EWR 13 (2014), Nr. 6 (November/Dezember)

Georg Feuser / Thomas Maschke (Hrsg.)
Lehrerbildung auf dem PrĂĽfstand
Welche Qualifikationen braucht die inklusive Schule?
GieĂźen: Psychosozial-Verlag 2013
(352 S.; ISBN 978-3-8379-2300-1; 24,90 EUR)
Lehrerbildung auf dem Prüfstand Die Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft stellt eines der größten gesamtgesellschaftlichen Reformprojekte der Gegenwart dar. Die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen wird mit Blick auf die Herausforderungen, die sich an ein inklusives Erziehungs- und Bildungssystem stellen, in den pädagogischen Fachwissenschaften seit einigen Jahren intensiv diskutiert. Während der Fachdiskurs in erster Linie durch Beiträge zu didaktischen und förderpädagogischen Aspekten geprägt ist, sind Überlegungen zu den ausbildungsarchitektonischen Voraussetzungen in der Lehrerbildung bisher nicht systematisch zusammengetragen worden. Mit dem vorliegenden Sammelband unternehmen Georg Feuser und Thomas Maschke den schwierigen Versuch, die unterschiedlichen Aspekte einer anstehenden Lehrerbildungsreform zu bündeln. Grundlage ist das Verständnis von Inklusion als allgemeines und nicht spezielles Thema der Pädagogik. Das Werk versteht sich daher als ein Beitrag zur Entwicklung einer „Allgemeine Pädagogik“ im Rahmen einer „Allgemeinen Lehrerbildung“, die von den Herausgebern verstanden wird als „eine unabdingbare Notwendigkeit zur Humanisierung und Demokratisierung von Bildung und Gesellschaft“ (8). Das Werk vereint vierzehn Beiträge, denen auf knapp 350 Seiten reichlich Platz zugesprochen wird, um die unterschiedlichen Perspektiven detailliert zu entfalten. Die einzelnen Beiträge sind drei Themenbereichen zugeordnet: A) Grundsatzbeiträge, B) Aspekte zum Thema und C) Persönliche Dimensionen, erfahrungsbezogene Beiträge. Der Umstand, dass zehn der insgesamt vierzehn Beiträge dem inhaltlich unspezifischen Themenkapitel B) zugeordnet wurden, zeugt von einer Unterstrukturierung des Sammelbandes, verweist zugleich aber auch darauf, wie vielschichtig das Thema einer inklusiven Lehrerbildungsreform betrachtet werden kann.

Zu den einzelnen Beiträgen:
Die ersten einführenden Beiträge zum Sammelband verstehen sich als grundlegender Problemaufriss. Dabei formuliert Georg Feuser auf 66 Druckseiten – vom Umfang her in keinem Verhältnis zu den weiteren dreizehn Beiträgen des Sammelbandes stehend – eine umfassende Blaupause für eine inklusive Lehrerbildungsreform, die sich ganz wesentlich auf die vom Autor selbst vertretene „Allgemeine Pädagogik und entwicklungslogische Didaktik“ gründet. Die ersten rund dreißig Seiten widmet der Autor einer kritischen, teilweise vernichtenden Kritik zur gegenwärtigen Lage der Lehrer/-innen-Bildung. Dabei wird insbesondere der Pädagogik „ein hochgradiges fachwissenschaftliches Versagen“ vorgeworfen (16), da einerseits eine hinreichende wissenschaftliche Bestimmung von Inklusion und den hierfür notwenigen pädagogischen Qualifikationen und Kompetenzen versäumt worden sei (17) und sie sich andererseits willfährig den „restriktiven staatlichen Vorgaben und Kontrollen seitens der Bildungspolitik und [den] Mechanismen einer willkürlich agierenden Bildungsadministration“ unterwerfe. Eine der zentralen Thesen des Autors liegt in der Kritik der Entpolitisierung der Integrationsbewegung, der vorgeworfen wird, „sich selbst nur noch von der Segregation her und in diesem System agierend zu denken. Damit betreibt und stärkt sie aber unvermittelt die Sache, gegen die sie angetreten ist und für die die großen Elternbewegungen auf die Straße gegangen waren ...“ (23). Auf den anschließenden dreißig Seiten konkretisiert Feuser seine Vorstellungen zur inklusiven Lehrerbildungsreform. Kerngedanke ist, dass Inklusion als „Allgemeine Pädagogik“ im Rahmen einer „Allgemeinen Lehrerbildung“ zu denken sei und somit nicht als Spezialisierung innerhalb der Lehrerbildung missverstanden werden sollte (42). Der Autor stellt fünf Thesen zur inklusiven Lehrerbildungsreform auf, die den Hochschulen und Universitäten bei der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention eine besondere Verantwortung zuschreiben und schließlich in den Empfehlungen für ein inklusives Projektstudium münden.

