Wie stellt sich über die Körperlichkeit von Schüler*innen im Unterricht Gleichheit her? Welche Gleichheitsvorstellungen werden dabei aufgerufen? Wie (re)agieren Schüler* innen auf den Prozess der Herstellung dieser Gleichheitsvorstellungen, wie widerstehen sie ihm? Welche Art von Abweichung wird innerhalb dieser Praktiken seitens der beteiligten Akteur*innen zugelassen und welche können im Rahmen der spezifischen Unterrichtssituation akzeptiert werden? Mit diesen komplexen Fragen beschäftigt sich Valerie Riepe in ihrer ethnografisch angelegten Dissertation, deren Ziel es ist, auf Basis eines kulturwissenschaftlich performativen Verständnisses des schulpädagogischen Feldes Praktiken grundschul-spezifischer Gleichheiten unter Schüler*innen zu untersuchen. Besonderes Augenmerk liegt auf stillschweigend vorausgesetzten Gleichheiten und ihrer kulturell konstruierten, machtvollen Gestalten.
Die Dissertation ist in einen theoretischen und empirischen Teil gegliedert. In Kapitel 1 erfolgt eine Heranführung an die Studie. Kapitel 2 geht auf den Bezugsrahmen der Institution Schule als Ort der Homogenisierung und das machtvolle Geflecht von Subjektivierung/Subjektivation, Subjektpositionen und Homogenität ein. Dabei nimmt Riepe auf renommierte Autor*innen Bezug.
In Kapitel 2.1 werden mit Michel Foucault und seiner These der Macht als praktisches Prinzip Gedanken zur historischen Herleitung von Prozessen von Normierungen und Homogenisierung der Körper als Ausgangspunkt für Differenzierung dargelegt, mit Judith Butler und deren Konzepten von Handlungsfähigkeit und Körperlichkeit mögliche Spielräume und Grenzen der machtvollen Gleichheits-Formationen erörtert. Über die Zugänge der Pädagogik des Performativen und der praxistheoretischen Erziehungswissenschaft wird der Bezugspunkt Körper und seine erziehungswissenschaftlich geprägte Bedeutung für das Forschungsvorhaben erhellt. Nach diesen differenzierten Ausführungen folgt rekurrierend auf die aktuelle Schulforschung mit Cornelie Dietrich eine detaillierte Erläuterung der erziehungswissenschaftlichen Dimensionen von Homogenität. Dabei werden Spezifika in Bezug auf die Institution Schule herausgearbeitet. Zudem wird Bourdieus Begriff der „illusio“ umrissen und für die Arbeit nutzbar gemacht. Es folgt eine Konklusion, mit der auf die Begriffserklärungen „doing sameness“ und „doing equality“ übergeleitet wird. Nach einer kritischen Auseinandersetzung mit dem machtvollen Gefüge der Illusion von Gleichheit im pädagogischen Feld Schule wird ausgehend von Foucaults und Butlers Widerstandsbegriff komplettierend auf Praktiken des Widerstandes Bezug genommen.
Mit dem Ziel Bewegungsfigurationen in den Mittelpunkt zu stellen und Momente der Verkörperung und ihre Ästhetik zugänglich zu machen, schafft die Autorin unter Bezugnahme auf Andrew Hewitts Konzept der Social Choreographie einen neuartigen Forschungszugang, den sie in Kapitel 2.2 ausführlich beschreibt.
In Kapitel 3 wird die methodologische und methodische Herangehensweise der Studie erläutert. Ausgehend von allgemeinen Überlegungen zur Ethnografie folgt im Kapitel 3.1 eine differenzierte Skizzierung des soziologisch geprägten Forschungsansatzes der Fokussierten Ethnographie. Dieser Forschungsansatz liegt der Studie zugrunde und zeichnet sich dadurch aus, dass er im eigenen Kulturraum durchgeführt wird. Damit besteht eine Bekanntheit des Feldes, die Riepe als ehemalige Schülerin nützt, um gezielte Fokussierungen im Forschungsfeld Grundschule vorzunehmen.
Die Frage der Datenauswertung wird in Kapitel 3.2 mit dem Konzept der Ethnographischen Collage und der Methode der zirkulären Dekonstruktion beantwortet. Nach einer ausführlichen Beschreibung der Objektiven Hermeneutik erfolgt eine Explikation der Sequenzanalyse. Anhand eines Auszugs aus Protokoll 14 wird anschließend das Vorgehen des Gedankenexperiments veranschaulicht. Daran reiht Riepe eine exemplarische Illustration einer hermeneutischen Fotoanalyse. Mittels der Illustrationen soll ein erster Einblick in die empirische Untersuchung gewährt werden. Diese Ausführungen lesen sich teils redundant, vor allem in Hinblick darauf, dass im Kapitel 5.1 auf denselben Protokollauszug zurückgegriffen und identische Formulierungen in der Analyse vorgenommen werden. Durch die Wiederholung verliert die Arbeit an dieser Stelle an Spannung.
