Ausgehend von den Skandalen um sexualisierte Gewalt in kirchlichen Institutionen, in reformpädagogischen Landerziehungsheimen sowie Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, die in der Bundesrepublik zu einer erhöhten medialen Aufmerksamkeit geführt haben, gerät nun die fachwissenschaftliche Auseinandersetzung in den Blick der Öffentlichkeit. Die Erziehungswissenschaft sieht sich vor die Herausforderung gestellt, sowohl die längst überfällige fachwissenschaftliche Aufarbeitung zu leisten, als auch ein selbstreflexives Handlungsbewusstsein zu entwickeln. Eine konsequente Umsetzung angemessener Schutzkonzepte für Kinder und Jugendliche in die erziehungswissenschaftliche Praxis bedarf grundlegend einer vorhergehenden Analyse des Zusammenhangs von Macht und Sexualität. Diese Umsetzung muss einen prekären Balanceakt zwischen der emotionalen Zuwendung gegenüber Kindern und Jugendlichen bei gleichzeitiger Wahrung ihrer Integrität vollziehen. Über die starre Fokussierung auf die ‚dunklen Seiten‘ der Reformpädagogik einerseits, sowie Pädosexualität als Argumentationsmuster für das Zustandekommen gewaltvoller Übergriffe auf Schutzbefohlene andererseits hinaus, ist die grundlegende und weiterführende Verhandlung sexualisierter Gewalt in allen pädagogischen Kontexten Gegenstand der vorliegenden Sammelbände.
Der Sammelband von Werner Thole et al. geht auf den Workshop der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) mit dem Titel „Sexualität und Macht in pädagogischen Kontexten. Bedingungen, Strukturen und Erscheinungsformen von sexuellen Übergriffen und sexueller Gewalt in pädagogischen Institutionen“ im Februar 2011 in Berlin zurück. Dort wurde die Stellungnahme der DGfE in Bezug auf sexualisierte Gewalt in pädagogischen Einrichtungen diskutiert. Die Verfasser/innen der Stellungnahme sind gleichzeitig auch die Herausgeber/innen der vorliegenden Publikation. Das Werk von Sabine Andresen und Wilhelm Heitmeyer dokumentiert die internationale Tagung „Missachtung und sexuelle Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen in gesellschaftlichen Institutionen“, die 2011 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld stattfand.
Während die Publikation der DGfE eine chronologisch-systematische Gliederung aufweist – „Historische Vergewisserungen“, „Theoretische und systematische Perspektiven“, „Sexualwissenschaftliche und sexualpädagogische Perspektiven“, „Wissen über sexualisierte Gewalt in pädagogischen Institutionen“, „Professionstheoretische Konsequenzen und politische Diskurse“ – wirkt der Band von Andresen und Heitmeyer in seinem strukturellen Aufbau weniger kohärent. Beginnend mit den institutionellen Rahmenbedingungen, sozialen Prozessen und psychosozialen Dynamiken (Teil I) kommen in Teil II Betroffene selbst zu Wort. Teil III ist der „Anfälligkeit pädagogischer Konzepte und Kontexte“ gewidmet, während Teil IV „Historische Einordnungen“ ankündigt, die allerdings schon im vorhergehenden Kapitel Gegenstand der Erörterung sind (vgl. den Beitrag von Jürgen Oelkers). Michael Kirchner analysiert dagegen Texte von Sándor Ferenczi und Janusz Korczak im Hinblick auf sexualisierte und sexuelle Gewalt gegen Kinder in der Familie ohne jede historische Kontextualisierung. Teil V geht auf „Interventionen. Ansätze und Herausforderungen“ ein. Die Einbeziehung Betroffener stellt den gravierendsten Unterschied zur Publikation der DGfE dar. Insbesondere Sabine Andresen und Sara Friedemann heben hervor, wie maßgebend der Einbezug der Expertise Betroffener für die Entwicklung von Präventions- und Interventionsmaßnahmen ist. In Teil VI nehmen Michael Behnisch und Lotte Rose die mediale Debatte in den Blick und markieren Auslassungen und Verschiebungen, die auch den vorliegenden Band kennzeichnen, z. B. die ausschließliche Thematisierung von sexualisierter bzw. sexueller Gewalt im Kontext sogenannter Elite-Internate. Über Gewalt an Regelschulen, hauptsächlich innerhalb der peer groups, wird zwar gesprochen, doch das Thema sexualisierter bzw. sexueller Gewalt kommt nicht explizit vor.
