EWR 23 (2024), Nr. 2 (April)

Theresa Stommel
Bildung und Staunen
Eine bildungsphilosophische Perspektive im Kontext geistiger und schwerer Behinderung
Bielefeld: transcript Verlag 2023
(272 S.; ISBN 978-3-8376-6816-2; 44,00 EUR)
Bildung und Staunen In ihrer Dissertation „Bildung und Staunen. Eine bildungsphilosophische Perspektive im Kontext geistiger und schwerer Behinderung“ wirft Theresa Stommel Licht auf ein wissenschaftliches Desiderat: Obgleich Menschen, die mit der Zuschreibung ‚geistiger und schwerer Behinderung‘ in Verbindung gebracht werden, trotz zunehmender (gesellschaftlicher) inklusiver Bestrebungen einer „historisch belegbaren wie fortwĂ€hrenden Erfahrung“ (14) der Bildungsbenachteiligung ausgesetzt sind, lĂ€sst sich im wissenschaftlichen Diskurs bislang keine systematische Auseinandersetzung finden, die sich in diesem Bezugsfeld in adĂ€quater Weise um eine bildungsphilosophische Theoretisierung von Bildung bemĂŒht (12ff.). Ausgehend von dieser (alarmierenden) Erkenntnis sowie mit besonderem Augenmerk auf das transformatorische Moment von Bildung, macht sich Stommel mit faszinierender PrĂ€zision auf die Suche nach einem allgemeinen und nicht exkludierenden VerstĂ€ndnis von Bildung und Bildungsprozessen. Dabei widmet sie sich nicht nur der Frage, wie sich Bildung(sprozesse) theoretisch fundieren ließe(n), ebenso wird fokussiert, wie die pĂ€dagogische Praxis von einer solchen Theoretisierung profitieren kann, um zu einer Verbesserung der LebensrealitĂ€t des erwĂ€hnten Personenkreises beizutragen. Ein verĂ€nderter Blick auf Bildung, so die zentrale Annahme, birgt Chancen, den identifizierten Tendenzen des Ausschlusses von Bildung und (kultureller) Teilhabemöglichkeiten entgegenzuwirken.

Im Lichte des skizzierten Bedeutungsrahmens erfolgen feingliedrige (philosophische) Suchbewegungen: Beginnend mit einer theoretischen EinfĂŒhrung werden, vom Forschungsinteresse geleitet, im Zuge einer (historischen) Exploration des Bildungsbegriffs sowie bildungstheoretischer Denktraditionen, theoretische LĂŒcken herausgearbeitet und AnknĂŒpfungspunkte fĂŒr eine bildungsbezogene Auseinandersetzung im Kontext geistiger und schwerer Behinderung sichtbar gemacht. Unter BerĂŒcksichtigung erarbeiteter Erkenntnisse folgt sodann eine kritische Durchleuchtung konkreter PrĂ€missen und Ankerpunkte, die sowohl alltĂ€gliche Auffassungen als auch erziehungswissenschaftliche TheorieentwĂŒrfe rund um bzw. zu Bildung durchziehen. Vor dem Hintergrund einer spezifischen Betrachtung des Selbst und seines Zur-Welt-seins (82ff.) erscheint die Idee vollkommener Autonomie und ‚SouverĂ€nitĂ€t‘ brĂŒchig, das Festhalten an einem neuhumanistisch geprĂ€gten Subjekt- und BildungsverstĂ€ndnis erweist sich als nicht lĂ€nger haltbar. Aus einer phĂ€nomenologisch orientierten Perspektive gesehen, von der aus das Selbst von seiner Leiblichkeit und dadurch seiner fundamentalen VulnerabilitĂ€t her betrachtet wird, kann Bildung nicht (mehr) als eine auf (kognitive) FĂ€higkeiten bezogene ‚Leistung‘ der*des Einzelnen gedacht werden; vielmehr eröffnet sich ein Blick auf Bildung, wonach sich diese als relationales (84ff.) und intersubjektives Geschehen verstehen lĂ€sst, das Selbst- und WeltverhĂ€ltnisse unweigerlich anrĂŒhrt respektive transformiert. Das leiblich verstandene Selbst ist dabei stets in FremdbezĂŒge verstrickt, ist anfĂ€llig fĂŒr AnsprĂŒche, die die Welt und andere an es stellen. Mit Blick auf die anthropologische Dimension der ResponsivitĂ€t (u.a. nach Bernhard Waldenfels; zudem wird der Begriff ‚Response-ability‘ eingefĂŒhrt: z.B. 144) ist es genötigt, auf diese AnsprĂŒche zu antworten. Bildung ist demnach Akt des Antwortens sowie „Prozess der VerĂ€nderung etablierter intrapersonaler Ordnungen und Strukturen aufgrund des relationalen Bezugs zu sich selbst und zur Welt“ (94).

Mit Betonung dieses Bezugs lassen sich nicht nur Erfahrungsmöglichkeiten kultureller Ordnungssysteme hervorheben, gleichermaßen wird das damit einhergehende RĂŒckwirken auf die produktive (Mit-)Gestaltung kulturell-symbolischer Strukturen thematisiert. Übertragen auf die im Zentrum stehende Personengruppe wird damit der Bedeutungsgehalt des Zusammenspiels von mangelnder kultureller Teilhabe und unzureichenden Bildungsmöglichkeiten deutlich, welches im Verlauf der Abhandlung inhaltlich konsequent im Fokus steht.

