Studierende und Studieninteressierte mit Fluchterfahrungen sind beim Zugang zum jeweiligen Hochschulsystem des Aufnahmelandes hĂ€ufig mit hohen HĂŒrden konfrontiert â dies zeigt die internationale Forschung ĂŒber die Hochschulbildung GeflĂŒchteter [1]. Mit ihrer Arbeit âGeflĂŒchtete im deutschen Hochschulsystemâ legt Caroline Struchholz eine von wenigen Studien vor, die sich den Studienerfahrungen von GeflĂŒchteten in Deutschland mittels eines qualitativ-rekonstruktiven Ansatzes widmen. Struchholz fragt danach, âwie Menschen mit Fluchthintergrund den Einstieg in das deutsche Bildungssystem am Beispiel des Hochschulzugangs erleben und verarbeiten, wodurch ihr Erleben beeinflusst wird und welcher Bedarf sich daraus konkret fĂŒr GeflĂŒchtete ergibtâ (8).
Im ersten Teil ihrer Studie (11ff.) widmet sich Struchholz mit âMigrationâ, âBildungâ und âBiographieâ zentralen theoriebasierten Konzepten ihrer Arbeit, die sie in Anschluss an Strauss und Corbin als zentrale, ihre Forschungsarbeit âsensibilisierende Konzepteâ (11) herausarbeitet. Es folgen AusfĂŒhrungen zum â[f]orschungsmethodische[n] Designâ (61), welches Struchholz nach der Methodologie der Grounded Theory an der Schnittstelle von erziehungswissenschaftlicher âBiographie- und Migrationsforschung im Kontext von Fluchtmigrationâ (62) entfaltet. Als Ergebnis ihrer Forschung arbeitet sie anschlieĂend die Kategorie des âBildungserleben[s]â (101) heraus. Das âBildungserlebenâ stellt das zentrale Konstrukt dar, welches die Autorin auf die sensibilisierenden Konzepte âMigrationâ, âBildungâ und âBiographieâ bezieht (119ff.). Die Arbeit schlieĂt mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse (203ff.), aus denen Struchholz weiteren Forschungsbedarf (206ff.) sowie hochschulpolitische und - didaktische AnknĂŒpfungspunkte (212ff.) ableitet.
Die Daten ihrer Studie erhebt Struchholz durch 17 teilnarrative Interviews (82ff.), die sie mittels einer Kombination aus Narrationsanalyse und Techniken der Grounded Theory auswertet (91ff.). Besonders interessant erscheint dabei die methodische Auseinandersetzung mit der Narrationsanalyse nach SchĂŒtze: Struchholz problematisiert ĂŒberzeugend die Eignung verbaler Daten von Proband*innen, die sich noch im Prozess der Aneignung der Interviewsprache Deutsch befinden (64; 74). Sie bezieht sich dabei nicht nur auf die Bedeutung des Repertoires an Ausdrucksmöglichkeiten in der Interviewsprache, sondern auch auf die âDifferenzâ (77) zwischen der Interviewerin, die sich als âdeutsche Muttersprachlerinâ (ebd.) beschreibt und den Interviewten, die sie als âBefragte mit nicht-muttersprachlichen Deutschkenntnissenâ (ebd.) konstruiert.
Das Sample der Studie konstruiert Struchholz nach dem Prinzip des theoretical sampling und verweist in diesem Zusammenhang auf die Möglichkeit, Variationen und Kontraste im Erfahrungsraum der Interviewten berĂŒcksichtigen zu können (86). In der Darstellung des Samples fĂ€llt auf, dass auch Personen an der Studie teilnehmen, die sich bereits seit ĂŒber 20 Jahren in Deutschland befinden, selbst aber erst ein Alter von Anfang oder Mitte 20 haben. Es bleibt an dieser Stelle offen, warum und von wem die interviewten Studierenden als âgeflĂŒchtetâ kategorisiert werden und in welchem VerhĂ€ltnis die Interviewten zu ihrem âHerkunftslandâ (88) stehen.
In der Ergebnisdarstellung arbeitet Struchholz zunĂ€chst die zentrale Kategorie des âBildungserlebensâ heraus, welche sie als âBegriffâ versteht, âder sowohl mit einem starken Antrieb und gleichzeitig hohen Erwartungen an das Bildungssystem, als auch an das eigene SelbstverstĂ€ndnis verbunden istâ (102). Sie rekonstruiert damit aus der subjektiven Perspektive der Befragten das ambivalente VerhĂ€ltnis zwischen der eigenen biographischen Selbstkonstruktion und migrationsgesellschaftlichen Bedingungen und Platzierungen, die mit sozialer bzw. struktureller Diskriminierung und der Entwertung von Erfahrungen und Kompetenzen einhergehen können. Dies wird beispielsweise deutlich, wenn Struchholz den Nachweis von Deutschkenntnissen auf dem Niveau C1 gemÀà des Gemeinsamen EuropĂ€ischen Referenzrahmens fĂŒr Sprachen als bedeutende HĂŒrde fĂŒr die Aufnahme eines Studiums in Deutschland identifiziert. Interessant an der Betrachtung dieses (bereits bekannten) Ergebnisses aus der Perspektive von als âgeflĂŒchtetâ kategorisierten Studierenden oder Studieninteressierten selbst ist, dass die Erlangung dieses Zertifikats von den Befragten nicht als Teil ihrer Hochschulbildung prĂ€sentiert wird, sondern als Teil des Weges zum Hochschulzugang. Hier wird das Zusammenspiel von strukturellen Anforderungen des Bildungssystems und subjektiven Handlungsstrategien innerhalb dieser VerhĂ€ltnisse, so wie Struchholz es als âBildungserlebenâ theoretisiert, besonders deutlich.