Beide Publikationen gehen der Frage nach, welche Strukturen (Institutionalisierungsformen, Konzepte, Denkansätze) gewaltvolle Praxen und Beziehungen befördern und welche Grundgedanken etabliert werden müssen, um einem Machtmissbrauch entgegen zu wirken und im Sinne der Professionsethik zu intervenieren.
Werner Thole, ehemaliger Vorsitzender der DGfE, merkt in seinem Vorwort selbstkritisch an, dass die DGfE „spätestens ab Mitte 1999 die damals auch über die Presse kommunizierten Vorwürfe des »sexualisierten Missbrauchs an schutzbefohlenen Heranwachsenden« (...) [hätte] ernster nehmen müssen“ (6). Die DGfE ist ihrer professionsethischen Verantwortung selbst nach eindringlicher Aufforderung von außen nicht nachgekommen. Durch die nachträgliche kritische Reflexion des eigenen Fehlverhaltens wird nun mit der vorliegenden Publikation die wissenschaftliche Thematisierung von sexualisierter Gewalt und deren Folgen als notwendige und hinreichende Bedingung gesehen, um Transparenz zu schaffen und strukturelle Entwicklungsprozesse in Gang zu setzen. Thole et al. versuchen mit vielseitigen Beiträgen zum einen verloren gegangenes Vertrauen in die erziehungswissenschaftliche Disziplin wiederzugewinnen, zum anderen das Anliegen einer verstärkten Forschungstätigkeit zu unterstützen, einen pädagogisch-professionalisierten Selbstverständigungsprozess zu begleiten sowie Qualifizierungs- und Professionalisierungsprozesse anzuregen, die einen umfassenden Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gewalt in pädagogischen Einrichtungen gewährleisten.
Aus der Perspektive verschiedener theoretischer und methodischer Herangehensweisen werden die vielschichtigen Vulnerabilitätsfaktoren innerhalb erziehungswissenschaftlicher Debatten und pädagogischer Methoden- wie Handlungsfelder herausgearbeitet. Die Annahme, dass der Reformpädagogik eine große Verantwortung gegenüber den Vorkommnissen in Internaten zukommt, wird vor allem in der Presse, teilweise jedoch auch von der Fachöffentlichkeit vertreten. In der Einleitung arbeiten die Autorinnen und Autoren den Widerspruch heraus, dass in den Landerziehungsheimen trotz des Anspruchs einer neuen ‚freien‘ Erziehung, Strukturen geschaffen wurden, die grenzüberschreitende Beziehungsverhältnisse begünstigten. Insbesondere das Prinzip der familienähnlichen Erziehung in der Odenwaldschule erleichterte das Begehen und die schützende systemimmanente Verteidigung sexueller Gewaltvorkommnisse (vgl. den Beitrag von Behnisch und Rose), obwohl doch seit Beginn der 1980er Jahre bekannt ist, dass die meisten Fälle sexueller bzw. sexualisierter Gewalttaten in der Familie bzw. im sozialen Nahraum stattfinden. Der ‚pädagogische Eros‘ wurde von den Verantwortlichen der Odenwaldschule als Legitimationsgrundlage herangezogen und diente lange Zeit der Veredelung des eigenen Begehrens bzw. der Leugnung des Machtgefälles innerhalb eines „mann-männlichen Beziehungsmodells“ (85), auf das sich, wie Meike Sophia Baader herausarbeitet, Frauen schwerlich berufen können.
Da eine Professionsethik historischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Veränderungen unterliegt, wandelt sich dementsprechend auch die Sensibilität für die Ausgestaltung von Erziehungszusammenhängen im jeweiligen Kontext. Infolgedessen wird aktuell nicht mehr davon ausgegangen, dass es sich bei den bekannten Internaten um punktuelle Ausfallerscheinungen handelt. Vielmehr richtet sich der Blick auf die Alltäglichkeit sexualisierter Gewalt, die wiederum die Reformpädagogik aus dem Fokus der Generalanschuldigungen herausnimmt. Auch der allgemeinen gesellschaftlichen und medialen Annahme, dass es sich bei den bekannt gewordenen Übergriffigkeiten per se um pädosexuelles Begehren handelte, wird innerhalb der wissenschaftlichen Debatte widersprochen. Eine umfassendere Perspektive bezieht vor allem die Komponente der Macht in die diskursive Auseinandersetzung mit ein und nimmt folglich alle pädagogisch Tätigen in die (Selbst-)Verantwortung. Hier zeigt sich im Vergleich zum Sammelband von Andresen und Heitmeyer eine deutliche Differenz in der Argumentationslogik. En passant macht Claus Koch in seinem Beitrag das Zölibat als Ursache für sexualisierte Gewalt an Schutzbefohlenen in katholischen Einrichtungen aus, eine Position, die innerhalb der Forschung, ja selbst im selben Band längst als widerlegt gilt (vgl. die Beiträge von Helmnig und Mayer: 61 sowie von Behnisch und Rose: 315).
