EWR 22 (2023), Nr. 1 (Januar)

Katrin M. KĂ€mpf
PĂ€dophilie
Eine Diskursgeschichte
Bielefeld: transcript 2021
(318 S.; ISBN 978-3-8376-5577-3; 39,00 EUR)
PĂ€dophilie Nur wenige Themen vermögen es, derart emotionale Reaktionen und erregte öffentliche Debatten hervorzurufen, wie der sexuelle Missbrauch von Kindern. Auch die Historische Erziehungswissenschaft setzt sich seit einigen Jahren vermehrt mit dieser Problematik auseinander. Das Gros der Studien beschrĂ€nkt sich indes auf die ‚langen‘ 1970er Jahre, die fĂŒr die BRD eine ZĂ€sur darstellen [1]. Daneben liegen Studien zu einzelnen Personen oder Einrichtungen vor, die im Rahmen der intensivierten „Aufarbeitung“ entsprechender VorfĂ€lle entstanden sind [2]. Allerdings fehlt es bislang an Überblicksdarstellungen. Die zu besprechende Arbeit von Katrin KĂ€mpf, die auf einer kulturwissenschaftlichen Dissertation an der HU Berlin basiert, versucht diese LĂŒcke zu schließen.

Theoretisch-methodisch eng angelehnt an Michel Foucault und die Diskursanalyse verfolgt sie das Konzept der PĂ€dophilie von dessen Entstehung im deutschsprachigen Raum gegen Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. In der konzisen Einleitung stellt KĂ€mpf die These auf, dass von den diversen pathologischen Gestalten, die den modernen SexualitĂ€tsdiskurs einst bevölkerten, allein die des PĂ€dophilen ĂŒbrig geblieben sei, quasi als der letzte Perverse. Ausgehend von dieser Überlegung macht KĂ€mpf ihren genealogischen Standpunkt klar und fragt, wie aus einem anfangs selten verwendeten psychiatrisch-sexualwissenschaftlichen Konzept eine zentrale Gefahrenfigur fĂŒr die heutige Gesellschaft werden konnte.

Kapitel zwei stellt den Hauptteil der Arbeit dar. Chronologisch gegliedert werden signifikante Ereignisse und VerĂ€nderungen des Diskurses analysiert, gleichwohl ohne Anspruch, ihn in toto abbilden zu wollen. Stattdessen werden in drei lĂ€ngeren Unterkapiteln die Epoche um 1900, der Nationalsozialismus und schließlich die beiden deutschen Nachkriegsstaaten betrachtet.

Im Kontext des sich ausdifferenzierenden SexualitĂ€tsdiskurses sowie von Bestrebungen zur Vereinheitlichung des Strafrechts begann man sich bereits in der ersten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts verstĂ€rkt mit sogenannten Sittlichkeitsverbrechen an Kindern zu befassen. Vor dem Hintergrund der VerknĂŒpfung devianter SexualitĂ€t mit psychischen Pathologien erfuhr gegen Ende des Jahrhunderts die Persönlichkeit des/der TĂ€ter:in wachsendes Interesse. Der bekannte Psychiater Richard von Krafft-Ebing war es, der 1896 mit dem Konzept der „PĂ€dophilia Erotica“ die Grundlagen fĂŒr ein neuartiges – und in GrundzĂŒgen bis heute fortbestehendes – VerstĂ€ndnis der PĂ€dophilie als sexueller „Sondernatur“ schuf, wodurch sie etwa unterschieden wurde von der „Notzucht“ an MinderjĂ€hrigen. Gleichwohl weist KĂ€mpf darauf hin, dass die zeitgenössische Rezeption verhalten ausfiel. Zwar befasste sich die Sexualwissenschaft eingehend mit dem Konzept, stand ihm meistens jedoch skeptisch gegenĂŒber.

Ungeachtet dessen nahm das Interesse an der Thematik zu und der Begriff der PĂ€dophilie fand in loser Bedeutung Gebrauch. Mit Verweis auf Freud und die Psychoanalyse weist KĂ€mpf ferner darauf hin, dass PĂ€dophilie eng mit der Vorstellung bĂŒrgerlich-mĂ€nnlicher Triebkontrolle verbunden war. GefĂ€hrlich erschienen mithin Personengruppen, die hierzu nicht fĂ€hig seien, wie die ‚Unterschichten‘. Obschon große Schnittmengen zum Kinderschutz-Diskurs existierten, galt das Hauptaugenmerk keineswegs den minderjĂ€hrigen Opfern. Die Sorge habe vielmehr dem Schutz der allgemeinen Sittlichkeit gegolten. Dies fĂŒhrte bisweilen dazu, den Betroffenen vor Gericht eine Mitschuld zu attestieren, etwa aufgrund ihres angeblich unmoralischen Lebenswandels.

