Kaum eine Periode der Erziehungs- und Bildungsgeschichte ist in der historischen Bildungsforschung intensiver erforscht als das Kaiserreich und die Weimarer Republik. Hochindustrialisierung, Imperialismus, Krieg und Republik haben Politik und Gesellschaft in einer beispiellosen Dynamik herausgefordert, transformiert und signifikante Spuren auch in der Praxis und Reflexion von Bildung und Erziehung hinterlassen. Vor diesem Hintergrund waren âReformpĂ€dagogikâ, âSchulreformâ und âwissenschaftliche PĂ€dagogikâ am Beginn des 20. Jahrhunderts vielfach GegenstĂ€nde theorie- und sozialgeschichtlicher Forschung, die das spezifische Profil von Erziehungsreflexion und -reform in Deutschland ĂŒber ihre ideengeschichtliche Tradition hinaus gerade aus ihren Wechselbeziehungen mit dem krisenhaften sozialen und kulturellen Modernisierungsprozess zu erklĂ€ren versuchten [1].
Mit einem dazu deutlich kontrastierenden, diskursimmanent fokussierten Zugang zur âGenealogie der Begabungâ untersucht der Verfasser des vorliegenden Bandes angesichts der um 1900 einsetzenden Konjunktur des Begabungsbegriffs, wie sich âdie pĂ€dagogische Konstellationâ verĂ€ndert, âwenn ihre Orientierung weniger durch ĂŒbergeordnete Ideale als durch vorgeordnete Potentialeâ im Sinne von Anlage, Begabung und Talent erfolgt (15). Vier der fĂŒnf Kapitel des Bandes basieren auf BeitrĂ€gen, die zwischen 2015 und 2019 in KonferenzsammelbĂ€nden bzw. Periodika erschienen und im Rahmen eines kumulativen Habilitationsverfahrens ĂŒberarbeitet und erweitert worden sind (217). Ihnen ist ein lĂ€ngeres âvorgreifendes ResĂŒmeeâ (17-76) zu den âfĂŒnf (âŠ) tragenden Elemente(n)â (23) des Geistes der Potentiale vorangestellt: (i) âPĂ€dagogische Technologienâ im Sinne pĂ€dagogisch-psychologischer PrĂŒfungstechniken, die (ii) âSubjektivierung der Potentialeâ durch die pĂ€dagogische Vermittlung eines âSelbstdeutungsrepertoiresâ (45) im Rahmen von Anlage, Begabung und Talent, (iii) âĂkonomische Motiveâ zum Zusammenhang zwischen Potentialen und âökonomisch-unternehmerischen Motivenâ, (iv) âPĂ€dagogische Strategienâ, die der vermeintlich freien Entfaltung durch Beraten und Spielen dienen, sowie (v) âGleichheitsmotive und Vergleichslogikenâ, die das âDilemmaâ zwischen pĂ€dagogischem IndividualitĂ€tsdenken und Vergleichstechniken thematisieren (23/24).
Die nachfolgenden, zum gröĂten Teil aus den vorherigen Publikationen hervorgegangenen Kapitel konkretisieren diese Elemente sodann anhand der spezifischen Konzepte bzw. Reflexionsformen mehr oder weniger prominenter Vertreter:innen der (Reform-)PĂ€dagogik bzw. der zeitgenössischen Psychologie: Ellen Key ĂŒber âdie Arbeit der MĂŒtterâ, Theodor Litt zum Zusammenhang von Ăkonomie und Anlagen, der Dresdener Stadtschulrat Wilhelm Hartnacke zur rassebiologischen Auslese sowie Hermann Ebbinghaus und Hugo MĂŒnsterberg als Vertreter der frĂŒhen Psychologie ĂŒber Quantifizierung bzw. Beratung. âSpielerische Potentiale: Arbeit als Spielâ zeichnet schlieĂlich die verschwindenden Grenzen zwischen beiden Bereichen auf und warnt, dass die âLogik des Profits das Spiel erfasst, die Arbeit ĂŒber die Form des Lebens entscheidetâ (194). In einer Art Ausblick wird der Begriff der âKompetenz als zeitgenössische Variation des Geistes der Potentialeâ (210) eingeordnet.
