückdrängung der Genderperspektive oder um problematische Individualisierungstendenzen im Vielfaltsdiskurs? Auffallend ist außerdem der immer wieder kehrende Topos der Bedrohung, die von Diskursen um Diversität und Heterogenität für erziehungswissenschaftliche Genderforschung auszugehen scheint. Dabei stellt sich die Frage, ob das hier verhandelte Problem mit dem Begriff Generationenkonflikt, den die Herausgeber_innen einbringen, ausreichend benannt ist und ob nicht zumindest auch Machtfragen innerhalb erziehungswissenschaftlicher Genderforschung, unterschiedliche und neu zu schaffende Sprechpositionen innerhalb der Disziplin sowie die Bearbeitung von Disziplingrenzen zu diskutieren wären. Potenzial für weitere Entwicklungen ergibt sich auch aus den Vorschlägen, wie Intersektionalität sowohl als Begriffswerkzeug als auch forschungsmethodisch konkret im Gegenstandsbereich der Erziehungswissenschaft – mit Perspektive auf pädagogische Praktiken – konzeptualisiert werden kann.
Rosemarie Ortner (Graz/Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Rosemarie Ortner: Rezension von: Kleinau, Elke / Rendtorff, Barbara (Hg.): Differenz, Diversität und Heterogenität in erziehungswissenschaftlichen Diskursen, Schriftenreihe der Sektion Frauen- und Geschlechterforschung in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), Band 3. Opladen u.a.: Barbara Budrich Verlag 2013. In: EWR 12 (2013), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384740073.html