Es verwundert deshalb, dass die Autorin selbst feststellt, dass die Interviewten âohne Kenntnis der deutschen Sprache nach Deutschland gekommen [sind] und [âŠ] bei ihrer Ankunft in der Regel lediglich ĂŒber die Muttersprache und ggf. mittlere bis gute Englischkenntnisseâ (131) verfĂŒgten. Das VerstĂ€ndnis des Begriffs der sogenannten âMutterspracheâ bleibt dabei ĂŒber die gesamte Arbeit hinweg unklar und folgt einer dichotomen Darstellung von âMutterspracheâ einerseits und âfremdsprachlichen Kenntnisse[n]â (64) andererseits. Auch das VerstĂ€ndnis hinter dem ebenfalls durchgĂ€ngig verwendeten Begriff des âSpracherwerbsâ bleibt unklar. Die dichotomisierende Darstellung der Erfahrungen der Interviewten setzt sich fort, wenn die Autorin vom âHeimatlandâ (z.B. 135) und âAufnahmelandâ (z.B. 171) der Befragten spricht. Hier hĂ€tte ein RĂŒckbezug auf die âsensibilisierenden Konzepteâ der âtheoretische[n] AnnĂ€herungâ (11ff.) womöglich eine differenzierte Betrachtung ermöglicht: So arbeitet Struchholz auf theoretischer Ebene beispielsweise schlĂŒssig Kompetenzen und soziales Kapital geflĂŒchteter Personen heraus (60) und thematisiert transnationale Perspektiven auf Migrationsprozesse (53).
Zusammenfassend betrachtet leistet die Studie einen Beitrag zur Rekonstruktion der Ambivalenzen des Hochschulzugangs GeflĂŒchteter, indem sie einerseits strukturelle HĂŒrden und andererseits Handlungsstrategien im Umgang mit diesen nachzeichnet. Die praxisbezogenen AnknĂŒpfungspunkte, welche Struchholz aus den Ergebnissen ableitet, werden durch den Bezug auf die subjektiven Perspektiven der Befragten untermauert: So erscheinen die Rolle von Beratungsangeboten, die den Weg in das deutsche Hochschulsystem maĂgeblich unterstĂŒtzen können (213) und die Gestaltung von Deutschkursen, die â so das Ergebnis der Studie â eine enge VerknĂŒpfung mit wissenschaftssprachlichen Anforderungen und deren Fachspezifika herstellen sollten (214) als besonders bedeutsam.
Empfohlen sei die Arbeit insbesondere qualitativ Forschenden, die sich methodisch mit der Rolle von sprachlichen Hierarchien bei der Erhebung verbaler Daten befassen und all jenen, die Teilhabe und DiversitÀt im deutschen Hochschulsystem auf institutioneller und didaktischer Ebene weiter entwickeln möchten.
[1] Lambert, L. / von Blumenthal, J. / Beigang, S.: Flucht und Bildung: Hochschulen. State-of-Research Papier 8b, Verbundprojekt âFlucht: Forschung und Transferâ, OsnabrĂŒck: Institut fĂŒr Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der UniversitĂ€t OsnabrĂŒck / Bonn: Internationales Konversionszentrum Bonn (BICC), April 2018 [online verfĂŒgbar unter https://flucht-forschung-transfer.de/wp-content/uploads/2018/04/SoR-08-HS-04-2018.pdf; [Abrufdatum: 13.07.2021]
EWR 20 (2021), Nr. 5 (September/Oktober)
GeflĂŒchtete im deutschen Hochschulsystem
Eine Grounded-Theory-Studie zum Bildungserleben Studierender mit Fluchthintergrund
Bielefeld: Transcript Verlag 2021
(245 S.; ISBN 978-3-8376-5549-0; 45,00 EUR)
Friederike Dobutowitsch (LĂŒneburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Friederike Dobutowitsch: Rezension von: Struchholz, Caroline: GeflĂŒchtete im deutschen Hochschulsystem, Eine Grounded-Theory-Studie zum Bildungserleben Studierender mit Fluchthintergrund. Bielefeld: Transcript Verlag 2021. In: EWR 20 (2021), Nr. 5 (Veröffentlicht am 25.10.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383765549.html
Friederike Dobutowitsch: Rezension von: Struchholz, Caroline: GeflĂŒchtete im deutschen Hochschulsystem, Eine Grounded-Theory-Studie zum Bildungserleben Studierender mit Fluchthintergrund. Bielefeld: Transcript Verlag 2021. In: EWR 20 (2021), Nr. 5 (Veröffentlicht am 25.10.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383765549.html