Zusammen mit Britta Marschke legt Clemens Seyfried mit dem Buch ‚Kollegiale Fallberatung für Pädagoginnen und Pädagogen‘ eine umfassende Monografie zu seinem Beratungskonzept der ‚Subjektiven Relevanz‘ (SuRe) vor. Dieser vor mehr als dreißig Jahren erstveröffentlichte Ansatz [1] wurde seither vom Autor sukzessive weiterentwickelt und in einzelnen, kompakt gefassten Beiträgen disseminiert [z.B. 2]. Mit der nun aktuell vorliegenden Monografie kann das kollegiale Fallberatungskonzept SuRe in einer einzigen Schrift in Bezug auf sein reichhaltiges theoretisches Fundament als auch seine konzeptgetreue Anwendung in der Beratungspraxis hinreichend nachgelesen werden. Die von Prof. Klaus Hurrelmann im Vorwort zum Ausdruck gebrachte Würdigung des Buches (9) erscheint mit Blick auf die starke theoretische Rahmung und die langjährige Erprobung des Konzeptes mehr als verdient.
Vorab ist zu bemerken, dass Seyfried und Marschke den Buchtext nicht gänzlich kollaborativ verschriftlicht, sondern sich das Verfassen der Lektüre abschnittsweise aufgeteilt haben. So stammen die Kapitel 1 bis 6 sowie 8 bis 10 aus der Feder des Erstautors. Das umfangreiche Kapitel 7 wurde von der Zweitautorin geschrieben. Trotz dieser sequenzierten Aufteilung der Autor:innenschaft legt sich über das gesamte Werk ein kohärenter inhaltlicher Gesamtbogen, der auf eine genaue konzeptuelle Abstimmung innerhalb des textverfassenden Zweierteams schließen lässt.
Bereits in der Beschreibung der Ausgangslage in Kapitel 1 legt Seyfried sein bemerkenswertes wissenschaftliches Schreibvermögen dar, indem er den Text fesselnd, verständlich und zugleich theoriedicht hält. So braucht er beispielsweise auf Seite 15 nur wenige Zeilen, um anschaulich klarzumachen, wie anspruchsvoll die Arbeit in pädagogischen Handlungsfeldern ist, ohne dabei die Argumentation zu theatralisieren. In Kapitel 2 widmet sich Seyfried der Darlegung der Grundlagen kollegialer Fallberatung und grenzt dabei Beratungskonzepte von Supervision, Psychotherapie, Erziehung, Ausbildung und Organisationsentwicklung ab. Dies ist aufgrund fließender Übergänge und fehlender konzeptueller Trennschärfen der verschiedenen Interventionsformen ein grundsätzlich schwieriges Unterfangen, welches im vorliegenden Text mit Bezug auf einschlägige Literatur [3; 4] aber dennoch gut gelingt.
Insgesamt wird im Buch viel Literatur zitiert bzw. verarbeitet. So auch in den Kapiteln 3 und 4. In Kapitel 3 geschieht eine gut referenzierte Darlegung kommunikationspsychologischer, allgemeinpsychologischer und psychotherapeutischer Ansätze, deren Diskussion zur begrifflichen Bestimmung kollegialer Fallberatung als hilfreich erscheint. Zur Sprache kommt dabei die Themenzentrierte Interaktion (2) ebenso, wie die Personenzentrierte Beratung (32) oder der Systemische Konstruktivismus (33). Auch in Kapitel 4 werden konzeptrelevante Ansätze präsentiert, wie etwa die Soziale Lerntheorie (55), die Selbstbestimmungstheorie der Motivation (57), das Salutogenetische Modell (59) oder die Vertrauens-Trias (62). Diese verschiedenen Ansätze werden zu einem stimmigen Theorierahmen zusammengewoben.
In den Kapiteln 5 und 6 geht es schließlich um das Kernthema, die Umsetzung von SuRe in der Bildungspraxis. Es wird aufgezeigt, dass SuRe sowohl in Präsenzform als auch im orts- und zeitunabhängigen Onlinemodus (SuRe online; 65) durchgeführt werden kann. Beide Kapitel beinhalten anschauliche Darlegungen der Phasenabläufe von SuRe. Spätestens hier wird klar, dass es bei dieser Form kollegialer Fallberatung nicht um Diagnose und Intervention geht, sondern um eine Neubewertung von persönlichen Relevanzsituationen bzw. einen Entwurf neuer individueller Handlungsmöglichkeiten. Dabei sind Überlegungen und Einschätzungen, die im Beratungssetting von Kolleg:innen geäußert werden, als Anregung oder Option zu verstehen. Die Selbstbestimmung der betroffenen Person bleibt stets gewahrt.