Das Konzept von Clifford Geertz der Dichten Beschreibung dient im Folgenden als Ausgangspunkt für eine kritische Auseinandersetzung mit dem machttheoretischen Problem der Positionalität. Mit zwei Beispielen aus der Beobachtungspraxis reflektiert Riepe ihre persönliche Positionalisierung im Forschungsfeld. Anhand eines Auszugs aus den Beobachtungsprotokollen schneidet sie das Thema Selbstbeobachtung an. Dadurch gelingt es Riepe persönliche Verstrickungen zu identifizieren und zu analysieren und damit die Qualität der Studie zu steigern.
Die Ethnographische Collage der Studie besteht aus Feldnotizen und daraus entstandenen Protokollen im Umfang von 324 Seiten sowie 182 Fotografien. Die Datenerhebung, welche im Kapitel 3.3 präzise geschildert wird, ist mittels teilnehmender Beobachtung an zwei dritten Klassen zweier milieuspezifisch unterschiedlichen Grundschulen im großstädtischen Bereich des Bundeslandes Hamburg erfolgt. Es wurden drei Feldphasen durchgeführt, die insgesamt sechs Wochen dauerten.
Ausgehend vom Begriff „Décollage“ erläutert Riepe in Kapitel 3.4 die Datendarstellung. Übertragen auf die Körperformationen des beobachteten Grundschulunterrichts innerhalb des Feldaufenthaltes identifiziert sie drei Grundpositionen, mittels derer sie die Ergebnisse in den Kapiteln 4, 5 und 6 strukturiert: Erste Position – Grundaufstellungen mit Tischen und Stühlen, Zweite Position – verengte Körperordnungen mit Stühlen ohne Tische, Dritte Position – dezentrale Körperordnungen mit und ohne Stühle und Tische – und allen Positionen inhärent: der Widerstand.
In der Zusammenfassung in Kapitel 7 werden zentrale Ergebnisse der Studie verdichtet. Dabei wird deutlich, dass Ungleichheit erst dann existieren kann, wenn von Gleichheit zwischen Vergleichsdingen ausgegangen wird. Die Inszenierung der Homogenisierung der scheinbar homogenen Gruppe erzeugt laut Riepe den Effekt einer Illusion von Gleichheit im Sinne von Chancengleichheit. Dieser Effekt werde notwendig, um eine Gleichbehandlung nach dem Leistungsprinzip zugunsten der Bildungsrenditen-steigerung legitimieren zu können. Weiter zeigt sich, dass Gleichheit vor allem über eine homogene Ausrichtung von Körpern und Requisiten innerhalb eines Geflechts von bestimmten Zeit-, Raum- und Kommunikationsachsen angerufen wird. Diese werden von der Autorin aufgrund eines Machtgefälles und einer Polarisierung des Verhältnisses von Lehrer*innen und Schüler*innen als Machtachsen bezeichnet.
Die Arbeit weist sehr lange Kapitel auf. Eine Gliederung in mehrere nummerierte Unterkapitel würde zu einem besseren Überblick und einer leichteren Orientierung beitragen. Abgesehen davon verfügt die Dissertation über eine Reihe von Stärken. Allen voran ist der innovative (Betrachtungs-)Zugang zu nennen, mit dem es gelingt, Momente eines „doing sameness“ und widerständische Brüche innerhalb dieser in Bezug auf Körperlichkeit und Bewegung im Forschungsfeld Schule neu zu thematisieren. Hervorzuheben sind auch die differenzierten Beobachtungen und außerordentlich detailreichen Analysen der dicht beschriebenen Portraits der Körperformationen der beobachteten Klassen. Dabei kommt eine flüssige Sprache zum Tragen, welche die Leser*innen in die Analyse regelrecht hineinzieht. Insgesamt kann die Dissertation als Bereicherung für den aktuellen Forschungsstand der Schulpädagogik angesehen werden.
EWR 20 (2021), Nr. 5 (September/Oktober)
Choreographien der Homogenisierung
Zur Verkörperung von Gleichheiten in der Grundschule
Bielefeld: Transcript Verlag 2021
(195 S.; ISBN 978-3-8376-5542-1; 59,99 EUR)
Barbara Saxer (Innsbruck)
Zur Zitierweise der Rezension:
Barbara Saxer: Rezension von: Riepe, Valerie: Choreographien der Homogenisierung, Zur Verkörperung von Gleichheiten in der Grundschule. Bielefeld: Transcript Verlag 2021. In: EWR 20 (2021), Nr. 5 (Veröffentlicht am 25.10.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383765542.html
Barbara Saxer: Rezension von: Riepe, Valerie: Choreographien der Homogenisierung, Zur Verkörperung von Gleichheiten in der Grundschule. Bielefeld: Transcript Verlag 2021. In: EWR 20 (2021), Nr. 5 (Veröffentlicht am 25.10.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383765542.html