Reinald Eichholz diskutiert in seinem ebenfalls umfangreichen Beitrag die „Streitsache Inklusion“ aus rechtlicher Sicht. Zentrale Begriffskonzepte wie Menschenwürde, Diskriminierungsverbot, inklusives Bildungssystem sowie Partizipation und Vorrang des Kindeswohls werden phänomenologisch interpretiert. Die Ausführungen zielen darauf, zu einer Verständigung zwischen der auf Menschenrechte begründeten Argumentation und einer inklusiven Pädagogik beizutragen (67). Die Analyse führt unter anderem zu der Klarstellung, dass die aktuell diskutierten menschenrechtlichen Prinzipien kein erzieherisches Konzept implizierten und die Frage der pädagogischen Umsetzung von der Pädagogik in Wissenschaft und Praxis definiert werden müsse (91); ein Aspekt, dem in der inklusionspädagogischen Diskussion bisher wenig Beachtung geschenkt worden sei. „Grundsätzliche Kritik ist deshalb angebracht, wenn rechtlich vorgegeben wird, was und wie gelernt werden soll, solange nicht Inhalte vermittelt werden oder Strukturen herrschen, die als solche ein Verstoß gegen die Menschenwürde und unveräußerliche Menschenrechte sind“ (91). Die differenzierten Ausführungen führen zu einer ausgewogenen Einschätzung: „Wie Kindern – unabhängig von der Frage einer Behinderung – individuell gerecht zu werden ist, kann pädagogische Binnendifferenzierung in der Lerngruppe ebenso erfordern wie äußere Differenzierung z. B. durch die Bildung von »Lerninseln« (...) So bedarf es pädagogischer Fantasie, die weder an zwanghafter Gemeinsamkeit klebt, noch außer Acht lässt, dass alle Kinder, ob mit oder ohne Behinderung, durch die Gemeinsamkeit gefördert werden“ (92).

Christiane Drechsler erweitert den Blick auf die schulische Inklusion um den Aspekt der Sozialraumorientierung. Ausgehend von der grundsätzlichen Fragestellung (19): „Ist Inklusion nicht ein Konzept für alle Lebensräume? Und: Was trägt ein inklusiver Sozialraum zum Gelingen inklusiver Schulen bei?“) plädiert die Autorin für ein umfassendes Begriffskonzept von Gemeinwesenorientierung, vor dessen Hintergrund sie die Zusammenhänge zwischen Sozialraumorientierung und inklusiver Schulentwicklung herausarbeitet.

Fragen der Fort- und Weiterbildung für schulische Inklusion werden von Ulrike Barth behandelt. Die Ausführungen nehmen ihren Ausgangspunkt in der Kritik der gegenwärtig zunehmenden Praxis an den Lehrerbildungsstätten, inklusive Lehrerbildung durch das additive Zusammenführen der bisher nach Schularten getrennten Lehramtsstudiengänge mit den Studiengängen der sonderpädagogischen Lehrerbildung betreiben zu wollen. Aus Sicht der Autorin liegt diesem Trend ein Missverständnis zugrunde. Inklusive Lehrerbildung sei hingegen als ein „Paradigmenwechsel“ zu verstehen, der auf einer grundsätzlichen Zuständigkeit aller Lehrer für alle Schüler basiere (134). Vorgestellt wird ein Curriculum für die inklusive Lehrerbildung, das sechs Studienmodule mit folgenden Inhalten umfasst: 1. Philosophisches Grundwissen; 2. Grundlagenwissen über kindliche Entwicklung; 3. Prozessdiagnostik; 4. Didaktische Konzepte und methodische Umsetzung; 5. Kooperation in multiprofessionellen Teams und Zusammenarbeit mit den Eltern; 6. Praxisorientierung. Für die Weiterbildung von Lehrkräften zum Thema inklusive Schulentwicklung werden äquivalente Bausteine vorgestellt.

