EWR 20 (2021), Nr. 5 (September/Oktober)

Lilli Riettiens
Doing Journeys
Transatlantische Reisen von Lateinamerika nach Europa schreiben, 1839–1910
Reihe Histoire
Bielefeld: Transcript Verlag 2021
(276 S.; ISBN 978-3-8376-5673-2; 44,00 EUR)
Doing Journeys In ihrem Buch mit dem Titel „Doing Journeys“ setzt sich Lilli Riettiens mit historischen spanischsprachigen Reiseberichten auseinander, die sich auf Schiffsreisen von Lateinamerika nach Europa beziehen und zwischen 1839 und 1910 veröffentlicht wurden. Dabei werden die analysierten transatlantischen Reisen bzw. Reiseberichte im Spannungsfeld von Körper, Raum und Zeit verortet, um insbesondere subjektivierende Momente aus den entsprechenden Textpassagen herauszuarbeiten. Gezeigt werden soll hierdurch, wie durch die Beschreibung von Körpern und Körperpraktiken sowie durch die Verbreitung spezifischer Vorstellungen von Raum und Zeit Reisen inszeniert, dabei Subjekte positioniert und Räume konstituiert wurden. Im Fokus stehen insbesondere solche Schilderungen, die Rückschlüsse auf spezifische historische Vorstellungen von (un)adäquater Männlichkeit und Weiblichkeit, auf nationale, supranationale oder auch regionale Identitäten und Zugehörigkeitsordnungen, auf soziale Schichtzugehörigkeiten und auf die entsprechenden In- und Exklusionspraktiken bzw. Zuschreibungen erlauben.

Das Buch ist in insgesamt fünf Kapitel gegliedert. Nach einer Einleitung, in der der Forschungsstand rekapituliert, leitende Thesen und Fragen sowie der Aufbau der Arbeit vorgestellt werden, folgt ein zweites Kapitel mit dem Titel „Expositionen“, das über die zentralen Analysekategorien (Körper, Raum und Zeit) informiert und das methodische Vorgehen – eine praxeologische Lektüre bzw. Analyse – expliziert. Das dritte Kapitel ist nicht nur das längste, sondern kann sicherlich auch deshalb als Hauptkapitel bezeichnet werden, da hier die Berichte über die Atlantiküberquerung auszugsweise präsentiert und analysiert werden. Gegliedert ist diese Analyse in die drei Reisephasen der Abfahrt, der Überfahrt und der Ankunft. Das vierte Kapitel, das gewissermaßen ein zweites Hauptkapitel darstellt, widmet sich explizit dem Schreiben und Lesen der Reiseberichte. Eine kurze „ausblickende Rückschau“ schließt das Buch unter Bezugnahme auf das titelgebende Konzept des „Doing Journeys“ ab.

Dem Unterkapitel „Expositionen“ lässt sich entnehmen, dass die Untersuchung der Reiseberichte zunächst vor allem durch ein Interesse an den Selbst- und Fremdverortungen kreolischer Reisender motiviert war, da diese in der Fachliteratur oft in einem „Dazwischen“ verortet würden und „aufgrund dieser Positionierung im Gegensatz zu anderen Bevölkerungsgruppen verstärkt (supra-)nationale Identitäten (auf Reisen) ausgehandelt hätten“ (56). Bei den Reisenden handelte es sich um „Nachkommen aus Europa stammender Eltern und Großeltern, die aber selbst in Lateinamerika geboren worden“ waren, „oder sie waren zwar in Europa geboren worden, allerdings Kinder von Lateinamerikaner_innen und in Lateinamerika aufgewachsen“ (ebd.). Hintergrund der Untersuchung ist demnach das Ende der Kolonialzeit in Lateinamerika und die dortige Gründung und Bildung von Nationalstaaten, durch die neue nationale Zugehörigkeitsordnungen und Identifikationsmöglichkeiten für die ethnisch insgesamt sehr heterogenen (und in nicht unbedeutendem Maße zugewanderten) lateinamerikanischen Bevölkerungen entstanden. Gesucht wurde daher nach Reiseberichten aus der Zeit ab 1820 mit autobiografischen Bezügen, auch weil diese „erst einige Jahre bzw. Jahrzehnte nach der Erlangung der Unabhängigkeit populär“ (ebd.) wurden. Der Untersuchungszeitraum endet vor dem Ersten Weltkrieg, der auch in Lateinamerika eine Zäsur darstellte. Gefunden und für die Untersuchung geeignet erschienen dann 14 Reiseberichte, die zwischen 1839 und 1910 veröffentlicht wurden.

