EWR 22 (2023), Nr. 1 (Januar)

Li Gerhalter
Tagebücher als Quellen
Forschungsfelder und Sammlungen seit 1800
(L’Homme Schriften. Reihe zur Feministischen Geschichtswissenschaft, Bd. 27)
Göttingen: V&R unipress 2021
(459 S.; ISBN 978-3-8471-1179-5; 40,00 EUR)
Tagebücher als Quellen Tagebücher gehören zu denjenigen historischen Quellen, die nicht nur das Interesse von Historiker:innen, sondern auch der Öffentlichkeit in besonderem Maße auf sich ziehen. Dabei konkurrieren unterschiedliche Lesarten miteinander. Dem breiten Publikum versprechen Tagebuchveröffentlichungen, Geschichte durch die Augen ihrer Autor:innen ungefiltert mitverfolgen zu können. Besondere, genuin wissenschaftlich Lesefähigkeiten sind hierfür nicht notwendig. Als „authentische“ Quelle, die nicht durch die Färbungen rückblickender Erinnerungen entstellt ist, scheinen Tagebücher vielen Leser:innen „Zeitpanoramen“ zu entfalten, in die sie beim Lesen eintauchen können. Auch in der Geschichtswissenschaft lässt sich ein solches vertrauendes Lesen noch immer finden; insbesondere wo sie sich auf die Suche nach „sprechenden Zitaten“ begibt. Zugleich steigt seit einigen Jahren aber die Zahl historischer Untersuchungen, die mit vergleichenden Analysen größerer Tagebuchsamples vorführen, dass Tagebücher herausfordernde Quellen sind, die einer methodisch sorgfältigen Interpretation bedürfen. Diese Studien behandeln Tagebuchaufzeichnungen nicht als Verschriftlichung der Gedanken und Gefühle ihrer Autor:innen, sondern machen sie als Ergebnis einer spezifischen Schreibpraxis sichtbar, die sie bei ihrer Interpretation in Rechnung stellen.

Li Gerhalter, stellvertretende Leiterin der Sammlung Frauennachlässe an der Universität Wien, verspricht mit ihrer Dissertation diese neueren Tagebuchstudien nun um eine interessante Perspektive zu erweitern. In ihrer 2017 am Institut für Geschichte der Universität Wien abgeschlossenen Arbeit richtet sie den Blick auf „Tagebücher als Quellen“ und möchte untersuchen, wie Tagebücher „zu unterschiedlichen Zeiten in verschiedenen Disziplinen beforscht“ wurden (9). Statt um die Praxis des Tagebuchschreibens geht es also um das wissenschaftliche Lesen von Tagebüchern. Gerhalter betont ausdrücklich, die zur Interpretation dieser Quellen nötigen „Arbeitswege“ ins Zentrum stellen zu wollen (10). Sie interessiert sich für die Fragen, welche Akteur:innen die „Tagebuchforschung“ prägten, „wie geforscht wurde“ und auf welche Weisen Wissenschaftler:innen auf diesem Feld zu ihren Quellen kamen (10). Dem Sammeln von Tagebüchern schreibt Gerhalter dabei herausragende Bedeutung zu: Erst der Aufbau spezieller Sammlungen habe Forscher:innen verschiedener Disziplinen die Arbeit mit Tagebüchern ermöglicht, so dass sich „eine historische Darstellung von Konjunkturen der Selbstzeugnisforschung […] nicht ohne eine entsprechende historische Darstellung der Selbstzeugnissammlungen“ schreiben lasse (11).