Die Untersuchung charakterisiert â ganz im Sinne ihrer Absicht, âBegriffe zu erarbeitenâ (16) â eine fortlaufende Relationierung historischer Konzepte und Begriffe im Umfeld von Anlage und Begabung, oft integriert in Paraphrasen der jeweils herangezogenen Literatur, entfaltet Differenzierungen immer wieder anhand der Denkfigur der Doppelung â so die âdoppelte Fundierungâ (13) der PĂ€dagogik und die âdoppelte Konstruktion der Begabungâ (39) oder der âdoppelte Verpflichtungscharakter der Arbeitâ (108) und Litts âZugang als doppelt modernâ (116) â und entwickelt KomplexitĂ€t ĂŒber die ebenfalls hĂ€ufig wiederkehrenden Kontraste von âinnenâ und âauĂenâ, âhellâ und âdunkelâ als unterschiedliche Seiten der in Rede stehenden Begriffe. Damit werden die erziehungstheoretisch und -historisch interessierten Leser:innen in einen konzentrierten Reflexionsprozess ĂŒber die verschiedenen Bedeutungsschichten von Begabung einbezogen, dessen genauer Ertrag nur schwer in kompakten (Zwischen-)Ergebnissen aufzusummieren ist. Vertiefend werden klassische (z.B. Kant, Marx) wie moderne Theorien (v.a. Foucault) diskutiert, ebenso, etwa mit Norbert Rickens Arbeiten, AnschlĂŒsse an den einschlĂ€gigen aktuellen Diskurs der Allgemeinen PĂ€dagogik gesucht.
GegenĂŒber dieser bezugsreichen Einbettung in benachbarte gesellschafts- und erziehungstheoretische AnsĂ€tze hat die Arbeit deutliche SchwĂ€chen auf der Ebene der Quellenauswahl und -kritik. So fehlen angesichts des enormen Aufschwungs der im ausgehenden 19. Jahrhundert immer heterogeneren pĂ€dagogischen (Zeitschriften-)Literatur Kriterien sowohl fĂŒr die Auswahl der herangezogenen Periodika wie auch der einzelnen BeitrĂ€ge, deren Umfang von oft nur drei, vier Seiten Fragen nach ihrem Gewicht bzw. ihrer ReprĂ€sentativitĂ€t im zeitgenössischen Diskurs aufkommen lĂ€sst. Zahlreiche, im Text zitierte Literaturangaben sind nicht im Literaturverzeichnis nachgewiesen.
Da der âszientifische FlĂŒgelâ der ReformpĂ€dagogik [2], die âexperimentelle PĂ€dagogikâ, in ihrer konflikt- und daher fĂŒr die historische Semantik von Begabung zugleich sehr aufschlussreichen Entstehung und spĂ€teren Marginalisierung ausgeblendet bleibt, wird auch die zeitgenössische Begabungsforschung ignoriert. Ernst Meumann widmete ihr schon in der zweiten Auflage seiner bekannten âVorlesungen zur EinfĂŒhrung in die Experimentelle PĂ€dagogikâ von 1913 einen eigenen, 800 Seiten umfassenden Band, der die internationale Forschung seiner Zeit auf einzigartige Weise kompiliert und kommentiert. Sporadische Hinweise auf William Stern und Peter Petersen verfehlen die enorme Bedeutung des Aufstiegs und der Dominanz der empirischen PĂ€dagogik bzw. Begabungsforschung vor 1914 und ĂŒbergehen zugleich deren Reduktion auf die (dann kaum akzeptierte) Begabungsdiagnostik sowie die international atypische Marginalisierung der empirischen PĂ€dagogik nach 1918 [3]. Dementsprechend kommen Eduard Spranger und die in den 1920er Jahren als Alternativkonzept entstandene âGeisteswissenschaftliche PĂ€dagogikâ gerade mit Blick auf die âwissenschaftlicheâ NeubegrĂŒndung von Bildung, Begabung, Allgemein- und Berufsbildung in der Weimarer Republik zu kurz.