Im von Marschke verfassten Kapitel 7 setzen sich die elaborierte Formulierweise als auch der konsequente Praxisbezug weiter fort. Marschke macht in diesem Buchkapitel den Einsatz des Modells SuRe in der Erwachsenenpädagogik greifbar. Die Autorin offeriert eine hervorragende Beschreibung von Beratung im interkulturellen Kontext. Zudem nimmt sie auf bemerkenswert umfangreiche Projekte im Raum Berlin Bezug, die sie in leitender Funktion betreut und in den letzten zehn Jahren kontinuierlich vorangetrieben hat. Im Rahmen dieser Projekte gelingt es den projektbeteiligten Personen zum einen, das Modell SuRe für projektinvolvierte Lehrkräfte weiträumig zum Einsatz zu bringen. Zum anderen zeigen die Projekte aber auch mustergültig auf, wie Lehrkräfte Bildungs- bzw. Alphabetisierungsprozesse gering Literalisierter mit nichtdeutschen Erstsprachen zielführend unterstützen können. Mehrsprachige Angebote und die damit verbundene Nutzung muttersprachlicher Kompetenzen brechen dabei auch einen in deutschsprachigen Ländern weit verbreiteten, auf Ziel- bzw. Bildungssprache pochendenden sprachassimilativen Habitus [5] auf. Die vorgestellten Projekte werden damit den inklusiven Grundideen der Gleichberechtigung und bildungsbezogenen Chancengleichheit gerecht.
Einem kurzen Exkurs zur Anwendung von SuRe in der Lehrer:innenbildung in Kapitel 8, ausgearbeitet wiederum von Seyfried, folgt das ebenfalls von ihm erstellte Kapitel 9, welches einen reichen Schatz an Ãœbungen und Materialien zur Entwicklung von Kommunikations-, Reflexions- und Beratungskompetenzen beinhaltet.
Praxisorientierte Handreichungen enden typischerweise mit zusammenfassenden Ratschlägen. Nicht so das vorliegende Werk. Im abschließenden Kapitel 10 wird es dem Anspruch, sich von konventioneller Ratgeberliteratur abzugrenzen, auf besondere Weise gerecht. Die in diesem Kapitel angebotenen Perspektiven differenzieren nicht Personen, die Ratschläge anbieten können, von solchen, die Ratschläge nötig hätten. Vielmehr geht es um „Anregungen für weitere Entwicklungen“ (179), die davon ausgehen, dass im kollegialen Beratungssetting Situationen – und nicht Personen – bearbeitet werden. Zur Neubewertung von Situationen oder Umorientierung von Handlungsentwürfen liegen die diesbezüglichen Ideen schon im Erfahrungsschatz der beteiligten Akteur:innen. Von gegenseitigen Zuschreibungen und Fremddiagnosen ist Abstand zu halten – einer der wenigen Imperative, zu deren Konstruktion man beim Lesen des Buches verleitet wird. Auf diese Weise gelingt es gegen Ende des Werkes einmal mehr, sich auf annehmliche Weise vom Privileg zu verabschieden, zu wissen (oder wissen zu müssen), was für andere gut ist. Eine zutiefst humanistische Botschaft wird hier kundgetan, welche die Selbstentwicklungskraft des Menschen ebenso adressiert, wie das Recht jedes einzelnen Menschen, nicht auf alles eine endgültige Antwort haben zu müssen.
Was bleibt nach dieser Würdigung übrig an Kritik? Vielleicht würde es für die Umsetzung des Beratungskonzeptes SuRe in der eigenen pädagogischen Praxis hilfreich sein, wenn die Konzepteinführung und die geschilderten auszugsweisen Praxiseinblicke mit beispielhaften Dokumentationen von umfassenden SuRe-Reflexionsprozessen ergänzt wären. Solche umfangreicheren Beispiele würden deutlicher aufzeigen können, wie Beratungsprozesse konkret ablaufen können und leser:innenseits einen erfolgreichen Transfer in die eigene Praxis durch Lernen am Exemplarischen unterstützen.