Um ihre umfassende, für zwei Jahrhunderte gestellte Untersuchungsfrage handhabbar zu machen, konzentriert sich Gerhalter auf Fallstudien. Im ersten Kapitel beschäftigt sie sich mit der Rolle von Tagebüchern in der Pädagogik und Kleinkindforschung seit 1800, als Aufklärer damit begannen, das Aufwachsen ihrer Kinder in Tagebüchern zu dokumentieren. In der sich herausbildenden Pädagogik bildeten „Elterntagebücher“ damit ein erstes, wichtiges Forschungsinstrument, das am Ende des 19. Jahrhunderts seinen wissenschaftlichen Charakter verlor und zu einer verbreiteten bürgerlichen Praxis wurde. Das zweite Kapitel widmet sich der Rolle von Tagebüchern in der Herausbildung der Jugendforschung im frühen 20. Jahrhundert, als diese Forscher:innen wie Charlotte Bühler, Eduard Spanger oder Siegfried Bernfeld eine Basis für Thesen zur psychischen Entwicklung von Kindern zu bieten begannen. Dabei entstand eine erste, intensive Methodendiskussion um die Frage, wie Tagebücher als wissenschaftliche Quellen gelesen werden müssten. Ebenso fällt die Entstehung systematischer Tagebuchsammlungen in diese Zeit. Das dritte Kapitel richtet seinen Blick anschließend auf die „alltags-, kultur- und frauen/geschlechterhistorisch ausgerichtete Geschichtsforschung“ seit den 1980er Jahren (10). Anders als in den vorherigen Kapiteln widmet Gerhalter hier dem wissenschaftlichen Gebrauch von Tagebüchern und den sich um sie entspannenden methodischen Diskussionen nur wenig Aufmerksamkeit. Sie konzentriert sich auf die Entstehung „historisch ausgerichteter“ Tagebuchsammlungen in den 1980er und 1990er Jahren und auf eine Analyse ihrer Bestände. Das vierte Kapitel befasst sich schließlich mit der Gegenwart und liest „historische Tagebücher von Mädchen kulturwissenschaftlich“. Die „Tagebuchforschung“ soll so „als aktuelles, dynamisches Forschungsfeld vorgestellt“ werden (359). Warum die Autorin dafür ihre Rolle wechselt und selbst zur Interpretation von Mädchentagebüchern aus dem 20. Jahrhundert übergeht, statt weiterhin den wissenschaftlichen Gebrauch von Tagebüchern zu beobachten, erschließt sich nicht recht.

Mit den ersten drei Fallstudien − Elterntagebücher und Kleinkindforschung im 19. Jahrhunderts, Jugendkunde der 1920er Jahre und Alltagsgeschichtsschreibung seit den 1980er Jahren − sind fraglos Forschungszusammenhänge im 19. und 20. Jahrhundert gewählt, für die Tagebücher von herausragender Bedeutung waren; entsprechend existiert zu ihnen auch bereits eine Reihe an Forschungsarbeiten, die Gerhalter ausführlich heranzieht. Weil aber zugleich, wie die Autorin selbst schreibt, „diese drei Forschungsfelder […] nicht in einem direkten Bezug zueinander und in keiner genealogischen Logik“ stehen, es auch „zwischen ihnen keinen wesentlichen inhaltlichen Austausch“ gab (10), bleibt die allgemeine Aussagekraft der Fallstudien unklar. Was etwa bedeutet es, dass, wie auf der Buchrückseite herausgestellt, Kleinkindforschung und Jugendpsychologie Tagebüchern „Thesen über ‚Normalverläufe‘ der menschlichen Entwicklung“ entnommen haben, sie in der Alltags- und Kulturgeschichte seit den 1980er Jahren hingegen als Zeugnisse individueller Lebensgeschichten ausgewertet worden sind? Ist diese Differenz Ausdruck einer gewandelten Bewertung der Quelle Tagebuch, die sich im 20. Jahrhundert vollzog? Oder werden hier nur unterschiedliche disziplinäre Perspektiven sichtbar? Welche Fächer zogen überhaupt Tagebücher für welche Fragestellungen als Quellen heran? Solche systematischen Fragen bleiben leider ungeklärt. Auch dass Gerhalter ihren Blick auf Fälle beschränkt, in denen sich Forscher:innen „wissenschaftlich mit Aufzeichnungen dezidiert von Personen beschäftigt haben, die nicht in einer prominenten Öffentlichkeit standen“ (10), erscheint aus wissenschaftshistorischer Perspektive nicht überzeugend. Die Alltagsgeschichte der 1980er Jahre etwa blieb auch weiterhin von den methodischen Überlegungen geprägt, die der Historismus des 19. Jahrhunderts an den Tagebüchern prominenter Politiker, Gelehrter, Militärs und Geistlicher entwickelt hatte.

Allgemeine Einsichten zur Frage, wie Tagebücher im 19. und 20. Jahrhundert beforscht wurden, erlauben die Fallstudien so kaum. Auch wie verschiedene Wissenschaftler:innen sie lasen und aus ihnen Erkenntnisse gewannen, lässt sich in der Studie nur unscharf nachvollziehen. Dafür fehlt es Gerhalter an Quellen, die einen Blick hinter die wissenschaftlichen Veröffentlichungen ermöglicht hätten, auf die sie ihr Buch stützt. Die konkreten „Arbeitswege“ der von Gerhalter betrachteten Tagebuchforscher:innen lassen sich in ihnen kaum erkennen. Aufschlussreiche Einsichten eröffnet das Buch hingegen mit Blick auf das Verhältnis von Tagebuchautor:innen und Tagebuchforscher:innen und das Sammeln von Tagebüchern. Gerhalter resümiert die „Tagebuchforschung“ im Fazit als ein durch drei Akteursgruppen geprägtes Unternehmen, bei dem neben „Forscher/innen, die die Quellen auswerten“ und „Archivar/innen, die sie suchen, lukrieren und zugänglich machen“, den „Übergeber/innen“, die den Sammlungen (ihre) Tagebücher zur Verfügung stellen, entscheidende Bedeutung zukomme (405). Die weitaus vielfältigeren Akteursbeziehungen, die ihre Fallgeschichten offenbaren, fängt dieses Modell allerdings kaum ein: Bei den wissenschaftlichen Elterntagebüchern des 19. Jahrhunderts waren Autor und wissenschaftlicher Interpret häufig dieselbe Person. Wie Gerhalter mit mehreren Beispielen zeigt, regten Wissenschaftler:innen die Entstehung von Tagebüchern für eigene Forschungsprojekte häufig unmittelbar an, um eine lästige Suche nach Tagebüchern in Archiven und Sammlungen umgehen zu können. Und auch an bereits geschriebene Tagebücher gelangten Forscher:innen keineswegs stets dadurch, dass ihre Autor:innen oder deren Nachfahren sie Sammlungen übergaben.

