Bis heute werden nicht nur die politischen, sondern auch die akademischen Diskussionen ĂŒber Migration in weiten Teilen vom Begriff der Integration geleitet. Diesem Umstand liegt ein spezifisches VerstĂ€ndnis zugrunde, das im Kontext von Migration vorzuherrschen scheint: Gesellschaften, Menschen und Kulturen werden idealerweise als homogene Gebilde gedacht und es wird mehr oder weniger zwischen den Herkunftskulturen der Zugewanderten und der einheimischen Mehrheitskultur unterschieden.
Daher war die etablierte Migrationsforschung von Anfang an eine Fremdheits- und Integrationsforschung. Der Fokus lag nicht auf MobilitĂ€t oder transnationalen, transkulturellen PhĂ€nomenen, sondern auf den Integrationsleistungen, die von Zugewanderten verlangt wurden, um sich in die hiesige Gesellschaft einzufĂŒgen. Mit anderen Worten: Integration bedeutete, sich von defizitĂ€r wahrgenommenen Herkunftskulturen vollstĂ€ndig zu distanzieren, um lokale Ankommensprozesse zu organisieren. Die in den letzten Jahren etablierten Integrations- und Wertekurse weisen auf die ungebrochene KontinuitĂ€t dieser Haltung hin.
Hier setzt das Buch von Severin Frenzel an. Wie der Titel bereits signalisiert, versucht der Autor, das Denken ĂŒber Migration von der ĂŒblichen Polarisierung zu befreien und andere Perspektiven auf Migration und gesellschaftliche Integration aufzuzeigen. Im Mittelpunkt steht eine vergleichende Analyse von Integrationskursen in Deutschland und Belgien aus einer postmigrantischen Perspektive.
Gleich zu Beginn versucht der Autor einen Perspektivenwechsel vorzunehmen und favorisiert eine postmigrantische Lesart, die sich in den letzten Jahren vor allem im deutschsprachigen Raum entwickelt hat. Dabei möchte ich auf zwei Punkte hinweisen, die sich durch das gesamte Buch ziehen: Erstens geht der Autor von den verĂ€nderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aus, die einen anderen Blick auf die Gesellschaft als Ganzes erfordern (Migrationsforschung als Gesellschaftsanalyse). Und zweitens werden die interviewten TeilnehmerInnen von Integrationskursen in Deutschland und Belgien nicht als âintegrationsbedĂŒrftige Subjekteâ betrachtet, sondern als ExpertInnen ihrer eigenen Lebenspraxis.
Im ersten Kapitel werden unterschiedliche Perspektiven auf Migration und Integration diskutiert. Von der Konfrontation mit den hegemonialen Deutungsmustern ausgehend, versucht der Autor sich theoretisch zu positionieren. Er geht ausfĂŒhrlich auf die offiziellen Integrationskonzepte in Deutschland (Ruhrgebiet) und Belgien (BrĂŒssel) ein und arbeitet die wesentlichen Unterschiede heraus. Im Vergleich zur Integrationspolitik in Deutschland, die eine Anpassung an die âhiesige NormalitĂ€tâ fordert, erscheinen in der belgischen Integrationspolitik (Inburgeringstraject) die Prinzipien, die eine demokratische Gesellschaft ausmachen, nĂ€mlich Respekt, Gleichheit, Achtung vor Unterschieden, Migration als Ressource fĂŒr das Zusammenleben, Antidiskriminierung und BekĂ€mpfung von Rassismus sowie aktive BĂŒrgerschaft, als zentral. Im Vergleich zum deutschen Integrationskonzept, in dem permanent zwischen âMigrantenâ und âEinheimischenâ unterschieden wird, werden in BrĂŒssel alle Menschen als aktive BĂŒrgerInnen angesprochen.
Im zweiten Kapitel werden die grundlegenden theoretischen Perspektiven vorgestellt. In Kritik an den Kultur- und ModernitĂ€tsdifferenzhypothesen, die die Migrations- und Integrationsforschung bisher geprĂ€gt haben, versucht der Autor eine gesamtgesellschaftliche Perspektive zu formulieren und plĂ€diert zu Recht fĂŒr eine âpolykontextuelle Systeminklusionâ (91). Damit ist gemeint, dass es eine vollstĂ€ndige Integration in die Gesellschaft nicht geben kann, weil Menschen in diverse Teilsysteme (Bildung, Arbeitsmarkt, Recht etc.) mit unterschiedlichen Rollen eingebunden sind. Ausgehend von chancenreichen Biographien und orientiert an Ulrich Becks theoretischer Perspektive der reflexiven Modernisierung betont der Autor ausdrĂŒcklich die Relevanz einer âreflexiven PĂ€dagogikâ (S. 94). Dies bedeutet, dass wir in der globalisierten und durch Migration geprĂ€gten Gesellschaft eine PĂ€dagogik benötigen, die die gesellschaftlichen Transformationsprozesse ernst nimmt und reflexiv begleitet.
Nach der theoretischen Positionierung werden im dritten Kapitel die methodischen bzw. methodologischen Implikationen der Studie diskutiert. Dieses Kapitel fungiert als Scharnier zwischen dem theoretischen und dem empirischen Teil und verdeutlicht auch den Zusammenhang zwischen den beiden Bereichen. Die Studie basiert in erster Linie auf der Auswertung von qualitativ-narrativen Interviews mit IntegrationskursteilnehmerInnen in einer Ruhrgebietsstadt in Deutschland und einem Stadtteil von BrĂŒssel. FĂŒnf Themenkomplexe stehen im Mittelpunkt der Interviews, die auch die Grundlage der empirischen Analyse bilden: Herkunft und Biographie, Alltag, Ziele, Kursgeschehen und Integration.