Weiters verleitet der im Buch strapazierte Reflexionsbegriff zu kritischen Überlegungen. Dass SuRe von den Akteur:innen ein „hohes Maß an Reflexionskompetenz“ einfordert, erfährt man explizit auf Seite 122. Die diesbezügliche Vorahnung macht sich beim Lesen aber schon früher im Buch breit. In SuRe Reflexionsgruppen mit zeitgleicher Anwesenheit der Teilnehmenden kann man die herausfordernden reflexiven Prozesse womöglich durch unterstützende Moderation, Ad-hoc-Feedbackschleifen und die Möglichkeit eines gezielten Nachfragens entsprechend beleben. Mit Blick auf SuRe online stellt sich aber die Frage, ob bzw. wie sich solche förderlichen Dynamiken unabhängig von Ort und Zeit ähnlich unterstützend entfalten können. Im Buch hätte man der Diskussion dieser Frage u.U. ein wenig mehr Raum geben können.
Und eine letzte kritische Anmerkung möchte dazu anregen, mehr von den gewonnenen Evidenzen aus der Begleitforschung zu berichten. Zitierte ältere Studien sowie Verweise auf Begleitforschungsberichte lassen darauf schließen, dass SuRe nicht nur implementiert, sondern auch entsprechend beforscht wird. Dichtere Verweise auf die Studienergebnisse könnten die Reputation des Konzeptes zusätzlich stärken.
Abschließend sei betont, dass das Buch von Seyfried und Marschke allen, die sich für kollegiale Beratung interessieren, zweifelsfrei empfohlen werden kann. Es schafft den Spagat zwischen der verständlichen Darlegung eines kohärenten theoretischen Konzeptes und dem gleichzeitigen Anbieten praktischer, unmittelbar einsatzfähiger Beratungswerkzeuge. Nicht unbemerkt bleiben soll, dass die vorbildhafte Sinnverständlichkeit des Buches durch mehrere kapitelübergreifende Querverweise sowie QR-Codes, die zu digitalen externen Ressourcen weiterleiten, zusätzlich erhöht wird. Und im Besonderen zeigt das Buch auf, dass Beratungskonzepte anders gedacht werden können, als es aus konventionellen Betrachtungswinkeln heraus üblich ist. Bekennend zur Prämisse einer ‚Beratung ohne Ratschlag‘ und in der Überzeugung, dass Entwicklungsprozesse dann gelingen, wenn damit positive Erfahrungen verbunden werden können (180), schlagen der Autor und die Autorin einen innovativen und zugleich sympathischen Weg ein, der dem modernen emanzipatorischen Paradigma eines zur Selbstbestimmung befähigten Menschen gerecht zu werden scheint. So gesehen ist mit dem Buch ,Kollegiale Fallberatung für Pädagogen und Pädagoginnen‘ wohl ein großer Wurf gelungen.
[1] Seyfried, C. (1990). Modell zur kontrollierten Kompetenzerweiterung im Rahmen der schulpraktischen Ausbildung. In H. Görlich & K. Klement (Hrsg.), Zusammenarbeit zwischen Übungsvolksschulen und Humanwissenschaften (S. 38–44). Linz Gutenberg.
[2] Seyfried, C. (2002). Subjektive Relevanz als Ausgangspunkt für reflexive Arbeit in der Schule. In K. Klement, A. Lobendanz & H. Teml (Hrsg.), Schulpraktische Studien (S. 39–52). Innsbruck: Studienverlag.
[3] Schlee, J. (2019). Kollegiale Beratung und Supervision für pädagogische Berufe. Hilfe zur Selbsthilfe. Stuttgart: Kohlhammer.
[4] Tietze, K.-O. (2020). Kollegiale Beratung. Problemlösungen gemeinsam entwickeln. Reinbek: Rowohlt.
[5] Döll, M. (2019). Sprachassimilativer Habitus in Bildungsforschung, Bildungspolitik und Bildungspraxis. ÖDaF Mitteilungen, 35(1+2), 191–206.
EWR 21 (2022), Nr. 4 (Oktober)
Kollegiale Fallberatung für Pädagogen und Pädagoginnen
Neue Wege der Onlineberatung
Bielefeld: transcript Verlag 2022
(206 S.; ISBN 978-3-8376-5771-5; 29,99 EUR)
Johannes Reitinger (Wien, St. Gallen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Johannes Reitinger: Rezension von: Seyfried, Clemens / Marschke, Britta: Kollegiale Fallberatung für Pädagoginnen und Pädagogen, Neue Wege der Onlineberatung. Bielefeld: transcript Verlag 2022. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383765771.html
Johannes Reitinger: Rezension von: Seyfried, Clemens / Marschke, Britta: Kollegiale Fallberatung für Pädagoginnen und Pädagogen, Neue Wege der Onlineberatung. Bielefeld: transcript Verlag 2022. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383765771.html