In ihrer zweiten Fallstudie zur Jugendkunde zeigt Gerhalter etwa, wie die Wissenschaft im frühen 20. Jahrhundert Zugang zu Tagebüchern von Arbeiterjugendlichen nur über Fürsorgeeinrichtungen hatte, wo „Forscherinnen versteckte Tagebücher aus Betten zogen oder aus Schließfächern holten“ (208). Die ihnen freiwillig übergebenen Tagebücher stammten hingegen aus dem „persönlichen Umfeld“ (143) der Wissenschaftler:innen oder waren ihnen von Leser:innen ihrer Publikationen zugesandt worden. Ihre Autor:innen entstammten entsprechend vor allem dem gebildeten Bürgertum; ein Umstand, den Gerhalter mit ihrer genauen Rekonstruktion der bedeutenden Tagebuchsammlung von Charlotte Bühler zeigen kann, die „nur vereinzelt“ Aufzeichnungen von „Vertreter/innen aus bildungsfernen Schichten“ (195) berücksichtigen konnte, auch wenn das Tagebuchschreiben unter Arbeiterjugendlichen dieser Zeit durchaus verbreitet war (208). Dass sich Gerhalter dann im folgenden Kapitel bei ihrer Untersuchung der „historisch ausgerichteten Tagebuchsammlungen“ mehrfach erstaunt darüber zeigt, in deren Beständen weit weniger Arbeiter:innentagebücher „als gedacht“ zu finden (323), überrascht vor diesem Hintergrund. Auch diese Sammlungen erhielten ihre Dokumente doch durch freiwillige Übergaben. Gerhalters Befund ließe sich insofern auch als Ausdruck der Persistenz einer sozialexklusiven Sammlungspraxis lesen, von der aus sich forschungs- und sammlungspraktische Überlegungen anstellen ließen: Ließen sich Arbeiter:innentagebücher in anderen Überlieferungen vielleicht besser auffinden, etwa in lokalen Geschichtsvereinen und Stadtarchiven, deren Sammlungen Gerhalter nicht berücksichtigt? Und wie müsste eine aktive Sammlungspraxis gestaltet sein, um für zukünftige Forschungen Tagebücher aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten zu bewahren?

Indem es solche Fragen anregt, zeigt das Buch, wie produktiv der in seiner Einleitung entworfene wissen(schaft)shistorische Blick auf „Tagebücher als Quellen“ tatsächlich ist. Er eröffnet nicht nur aus einer neuen Perspektive Einsichten in die Geschichte des Tagebuchs, die eben nicht nur als eine Geschichte des Schreibens, sondern ebenso als eine des Lesens verstanden werden muss. Er ist auch aus methodischer Sicht wichtig, weil er zur historischen Reflexion auch des gegenwärtigen Umgangs mit der historischen Quelle Tagebuch – in der Wissenschaft, aber auch in der breiteten Öffentlichkeit – auffordert. Insofern ist zu hoffen, dass weitere Studien den von Li Gerhalter gesetzten Impuls aufgreifen werden. Vielleicht ließen sich dann auch gegenwärtige Lesarten von Tagebüchern – als Zeitpanoramen oder als Produkte spezifischer Schreibpraktiken – innerhalb der langen Geschichte des Schreibens und Lesens von Tagebüchern verorten, die auch heutige Wissenschaftler:innen mit ihren Tagebuchforschungen beständig weiterschreiben.
Janosch Steuwer (Halle-Wittenberg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Janosch Steuwer: Rezension von: Gerhalter, Li: Tagebücher als Quellen, Forschungsfelder und Sammlungen seit 1800 (L’Homme Schriften. Reihe zur Feministischen Geschichtswissenschaft, Bd. 27). Göttingen: V&R unipress 2021. In: EWR 22 (2023), Nr. 1 (Veröffentlicht am 26.01.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384711179.html