Im zweiten Unterkapitel werden die Vorstellungen von und der Umgang mit PĂ€dophilie im Nationalsozialismus betrachtet, wozu kaum Studien vorliegen.[3] Laut KĂ€mpf schloss der NS partiell an Diskurse der Weimarer Republik an, die sich im Kampf gegen sogenannte KinderschĂ€nder zunehmend auf die Eugenik beriefen. Neu sei hingegen die Einbettung in die NS-Rassenpolitik gewesen. Nicht mehr der Schutz der Sittlichkeit, sondern der des Volkskörpers habe fortan oberste PrioritĂ€t genossen. Damit einher sei eine Radikalisierung in der Verfolgung vermeintlich PĂ€dophiler gegangen, was neben Zwangskastration und KZ-Haft insbesondere bei Verdacht auf HomosexualitĂ€t sogar ihre Ermordung bedeuten konnte. Dem wird exemplarisch an Hand mehrerer Opferbiographien nachgegangen. Ein weiteres Spezifikum habe der omniprĂ€sente Antisemitismus dargestellt. Den Topos einer jĂŒdischen Sexualdelinquenz, gerade in Bezug auf Kinder bzw. MĂ€dchen, erörtert KĂ€mpf mittels ausgewĂ€hlter Artikel des „StĂŒrmers“.

Positiv hervorzuheben ist die vergleichende Perspektive auf DDR und BRD im dritten Unterkapitel, wenngleich das Hauptgewicht auf letzterer liegt. In der DDR habe PĂ€dophilie vornehmlich der Abgrenzung von einem moralisch verkommenen, kapitalistischen Westen gedient. Um so mehr sei man in ErklĂ€rungsnot geraten, wenn es trotz anderer gesellschaftlicher VerhĂ€ltnisse zu Sexualverbrechen an Kindern kam. Umfangreicher fĂ€llt wie erwĂ€hnt die Analyse zur BRD aus, die argumentativ in den bestehenden Bahnen der Forschung verbleibt. So wird der PĂ€dophilie-Diskurs im Kontext rechtlicher und gesellschaftspolitischer Debatten ĂŒber eine Reform des Sexualstrafrechts sowie im Wandel der neuformierten Sexualwissenschaft verortet. Im Anschluss an Dagmar Herzog wird die Bedeutung der SexualitĂ€t fĂŒr die „Aufarbeitung“ der NS-Vergangenheit betont und das freudomarxistische Vorhaben der „Befreiung“ kindlicher SexualitĂ€t durch die Neue Linke einer kritischen Revision unterzogen. In der „Sexuellen Revolution“ sieht KĂ€mpf denn auch den entscheidenden Unterschied zur DDR, die keine derartige ZĂ€sur aufweise. Dasselbe gilt fĂŒr die kurzwĂ€hrende Existenz einer PĂ€dophilenbewegung. Dies habe in den 1970er Jahren unter anderem dazu gefĂŒhrt, dass sich die westdeutsche Sexualwissenschaft dazu gedrĂ€ngt sah, die SchĂ€dlichkeit der PĂ€dophilie fĂŒr Kinder und Jugendliche nachzuweisen. Ein jĂ€hes Ende setzte dem die breite Thematisierung sexueller Gewalt und speziell von Missbrauch in der Familie, die durch die Zweite Frauenbewegung Ende der 1970er Jahre forciert wurde. Erst infolge dessen seien nunmehr die Betroffenen in den Fokus gerĂŒckt.

Das dritte und letzte Kapitel schließt mit einem pointierten ResĂŒmee samt Ausblick. An Hand eines Dokumentarfilms zum PrĂ€ventionsprojekt „Kein TĂ€ter werden“ wird der derzeitige Wandel im VerstĂ€ndnis von PĂ€dophilie diskutiert. Diese werde implizit als sexuelle Orientierung aufgefasst, mit der die Betroffenen lernen mĂŒssten, sozial angemessen umzugehen. Das bedeute sowohl eine RĂŒckkehr zum Modell der Triebkontrolle als auch einen Anschluss an gegenwĂ€rtige Formen des Selbstmanagements. Mit Bezug auf die Science and Technology-Studies betont KĂ€mpf ĂŒberdies die wachsende Bedeutung technischer Diagnoseverfahren, die, beispielsweise durch die Messung der GehirnaktivitĂ€t, behaupten, Auskunft ĂŒber die verborgene sexuelle IdentitĂ€t geben zu können. Dergestalt treibe die Figur des PĂ€dophilen die Entfaltung einer „Technosecurity“-Kultur mit voran, die Risiken zu kontrollieren versucht, indem sie bestimmte gesellschaftliche Gruppen zu potenziellen GefĂ€hrdern erklĂ€rt.