Die Untersuchungsperspektive ist also insofern äußerst interessant, als dass hier Berichte über Reisen von Lateinamerika nach Europa untersucht werden, die von Menschen verfasst wurden, die sich selbst als Kreolen (also als Amerikaner mit europäischem Migrationshintergrund) verstanden, und sich mit Amerika und Europa sowohl identifizierten als auch distanzierten. Ging die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Länder bei vielen Kreolen etwa mit einer politischen Identifikation mit Amerika und einer Abgrenzung von Europa einher, so identifizierten sich viele kulturell dennoch weiterhin mit Europa und nicht mit Amerika. Über diese supranationale Ebene hinaus spielten die unterschiedlichen nationalen, regionalen oder lokalen Zugehörigkeiten sowohl in Bezug auf den europäischen als auch den lateinamerikanischen Kontext eine wichtige Rolle.

Interessant ist diese Untersuchungsperspektive, weil Riettiens der Frage nachgeht, was mit diesen in sich (bzw. vor der Atlantikreise) schon paradoxen, vielschichtigen und vieldeutigen Identifikationsmustern bzw. Zugehörigkeitszuschreibungen durch die und auf der Reise von Lateinamerika nach Europa passierte. Wie beschrieben und verorteten sich die Autoren selbst, wie die anderen Reisenden? Und wie veränderten sich diese Zu- und Einordnungen während der Fahrt?

Um die Reiseberichte zu interpretieren, nimmt Riettiens vor allem die dort beschriebenen Praktiken in den Blick, da diese Rückschlüsse auf mit ihnen verbundene soziale und kulturelle Bedeutungen und Ordnungen zulassen. Hierbei ist die Annahme leitend, dass bestimmte Praktiken einerseits für spezifische soziale Gruppen charakteristisch waren – etwa eine ganz bestimmte Art der Verabschiedung der Frauen aus der argentinischen Oberschicht, wie das Winken mit einem Taschentuch –, und dass sich die Mitglieder dieser spezifischen Gruppen andererseits gerade durch die Ausführung und Wiederholung dieser Praktiken als je besondere Gruppen konstituierten. Analysiert wurden etwa Berichte darüber, wer wie und wo das Essen zu sich nahm, und wie die Menschen an Bord ganz allgemein die Zeit verbrachten. Als subjektivierend gelten diese mit kollektiven Bedeutungen aufgeladenen Praktiken insofern, als sie es allererst ermöglichen, dass sich die Praktizierenden als spezifische Subjekte identifizierten, beispielsweise eben als argentinische Frauen aus der dortigen Oberschicht.

Durch diese Fokussierung auf Praktiken wird es möglich, die Reiseberichte in Hinblick auf soziale und kulturelle Grenzziehungen, auf Prozesse der Ex- und Inklusion sowie der Konstruktion, Imagination, Inszenierung, aber auch Hierarchisierung und Bewertung verschiedener Gruppen zu durchleuchten. Dies gelingt insofern gut, als dass Riettiens zahlreiche dieser sozial bedeutsamen Praktiken identifiziert und den „Lesenden“ (161) die entsprechenden Textstellen präsentiert. Jedoch zeigt sich gerade an den Überlegungen und Kommentaren zu diesen Praktiken auch, wie schwer es ist, klare Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen der Untersuchung zu ziehen.

