Die Jugendbewegung leidet gleichsam traditionell unter dem Umstand, dass sich Inkompatibelste auf sie bezogen, beispielsweise der Pazifist Walter Hammer (1888-1966), aber eben auch der Auschwitzkommandant Rudolf Höß (1900-1947). Angesichts dieser Spannbreite schien es schwer bis unmöglich, eines roten Fadens habhaft zu werden.
Hier könnte der Untertitel des anzuzeigenden Buches eine Lösung andeuten – wenngleich man diese durchaus auch kritisch sehen darf. Denn die demonstrative Herausstellung der Namen Heisenberg (1901-1976) und Jungk (1913-1994) schon im Untertitel und erst recht die respektvolle Behandlung dieser beiden doch bis dato nur von Experten als Jugendbewegungsveteranen eingeordneten prominenten Personen durch Barbara Stambolis und Dirk van Laak setzt den Verdacht frei, als gehe es in diesem Band gezielt um die Herausstellung der hellen Seite der Jugendbewegung, gleichsam passend zum „Meißnerjahr“, also zu den im Herbst 2013 anstehenden Feiern zum 100. Jubiläum des legendären Festes Jugendbewegter auf dem Hohen Meißner und der bei dieser Gelegenheit beschlossenen Meißnerformel und des in ihr ausgesprochenen Bekenntnisses zu Selbstbestimmung und innerer Wahrhaftigkeit. An sich wäre gegen eine, so betrachtet, offenbar vor allem verlegerisch motivierte Entscheidung auch wenig einzuwenden – wenn denn dem nicht zugleich auch ein erzieherischer Impuls innewohnte, der durchaus seine Fragwürdigkeiten hat, auch solche in Richtung wissenschaftlicher Korrektheit selbstredend.
Denn der Leserin oder dem Leser begegnet im Verlauf der Lektüre der in diesem Buch versammelten über fünfzig personenbezogenen Artikel (als Essay wird man nicht jeden dieser durchweg lesenswerten Texte durchgehen lassen) dermaßen viel vor allem „linke“, von zumeist renommierten Autoren (wie Peter Dudek, Sabine Andresen oder Micha Brumlik) jeweils instruktiv vorgestellte (Polit-)Prominenz mit dem Gütesiegel „jugendbewegt geprägt“ – etwa Wolfgang Abendroth (1906-1985), Arnold Bergstraesser (1896-1964), Siegfried Bernfeld (1894-1953), Fritz Borinski (1903-1988), Willy Brandt (1913-1992), Rudolf Carnap (1891-1970), Norbert Elias (1897-1990), Eugen Gerstenmaier (1906-1986), Hellmut Gollwitzer (1908-1983), Willi Graf (1918-1943), Alfred Kurella (1895-1975), Walter Laqueur (Jg. 1921), Erich Lüth (1902-1988), Erich Ollenhauer (1901-1963), Harald Poelchau (1903-1972), Johannes Rau (1931-2006), Adolf Reichwein (1899-1941), Hans Scholl (1918-1943), Nicolaus Sombart (1923-2008), Peter Suhrkamp (1891-1959), Herbert Weichmann (1896-1983) oder Friedrich Wolf (1888-1953) –, dass sie/ihn fast notwendig der Eindruck überkommen muss, bei der Jugendbewegung habe es sich um so etwas wie eine wenn schon nicht staatstragende, so jedenfalls doch demokratieerhaltende Vereinigung gehandelt, mit engen Überschneidungen zum deutschen Widerstand gegen Hitler.