Katrin KĂ€mpf hat eine ĂŒberzeugende, klar strukturierte und mit Gewinn zu lesende Untersuchung des PĂ€dophilie-Diskurses vorgelegt. FĂŒr Überblicksdarstellungen wohl unvermeidlich, finden sich dennoch Punkte, die zu kurz kommen. Aus historiographischer Perspektive fĂ€llt auf, dass die Quellengrundlage bisweilen schmal ist und der gesellschaftliche Kontext oft bloß skizziert wird. FĂŒr zukĂŒnftige Studien scheint es ratsam, den Diskurs breiter historisch einzubetten und systematischer zu fragen, was sich durch die BeschĂ€ftigung mit PĂ€dophilie Neues ĂŒber die deutsche Gesellschaft erfahren lĂ€sst. Ferner weist die Arbeit einen primĂ€r wissenschaftsgeschichtlichen Zugang auf. Das erleichtert zwar die Betrachtung des Diskurses in der longe duree, aber um den Preis, seine Diffusion in verschiedene Bereiche und in die soziale Praxis zu vernachlĂ€ssigen. Gerade aus historisch-erziehungswissenschaftlicher Perspektive wĂ€re es wĂŒnschenswert, das pĂ€dagogische Feld genauer in den Blick zu nehmen sowie die NĂ€he zur Geschichte von Kindheit und Jugend zu suchen.

[1] Vgl. Baader, M. S, Jansen, C., König, J., Sager, C. (Hrsg.) (2017). Tabubruch und Entgrenzung. Kindheit und SexualitĂ€t nach 1968. Böhlau Verlag; Beljan, M. (2014). Rosa Zeiten? Eine Geschichte der Subjektivierung mĂ€nnlicher HomosexualitĂ€t in den 1970er und 1980er Jahren der BRD. transcript Verlag; Elberfeld, J. (2015). Von der Sünde zur Selbstbestimmung. Zum Diskurs ‚kindlicher SexualitĂ€t‘ (Bundesrepublik Deutschland 1960-1990). In BĂ€nziger, P., Beljan, M., Eder, F. X., Eitler, P. (Hrsg.). Sexuelle Revolution? Zur Geschichte der SexualitĂ€t im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren (S. 247–283) transcript Verlag; Friedrichs, J. (2018). „Freie ZĂ€rtlichkeit für Kinder“. Gewalt, Fürsorgeerziehung und PĂ€dophiliedebatte in der Bundesrepublik der 1970er Jahre. Geschichte und Gesellschaft 44, 554–585. Mildenberger, F. (2006). Beispiel Peter Schult. PĂ€dophilie im öffentlichen Diskurs. MĂ€nnerschwarm; Walter, F., Klecha, S., Hensel, A. (Hrsg.) (2015). Die Grünen und die PĂ€dosexualitĂ€t. Eine bundesdeutsche Geschichte. Vandenhoeck & Ruprecht.
[2] Aktuell beispielsweise zu Helmut Kentler. Vgl. Baader, M. S., Oppermann, C., Schröder, J., Schröer, W. (2020). Ergebnisbericht „Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe“. UniversitĂ€tsverlag Hildesheim; Institut für Demokratieforschung Georg-August-UniversitĂ€t Göttingen (2016). Abschlussbericht zu dem Forschungsprojekt: Die Unterstützung pĂ€dosexueller bzw. pĂ€derastischer Interessen durch die Berliner Senatsverwaltung. Am Beispiel eines „Experiments“ von Helmut Kentler und der „Adressenliste zur schwulen, lesbischen & pĂ€dophilen Emanzipation“. Studie im Auftrag der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft. Göttinger Institut für Demokratieforschung; Nentwig, T. (2019). Bericht zum Forschungsprojekt: Helmut Kentler und die UniversitĂ€t Hannover. Leibniz UniversitĂ€t Hannover.
[3] Als Ausnahme vgl. Lieske, D. (2018). PĂ€dophilie und sexueller Kindesmissbrauch im Nationalsozialismus. Zur Forschung im Aktenbestand des Landgerichts Berlin 1933-1945. Zeitschrift für PĂ€dagogik. Beiheft 64, 18–27.
Jens Elberfeld (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jens Elberfeld: Rezension von: KĂ€mpf, Katrin M.: PĂ€dophilie, Eine Diskursgeschichte. Bielefeld: transcript 2021. In: EWR 22 (2023), Nr. 1 (Veröffentlicht am 26.01.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383765577.html