Diskurse entwickeln sich nicht im luftleeren Raum und folgen insoweit einer anderen Logik als sie aus der mehr zufĂ€llig als systematisch nachvollziehbar erscheinenden Aneinanderreihung bzw. Kompilation historischer Texte hervorzugehen scheint. Die Fokussierung der Wechselwirkungen zwischen Begabungsdiskurs und Bildungssystem als dessen zentraler institutioneller Referenz, die den Diskurs weit mehr bestimmen als die Optimierung des vom Autor wiederholt exponierten âEinzelnenâ, ist keine nur Ă€uĂerliche methodische Option der historischen Bildungsforschung. Vielmehr werden die Beziehungen zwischen Schulsystem und Begabung in prominenten zeitgenössischen Quellen selbst explizit und kontinuierlich diskutiert â mit am Ende weitreichenden Folgen fĂŒr Programm und wissenschaftliche Verortung der Erziehungswissenschaft in Deutschland, nicht zuletzt fĂŒr die Legitimation und damit Stabilisierung der selektiven Strukturen des dreigliedrigen Schulsystems durch die noch weit nach 1945 dominierende Begabungsideologie. Die selektiven Effekte des Begabungsbegriffs ĂŒberlagern historisch seine subjektive Orientierungsfunktion als individuell gestaltbares Potential.
[1] Tenorth, H.-E. (2013). Erziehungswissenschaft â Kontext und Akteur reformpĂ€dagogischer Bewegungen. In W. Keim & U. Schwerdt (Hrsg.), Handbuch der ReformpĂ€dagogik in Deutschland. Gesellschaftliche Kontexte, Leitideen und Diskurse, Bd. 1 (S. 293-326). Peter Lang Edition.
[2] Tenorth, H.-E. (1989). VersÀumte Chancen. Zur Rezeption und Gestalt der empirischen Erziehungswissenschaft der Jahrhundertwende. In P. Zedler & E. König (Hrsg.), Rekonstruktionen pÀdagogischer Wissenschaftsgeschichte. Fallstudien, AnsÀtze, Perspektiven (S. 317-343). Dt. Studien-Verl.
[3] Depaepe, M. (1993). Zum Wohle des Kindes? PÀdologie, pÀdagogische Psychologie und experimentelle PÀdagogik in Europa und den USA, 1890-1940. Dt. Studien-Verl.
[4] Drewek, P. (2021). Geschichte der Schulforschung im deutschsprachigen Raum bis zum Zweiten Weltkrieg. In T. Hascher, W. Helsper & T.-S. Idel (Hrsg.), Handbuch Schulforschung (S. 1-22). Springer Fachmedien Wiesbaden.
EWR 21 (2022), Nr. 4 (Oktober)
Der Geist der Potentiale
Zur Genealogie der Begabung als pÀdagogisches Leistungsmotiv
Bielefeld: transcript Verlag 2022
(239 S.; ISBN 978-3-8376-6051-7; 35,00 EUR)
Peter Drewek ( Karlsruhe)
Zur Zitierweise der Rezension:
Peter Drewek: Rezension von: HeĂdörfer, Florian: Der Geist der Potentiale, Zur Genealogie der Begabung als pĂ€dagogisches Leistungsmotiv. Bielefeld: transcript Verlag 2022. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383766051.html
Peter Drewek: Rezension von: HeĂdörfer, Florian: Der Geist der Potentiale, Zur Genealogie der Begabung als pĂ€dagogisches Leistungsmotiv. Bielefeld: transcript Verlag 2022. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383766051.html