Als einen wesentlichen Schwerpunkt sehen Andresen und Heitmeyer die Notwendigkeit eine Kultur zu schaffen, in der es Kindern und Jugendlichen möglich ist, sich anzuvertrauen und ihre Glaubwürdigkeit nicht infrage gestellt wird. Darüber hinaus gilt es, Kindern und Jugendlichen ein Wissen um Täterstrategien zu vermitteln und ein generelles Sprechen über Sexualität zu ermöglichen, um somit den Effekt des „Schweigepanzers“ (322) zu brechen.
Abschließend bleiben folgende Punkte kritisch anzumerken: Während Andresen und Heitmeyer keine Klärung der verwendeten Termini in ihrer Einleitung vornehmen, widmen sich Thole et al. in einer differenzierten Auseinandersetzung den im Sammelband verwendeten Begrifflichkeiten. Sie verdeutlichen die Unterscheidungskriterien zwischen „sexuellem (Kindes-)Missbrauch“ und sexueller bzw. sexualisierter Gewalt und begründen ihre Auswahl, die es Lesenden erleichtern, die Hintergründe der Debatte um Sprachpolitik bzw. deren Einordnung in bestimmte Deutungszusammenhänge nachzuvollziehen.
Obwohl Behnisch und Rose zu guter Letzt darauf aufmerksam machen, dass im öffentlich-medialen Diskurs bestimmte Institutionen im Kontext sexualisierter Gewalt gänzlich ausgeklammert bleiben, darunter zum Beispiel Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen oder Seniorinnen und Senioren, auch Gefängnisse als institutionell gefährdete Orte benennen, geraten die Herrschaftsverhältnisse in Bildungseinrichtungen für Erwachsene, darunter Universitäten und Hochschulen, in beiden Bänden gänzlich aus dem Fokus. In der öffentlich-medialen Debatte wird ein einseitiger Bezug auf sexualisierte Gewalt gegen Jungen und junge Männer vorgenommen und die Publikation von Andresen und Heitmeyer reproduziert diesen Blickwinkel. Damit wird die Tatsache ausgeblendet, dass es die Frauenbewegung und die aus ihr hervorgehende feministische Forschung war, die das Thema sexualisierte Gewalt in den 1980er Jahren aufgriff. Die etablierte Erziehungswissenschaft aber nahm deren Ergebnisse, vielleicht weil es nur Frauen betraf, nicht zur Kenntnis. Dieser einseitige Fokus auf Jungen macht erneut Mädchen und Frauen als Betroffene unsichtbar, eine Kritik, die auch Barbara Rendtorff sowie Carol Hagemann-White, Leonie Herwartz-Emden und Matthias Hummel im DGfE-Band artikulieren.
EWR 14 (2015), Nr. 2 (März/April)
Sammelrezension zum Thema: Sexualisierte Gewalt in pädagogischen Institutionen
Sexualisierte Gewalt, Macht und Pädagogik
Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich 2012
(331 S.; ISBN 978-3-8474-0046-2; 29,90 EUR)
Zerstörerische Vorgänge
Missachtung und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Institutionen
Weinheim: Juventa 2012
(332 S.; ISBN 978-3-7799-2818-8; 24,95 EUR)
Elke Kleinau und Manuela Tillmanns (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Elke Kleinau und Manuela Tillmanns: Rezension von: Thole, Werner / Baader, Meike / Helsper, Werner / Kappeler, Manfred / Leuzinger-Bohleber, Marianne / Reh, Sabine / Sielert, Uwe / Thompson, Christiane (Hg.): Sexualisierte Gewalt, Macht und Pädagogik. Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich 2012. In: EWR 14 (2015), Nr. 2 (Veröffentlicht am 08.04.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384740046.html
Elke Kleinau und Manuela Tillmanns: Rezension von: Thole, Werner / Baader, Meike / Helsper, Werner / Kappeler, Manfred / Leuzinger-Bohleber, Marianne / Reh, Sabine / Sielert, Uwe / Thompson, Christiane (Hg.): Sexualisierte Gewalt, Macht und Pädagogik. Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich 2012. In: EWR 14 (2015), Nr. 2 (Veröffentlicht am 08.04.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384740046.html