Was macht man etwa mit der Feststellung, dass in einem der untersuchten Reiseberichte erwähnt wird, dass unter den Passagieren der ersten Klasse Familien aus den Städten Buenos Aires, Rosario und Montevideo waren, und der Autor in Bezug auf diese Gruppe von einer argentinischen Kolonie auf Reisen spricht, zu der laut seiner Schilderung auch in Argentinien lebende Spanier gezählt wurden, da sie auf dem Schiff als Amerikaner, und eben nicht als Europäer, galten (100). Derartige Praktiken der Zuordnung verweisen zwar fraglos auf damit verbundene (historische) Prozesse der Konstruktion von (Un-)Zugehörigkeit, lassen sich jedoch aus der eingenommenen praxeologischen Perspektive vor allem nachzeichnen, kaum aber (sinnvoll) bewerten oder hinsichtlich normativer Kriterien diskutieren. So bleibt es letztlich weitgehend unklar, was es (insbesondere auch für die Gegenwart) zu bedeuten hat, wenn beispielsweise in den Reiseberichten gebürtige Europäer als Amerikaner (oder umgekehrt) bezeichnet werden.

Ganz ähnliche Schwierigkeiten der Deutung ergeben sich auch in Bezug auf eine Stelle aus einem Reisebericht, in der von Engländern berichtet wird, die mit den Argentiniern zusammen den 100. Geburtstag des ersten argentinischen Präsidenten Rivadavia feiern und voller Begeisterung deren Nationalhymne einstudieren und mitsingen. Wird hier das „Reinheitsgebot der Nation“ herausgefordert und am „nationalen Wir“ gekratzt, wie Riettiens zunächst vermutet, oder gar – auch ein sehr interessanter Gedanke – singend ein „transatlantisches Wir“ hervorgebracht (103ff.)?

Insgesamt macht das Werk deutlich, wie interessant es ist, Menschen auf Reisen dabei zu beobachten, wie sie versuchen, sich und die anderen Reisenden einzuordnen, und wie hierbei gängige Zuordnungsmuster mitunter irritiert und neue soziale Verbindungen konstruiert werden. Wie vieldeutig und komplex derartige Prozesse sind, konnte gerade durch die Fokussierung auf den lateinamerikanischen Kontext gezeigt werden, da vor dem Hintergrund von Kolonialismus und europäischer Masseneinwanderung eindeutige Zuordnungen geradezu unmöglich wurden, wie übrigens auch die entsprechenden Identitätsdiskurse bis in die Gegenwart hinein zeigen.

Sehr oberflächlich bleiben in dem Buch lediglich die Bezüge zur Erziehungswissenschaft, weshalb man sich durchaus auch fragen sollte, welche pädagogische Bedeutung den Ergebnissen der Studie beizumessen sind. Anschlusspunkte gibt es hierfür aber fraglos so viele, dass dieser Punkt vielleicht gerade deshalb nicht weiterverfolgt wurde. Über die reine Beobachtung von Subjektivierungspraktiken hinaus wäre es etwa interessant zu fragen, inwieweit die analysierten Reisen mit Bildungsprozessen in Zusammenhang zu bringen sind und ob hier letztlich nicht auch spezifische Formen der Bildungsreise thematisiert wurden. [1]
Festhalten kann man nach der Lektüre aber bereits, dass Reisen viele Möglichkeiten eröffnen, um sich über eigene und andere Zugehörigkeiten Gedanken zu machen; vielleicht verändern einen ja allein schon diese Überlegungen im positiven Sinne, auch wenn sie keine eindeutigen oder gänzlich neuen Schlüsse zulassen, keine neuen Selbst- und Weltverhältnisse initiieren, und in diesem Sinne dann eben auch nicht bilden. Da auch die Auseinandersetzung mit den (historischen) Reiseerfahrungen anderer zur Horizonterweiterung beitragen mag, kann die Lektüre von Riettiens Buch – gerade auch im Sinne eines lesenden Doing Journeys – nur empfohlen werden.

[1] Vgl. hierzu auch Phillip D. Th. Knobloch/Johannes Drerup/Dilek Dipcin (Hg.): On the Beaten Track. Zur Theorie der Bildungsreise im Zeitalter des Massentourismus, Berlin: J.B. Metzler 2021.
Phillip D. Th. Knobloch (Dortmund & Eichstätt-Ingolstadt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Phillip D. Th. Knobloch: Rezension von: Riettiens, Lilli: Doing Journeys, Transatlantische Reisen von Lateinamerika nach Europa schreiben, 1839–1910 Reihe Histoire. Bielefeld: Transcript Verlag 2021. In: EWR 20 (2021), Nr. 5 (Veröffentlicht am 25.10.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383765673.html