In einem der kürzesten Beiträge des vorliegenden Sammelbandes stellt Götz Kaschubowski einige Überlegungen zum Praxis-Theorie-Verhältnis in der Ausbildung vor. Die Bedeutung der Praxisforschung im Kontext der Lehrerbildung wird anhand der praktischen Erfahrungen in der Ausbildung von Lehrkräften für Waldorfschulen und anthroposophisch-heilpädagogische sowie integrative Waldorfschulen erörtert.

Eine soziologische und ökonomische Perspektive auf den inklusiven Unterricht nimmt Heinrich Greving ein. Er betrachtet Schule und Unterricht als Abbild der Gesellschaft und diskutiert die Ökonomie des Wissens und der Bildung aus wissenssoziologischem Blickwinkel. Die Überlegungen werden abschließend in ihren pädagogischen Implikationen zusammengefasst. Der Auftrag lautet demnach „Bildung als Weg und Ziel der Inklusion zu spezifizieren und zu fokussieren“ (176), wobei der Autor die Notwendigkeit eines umfassenden Bildungsbegriffs unterstreicht (ebd.).

Die vielfältigen Herausforderungen, die sich vor dem Hintergrund der aktuellen Reform der Lehrerbildungsgänge in Österreich stellen, werden von Ewald Feyerer dargelegt. Ein besonderer Schwerpunkt wird hierbei auf inhaltlich-curriculare sowie studiengangsarchitektonische Fragen gelegt. Inklusion ist demnach zukünftig als ein zentraler Bestandteil aller Lehramtsstudiengänge zu verankern; eine Spezialisierung auf sonderpädagogische Fragestellungen wird nicht mehr in einem eigenständigen Studiengang abgebildet, sondern ist als ein Vertiefungsschwerpunkt in den Lehrämtern, zunächst kreuzkategorial im Bachelorstudium mit anschließender kategorialer Vertiefung im Masterstudium.

Wie ambitioniert und inklusiv ausgerichtet die österreichischen Zielsetzungen sind, wird deutlich im direkten Vergleich zur aktuellen Situation im Land Baden-Württemberg. Wie Theo Klauß in seinem Beitrag nüchtern feststellt, wurde mit der Einführung der neuen Prüfungsordnungen nicht nur versäumt, inklusionspädagogische Inhalte in alle Lehrämter verpflichtend einzubringen, sondern gleichzeitig ist Sonderpädagogik als grundständiger Studiengang neu eingeführt worden. Die gegenwärtige Lehrerbildungsreform in Baden-Württemberg zeigt demnach in eine diametral gegensätzliche Richtung zu den von Feyerer exemplifizierten österreichischen Reformplänen.

Ebenfalls aus Österreich stammt der Bericht von Marianne Wilhelm über die Implementation und Evaluation eines innovativen Ausbildungslehrgangs „Empowermentberater/in für inklusive Schulentwicklung“ an der Pädagogischen Hochschule in Wien. Das Projekt zielt durch den Einbezug „Betroffener“ darauf, bereits in der ersten Ausbildungsphase Begegnungen zwischen erwachsenen Menschen mit Beeinträchtigung und Studierenden zu ermöglichen.

Auch der Beitrag von Carmen Dorrance fordert den Einbezug der Perspektive von Betroffenen – hier die Elternperspektive – in die Lehreraus- und -fortbildung. Die Autorin hält es für „politisch unverantwortlich und pädagogisch fragwürdig“, Inklusion zu verordnen, ohne die Akteure hierauf vorzubereiten, wobei entsprechende Weiterbildungskonzepte nicht primär die Vermittlung sonderpädagogischer Fachkompetenzen zum Ziel haben sollten, sondern grundlegende Aspekte beinhalten müssten wie „Wertschätzung von Vielfalt, Erkennen individueller Lernfortschritte, Prinzipien individueller Förderung durch Binnendifferenzierung des Unterrichts, Identifikation von Lern- und Teilhabebarrieren, Ausbildung von selbstreflexiven Kompetenzen, Identifikation von Differenzsetzungen, Umgang mit Diversität etc.“ (262f).