Dass dies eine fatal einseitige, wissenschaftlich unhaltbare Folgerung wäre, zeigt der Versuch, jener eben angeführten Namen in den Kurzbiografien der maßgeblichen Quellenedition von Werner Kindt [1] habhaft werden zu wollen. Denn abgesehen von Bergstraesser, Borinski, Ollenhauer und Poelchau hatte keiner der Vorgenannten für Kindt vor über dreißig Jahren eine (irgendwie positiv bestimmbare) Bedeutung. Auch der Umkehrschluss ist aussagekräftig: Von den über sechzig NSDAP-Mitgliedern unter den Jugendbewegten in jenen Kurzbiografien – wohlgemerkt: ein zumeist nicht offen eingeräumter, sondern mühsam zu rekonstruierender Fakt – werden in dem hier zu besprechenden Sammelband lediglich sechs thematisiert, einer von ihnen verdienstvollerweise von der Herausgeberin Barbara Stambolis, Historikerin in Paderborn und seit 2010 Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats des Archivs der deutschen Jugendbewegung: Im Rahmen einer spannend zu lesenden Analyse kann sie zeigen, dass der in anderen Kontexten durchaus sehr renommierte Religionspädagoge Helmuth Kittel (1902-1984) seine NS-Vergangenheit durch eine gezielte Textauslassung unterschlagen hat – auch im Blick auf die 1967 verbreitete Widerstandslegende seines Freundes Rudolf Kneip (1899-1986), die allerdings der Wahrheit nicht Stand hält. Kittel, so ruft Stambolis in Erinnerung, war Mitglied von SA und NSDAP und begrüßte den Nationalsozialismus „[n]icht nur als Angehöriger der Jugendbewegung, sondern auch als Theologe und Lehrer“ (412). Ähnliches gilt für Kittels gleichfalls von Stambolis behandelten Neupfadfinderkollegen, den Schriftsteller (sowie Verleger und Buchhändler) Karl Rauch (1897-1966), der in seiner Autobiografie die NS-Zeit aussparte und ein separates Buch zum Thema ankündigte – das aber nie erschien. Von diesen eher auf der dunklen Seite der Jugendbewegung anzusiedelnden Figuren werden in diesem Kompendium des Weiteren – sehr informativ hierzu: Maria Daldrup – der Sozialhygieniker und Euthanasiebefürworter Hans Harmsen (1899-1989) vorgestellt, auch, aus der Feder Eckart Conzes, der NS-Botschafter in Paris, Otto Abetz (1903-1958). Aber im Vergleich ist dies doch unproportional und erkennbar konzentriert auf die weniger schlimmen Fälle.
Anders gesagt: Die NS-belasteten Historiker Werner Conze (1910-1986) und Theodor Schieder (1908-1984) werden zwar mit einem Artikel bedacht, nicht aber der eigentlich Verantwortliche für die Kindt-Edition und, wenn man so will, Vor-Vorgänger von Stambolis, Günther Franz (1902-1992), auch nicht der wohl zweitwichtigste Mann neben Franz, Karl Vogt (1907-2003), ein hochdekorierter Nazi mit zuletzt (1944) dem Rang eines SS-Obersturmbannführers, ganz zu schweigen von dem Rassenhygieniker Karl Thums (1904-1976), dem NS-(Kriegs-)Schriftsteller Eugen Erwin Dwinger (1898-1981) oder Schieders Kollegen Kleo Pleyer (1898-1942) – Namen, die man in Stambolis‘ Reader vergeblich sucht. Auch Dwingers Berufs- und Gesinnungskollege Hjalmar Kutzleb (1885-1959), wird ausweislich des zu ihm von Jürgen Reulecke in diesem Band Gesagten (709f) offenbar zu den ganz leichten Fällen gerechnet, ähnlich übrigens wie Theodor Wilhelm (1906-2005) in der begütigenden, an der zentralen Sekundärliteratur desinteressierten Lesart Heinz-Elmar Tenorths (vgl. 753ff).
Angesichts dieser Auffälligkeiten ist es fast zu verschmerzen, dass mitunter aufgrund zu großer Nähe zum Gegenstand – etwa von Werner Plumpe zu Alexander Rüstow (1885-1963) oder von Bernhard Schäfers zu Helmut Schelsky (1912-1984) – ein wirklich kritischer Zugriff zum Thema nicht gelingen will. So bleibt unter dem Strich ein gut ausgestattetes und für Einsteiger durchaus auch mit Gewinn zur Kenntnis zu nehmendes Lesebuch mit einer etwas fragwürdigen Zielsetzung, die es letzten Endes für den an historischer Forschung Interessierten unbrauchbar macht.
[1] Kindt, W. (Hrsg.): Dokumentation der Jugendbewegung. 3 Bände. Düsseldorf / Köln: Diederichs 1963-1974.
EWR 12 (2013), Nr. 4 (Juli/August)
Jugendbewegt geprägt
Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen
Göttingen: V&R unipress 2013
(819 S.; ISBN 978-3-8471-0004-1; 74,99 EUR)
Christian Niemeyer (Dresden)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christian Niemeyer: Rezension von: Stambolis, Barbara (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen. Göttingen: V&R unipress 2013. In: EWR 12 (2013), Nr. 4 (Veröffentlicht am 24.07.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384710004.html
Christian Niemeyer: Rezension von: Stambolis, Barbara (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen. Göttingen: V&R unipress 2013. In: EWR 12 (2013), Nr. 4 (Veröffentlicht am 24.07.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384710004.html