Das vierte Kapitel beschĂ€ftigt sich dann mit der detaillierten Auswertung der Interviews und deren theoretischer Einbindung und Interpretation. Daher spielt dieses Kapitel eine wichtige Rolle fĂŒr das gesamte Buch. Aus erkenntnistheoretischer Sicht erscheinen mir die Perspektiven der interviewten Personen, die in diesem Teil ausfĂŒhrlich dargestellt und diskutiert werden, hoch interessant. Sie zeigen, wie die Menschen das Leben vor Ort wahrnehmen, die Ziele der Integrationskurse interpretieren, welche Strategien entwickelt werden und welche Zukunftsvisionen sich daraus ergeben. Das Augenmerk liegt auf nichterzĂ€hlten Geschichten, ignorierten Perspektiven, transkulturellen und translokalen Verflechtungen jenseits nationaler und ethnozentrischer Deutungsmuster.
Im fĂŒnften Kapitel werden acht Fallbeispiele vergleichend vorgestellt. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass die Aussagen der Befragten im deutschen Kontext das gesellschaftliche VerstĂ€ndnis von Integration als âPflicht zur Integrationâ und als âIntegrationsleistungâ treffend zum Ausdruck bringen. Integration wird nicht als Angebot, sondern als Pflicht verstanden. Es wird davon ausgegangen, dass die betroffenen Menschen Defizite hĂ€tten, die sie durch IntegrationsmaĂnahmen ausgleichen können. Im Gegensatz dazu wird in BrĂŒssel von den Lebenswirklichkeiten der zugewanderten Menschen ausgegangen. Sie werden nicht als defizitĂ€re, therapiebedĂŒrftige Personen wahrgenommen, sondern als âNeuankömmlingeâ in BrĂŒssel. Die Orte der Herkunft spielen keine Rolle. Alle seien an diesem Ort neu und das sei die gemeinsame Klammer.
Basierend auf den Ergebnissen der vergleichenden Analyse werden im letzten Kapitel unter der Ăberschrift âBildung fĂŒr die postmigrantische Gesellschaftâ grundlegende Perspektiven fĂŒr den Bildungskontext formuliert. Von mehrheimischen Lebenswelten auszugehen, wie es in Belgien der Fall ist, wĂŒrde ein anderes BildungsverstĂ€ndnis erfordern als die nationalzentrierte und homogenisierende Perspektive in Deutschland. Der Autor spricht von einem âtranstopischen Sprachlabor der postmigrantischen Gesellschaftâ (380), das nach kreativen und kĂŒnstlerischen neuen Wegen suche und kommt zu dem Schluss, dass die Gesellschaft eine âpostmigrantische Bildungâ braucht, eine reflexive PĂ€dagogik, die von (transnationalen) LebensrealitĂ€ten der Menschen ausgeht und neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet.
Die biographischen Fallrekonstruktionen zeigen in vielfĂ€ltiger Weise, dass die Befragten in familiĂ€re und andere persönliche Netzwerke eingebunden sind, sich in transnationalen Kontexten und RĂ€umen bewegen, mit unterschiedlichen Menschen und Orten in Kontakt kommen und daraus ihre eigenen LebensentwĂŒrfe formulieren. Ein weiterer Hauptverdienst des vorliegenden Buches ist es, das PhĂ€nomen Migration von den RĂ€ndern ins Zentrum zu rĂŒcken, mehrdeutige, transkulturelle und translokale Verstrickungen sichtbar zu machen, ohne hegemoniale VerhĂ€ltnisse und strukturelle Barrieren zu ĂŒbersehen â eine LektĂŒre, aus der theoretische, methodisch-methodologische und pĂ€dagogische Schlussfolgerungen gezogen werden, die eine kritisch-reflexive Forschung zu Migration und Bildung begrĂŒnden. Insgesamt lĂ€sst sich feststellen, dass die hier herausgearbeitete postmigrantische Perspektive mit eingeĂŒbten Deutungen bricht und den gewöhnlichen Blick auf Migration und Bildung in Frage stellt â ein Ansatz, der neue MöglichkeitsrĂ€ume und gesellschaftstheoretische Erkenntnisse fĂŒr pĂ€dagogisches Denken und Handeln generiert.
EWR 21 (2022), Nr. 2 (April)
Lebenswelten jenseits der Parallelgesellschaft
Postmigrantische Perspektiven auf Integrationskurse in Belgien und Deutschland
Bielefeld: transcript Verlag 2021
(415 S.; ISBN 978-3-8376-5727-2; 49,00 EUR)
Erol Yildiz (Innsbruck)
Zur Zitierweise der Rezension:
Erol Yildiz: Rezension von: Frenzel, Severin: Lebenswelten jenseits der Parallelgesellschaft, Postmigrantische Perspektiven auf Integrationskurse in Belgien und Deutschland. Bielefeld: transcript Verlag 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383765727.html
Erol Yildiz: Rezension von: Frenzel, Severin: Lebenswelten jenseits der Parallelgesellschaft, Postmigrantische Perspektiven auf Integrationskurse in Belgien und Deutschland. Bielefeld: transcript Verlag 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383765727.html