Inhaltliche Konsequenz zeigt sich ebenso im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der bereits angeklungenen Bedeutung des Transformatorischen: Die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse (Hans-Christoph Koller) fungiert als theoretischer Bezugsrahmen, wird jedoch im Verlauf der Erarbeitung in kritisch-reflexiver Weise ĂŒberprĂŒft, um durch eine phĂ€nomenologische Erweiterung bzw. Umordnung die als exkludierend identifizierten Elemente herauszufiltern und fĂŒr eine Übertragung auf den Kontext geistiger und schwerer Behinderung fruchtbar zu machen. Mithilfe eines phĂ€nomenologisch ausgerichteten bzw. erfahrungsbasierten Zugangs gelingt es, ein VerstĂ€ndnis von Bildung(sprozessen) zu erarbeiten, wonach etwa das (aus-)gesprochene Wort gegenĂŒber Leiblich-Sinnlichem an Bedeutung einbĂŒĂŸt, Bildung nicht als zu lenkender oder kalkulierender Prozess, sondern als offenes und dynamisches PhĂ€nomen in Erscheinung tritt. Annehmend, dass sich VerĂ€nderung und somit Bildung im Erfahrungsvollzug entfaltet, hebt Stommel hinsichtlich der GrundzĂŒge der Erfahrung die mit ihr in Verbindung stehende Dimension der Fremdheit hervor (als bedeutsam zeigt sich die PhĂ€nomenologie des Fremden von Waldenfels: exempl. dazu siehe 114ff.; 137). In der erscheinenden Auslegungsform kommt der Erfahrung ein markanter Widerfahrnischarakter zu (231) – Bildungsprozesse finden ihren Ausgangspunkt demnach vor allem dort, wo Irritation und Beunruhigung walten, Affiziert-Sein zum Aufmerken und zur Bezugnahme (zum Antworten) zwingt (137ff.; 231). Mit dem Vollzug des angesprochenen Antwortverhaltens ist VerĂ€nderung (des Selbst-, Fremd- und WeltverhĂ€ltnisses) unweigerlich verbunden (232). VerĂ€nderung steht dabei hĂ€ufig nicht mit sprachlichem Ausdruck in Verbindung, womit der inklusive Anspruch der Arbeit abermals zur Geltung kommt (spezifisch: 233).

Mit der Betonung der Relevanz des Fremden fĂŒr Bildungsprozesse wird im weiteren Verlauf der Argumentation insbesondere seine (mögliche) Wirkung anvisiert (161ff.). In den Mittelpunkt rĂŒckt die Erkenntnis, „dass das Fremde im Staunen zum Ausdruck kommt“ (191) und Staunen mit VerĂ€nderung der Selbst- und WeltverhĂ€ltnisse sowie der Entstehung von Neuartigem verknĂŒpft ist; jene Annahmen, die fĂŒr die Ableitung pĂ€dagogisch-didaktischer Überlegungen (205ff.) richtungsweisend sind. Stommel gibt Einblick darin, wie ein ‚staunenfreundlicher Unterricht‘ (207ff.) aussehen kann. Unter anderem wird hier die Verantwortung pĂ€dagogisch Handelnder verdeutlicht, welche die QualitĂ€t sowie das Maß der ‚Staunenfreundlichkeit‘ mit der Ausrichtung ihrer Grundhaltung maßgeblich mitbestimmen (206ff.). Zuletzt werden unter dem Begriff der ‚Staunenserregung‘ Wege in den Blick genommen, um Momente des Staunens zu evozieren, wobei „Verfremdung als didaktisches Mittel eines staunenerregenden Unterrichts im Kontext geistiger und schwerer Behinderung“ (215) bestimmt wird. Es folgt die PrĂ€sentation konkreter Techniken der Verfremdung (215ff.), die zugunsten eines Überblicks fĂŒr Leser:innen auch in Form einer Tabelle veranschaulicht werden (236). Dargestelltes entspringt vor dem Hintergrund der Auffassung, dass Staunen durch die Verfremdung des gewohnten Unterrichtssettings und/oder -gegenstandes maßgeblich begĂŒnstigt – idealerweise erzeugt – werden kann (215ff.). Wie Stommel transparent macht, reprĂ€sentieren die nachgezeichneten Akzentuierungen insofern eine Gegenbewegung zu ĂŒblichen didaktischen Konzepten, als bei diesen sehr hĂ€ufig der Fokus auf Routinen und (vermeintlich schonender) Gleichförmigkeit liegt, womit die Gefahr einhergeht, Personen inspirierende (bildende) Erfahrungen vorzuenthalten. Von Bedeutung sind daher pĂ€dagogische Akteur:innen, die mit ausgeprĂ€gtem FeingefĂŒhl, Zartsinn und Achtsamkeit ErfahrungsrĂ€ume des Staunens ermöglichen und Bereitschaft zeigen, sich mit Begeisterung im gemeinsam geteilten Erfahrungsraum (kultureller) Fremdheit zuzuwenden.

Die hier rezensierte Publikation beschreitet inhaltlich unbeschrittenes Terrain und liefert dabei beeindruckende pÀdagogisch-phÀnomenologische Denk- und HandlungsansÀtze im Kontext geistiger und schwerer Behinderung.
Tina Obermayr (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Tina Obermayr: Rezension von: Stommel, Theresa: Bildung und Staunen, Eine bildungsphilosophische Perspektive im Kontext geistiger und schwerer Behinderung. Bielefeld: transcript Verlag 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 2 (Veröffentlicht am 07.05.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383766816.html