Didaktische Fragen der Inklusion werden von Kerstin Ziemen behandelt. Im Mittelpunkt ihrer Überlegungen steht – wie im Titel des Beitrags angekündigt – die Notwendigkeit der „Reflexion komplexer Unterrichtsprozesse“ als Voraussetzung für inklusiven Unterricht.

Die Reflexion stellt auch für Marion Baldus das Kernelement pädagogischer Professionalität dar. Dabei wird der pädagogischen Beziehungsarbeit ein großer Stellenwert für die Schaffung inklusiver Lernumgebungen eingeräumt. Im Mittelpunkt des Beitrags steht eine Fallvignette aus einem Studienprojekt zur individuellen Sprachförderung an der Hochschule Mannheim, das eindrucksvoll die Bedeutung einer „wertschätzende(n) pädagogische(n) Beziehung für die Sprach- und Persönlichkeitsentwicklung für Kinder im Vorschulbereich“ (294) belegt. Die von Baldus geforderte professionelle Reflexion gründet sich auf einen verstehenden Zugang zur pädagogischen Beziehungsgestaltung, der sich aus psychoanalytischen und systemisch-konstruktivistischen Referenztheorien ableitet.

Der Beitrag von Eva Prammer-Semmler und Wilfried Prammer diskutiert die gesetzlichen Grundlagen und die gegenwärtige Praxis im Arbeitsfeld der pädagogischen Schulassistenz in Oberösterreich. Herausgearbeitet werden die zahlreichen Widersprüche und Spannungen, die dem Assistenzkonzept in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung zugrunde liegen. Der Beitrag schließt mit einigen Lösungsvorschlägen für die Weiterentwicklung des Konzepts.

Im abschließenden Beitrag berichtet Thomas Maschke über die Bedeutung kommunikativer Strategien in der Bearbeitung und Reflexion von Rollenkonflikten im Lehrerberuf im Kontext der sonderpädagogischen Beratungsarbeit und Lehrerfortbildung. Der Autor sieht die Kompetenzen zur Reflexion der eigenen Beziehungs- und Kommunikationsstrukturen als eine der zentralen Fähigkeiten von „(heil)pädagogisch kompetenten“ Lehrkräften (338). In den weiteren Ausführungen wird der „Dialog als Mittel der Entgrenzung“ (340ff) mit Blick auf die verschiedenen „Beziehungspartner“ von Lehrkräften diskutiert. Die „Innen- und Außenbeziehungen von Lehrern“ (340) werden hierbei als innerer Dialog, als Dialog zwischen Lehrern und Schülern, als kollegialer Dialog sowie als Dialog zwischen Lehrern und Eltern betrachtet.

Zusammenfassung:
Die inklusive Lehrerbildungsreform erweist sich als eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Der vorliegende Sammelband vereint theorie- und praxisbezogene Beiträge aus der pädagogischen Fachdiskussion im deutschsprachigen Raum. Dabei werden gezielt auch pädagogische Handlungsfelder jenseits der Schule einbezogen und interdisziplinäre Fragestellungen (etwa soziologische und rechtsphilosophische Perspektiven sowie bildungspolitische und -administrative Problemstellungen) diskutiert. In der Gesamtschau vermitteln die vorliegenden Beiträge den dringenden Appell, die fachwissenschaftlich fundierten Analysen zur Lehrerbildungsreform in die bildungspolitische Realität umzusetzen und die gegenwärtig hektisch einsetzenden Reformen in den einzelnen Ländern nicht zu einem Etikettenschwindel werden zu lassen. Bei der Komplexität des Reformprojekts mag es verzeihlich erscheinen, wenn der Sammelband etwas unterstrukturiert erscheint und eine klarere thematische Zuordnung der einzelnen Beiträge vermissen lässt. Die Zusammenstellung der ausgewählten Texte des vorliegenden Sammelbandes verdeutlicht eindringlich und facettenreich die unterschiedlichen Dimensionen und Aspekte, insbesondere aber auch die innere Widersprüchlichkeit auf dem Weg zu einer inklusiven Reform der Lehrerbildung.
Marc Willmann (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marc Willmann: Rezension von: Feuser, / Maschke, Thomas Georg (Hg.): Lehrerbildung auf dem PrĂĽfstand, Welche Qualifikationen braucht die inklusive Schule?GieĂźen: Psychosozial-Verlag 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 6 (Veröffentlicht am 04.12.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383792300.html