EWR 21 (2022), Nr. 2 (April)

Julia Kerstin Maria Siemoneit
Schule und SexualitÀt
PĂ€dagogische Beziehung, Schulalltag und sexualerzieherische Potenziale
Bielefeld: transcript Verlag 2021
(336 S.; ISBN 978-3-8376-5492-9; 45,00 EUR)
Schule und SexualitĂ€t Sexualerziehung in der Schule wird seit Jahrzehnten immer wieder kontrovers diskutiert, wie etwa im Zuge der Aufdeckung zahlreicher FĂ€lle sexueller Gewalt in pĂ€dagogischen Kontexten im Jahre 2010 oder der BefĂŒrchtung einer „FrĂŒhsexualisierung“ von Kindern, die von Beteiligten von Protestbewegungen wie „Besorgte Eltern“ oder „Demo fĂŒr alle“ ausgingen. Dennoch ist der Forschungsstand zum Themenkomplex „Schule und SexualitĂ€t“ nach wie vor ĂŒberschaubar.

Julia Kerstin Maria Siemoneit liefert mit ihrer Dissertation – neben Ă€lteren kindzentrierten Forschungen und den Arbeiten zu Lehrer*innenhandeln von Sara-Friederike Blumenthal [1] und Markus Hoffmann [2] – zweifellos einen wichtigen Beitrag zu diesem spannungsreichen Themenkomplex. Entgegen den zuletzt genannten Studien nimmt Siemoneit eine Perspektiverweiterung vor und widmet sich sexualitĂ€tsbezogenen Deutungsmustern von Lehrer*innen, die sich nicht nur auf den SexualaufklĂ€rungsunterricht beschrĂ€nken, sondern sexualitĂ€tsbezogene Themen im Zusammenhang mit der pĂ€dagogischen Beziehung vor allem außerhalb des Unterrichts einschließen. Dabei möchte sie herausfinden, (1) in welchen Zusammenhang Lehrer*innen SexualitĂ€t und Schule stellen, (2) auf welche WissensbestĂ€nde sie bei einer VerknĂŒpfung rekurrieren, (3) wie sie sexualitĂ€tsbezogene Themen bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung einer professionellen pĂ€dagogischen Beziehung bearbeiten und (4) welches professionelle SelbstverstĂ€ndnis sie im Sprechen ĂŒber SexualitĂ€t und Schule vermitteln.

Zur Kontextualisierung nÀhert sich Siemoneit zunÀchst mithilfe einer historischen Perspektive auf die Entwicklung der Sexualwissenschaft einem SexualitÀtsverstÀndnis, das sie ihrer Arbeit zugrunde legt. Dabei arbeitet sie die KomplexitÀt des Konstrukts von SexualitÀt systematisch heraus und verdeutlicht die Wechselwirkungen von Natur, Kultur, Subjekt und Gesellschaft.

Mithilfe einer historischen Skizze der PĂ€dagogisierung von SexualitĂ€t zeigt sie den Einzug sexualitĂ€tsbezogener Themen in Schule und verdeutlicht die Spannungen zwischen repressiven und emanzipatorischen AnsĂ€tzen sowie staatlichem Bildungsauftrag und elterlichem Erziehungsrecht. Besondere Aufmerksamkeit schenkt sie der Herausforderung des Sprechens ĂŒber sexualitĂ€tsbezogene Themen in Schule, das tendenziell mehr NĂ€he bedarf, als die als asexuell konstituierte Schulkultur zulĂ€sst. Um die Annahme von Schule als einem asexuellen Ort zu entkrĂ€ften, verdeutlicht sie, dass es sich bei SchĂŒler*innen und Lehrer*innen um sexuelle Wesen handelt und dass sich im Sinne eines heimlichen Lehrplans sowohl in Lehrmaterialien als auch Interaktionen auf vergesellschaftetes sexualitĂ€tsbezogenes Wissen bezogen wird, das sozialisierend und erziehend wirkt.

Neben Schule als Ort der Wissensvermittlung und sexueller Sozialisation lĂ€sst Siemoneit der durch die schulischen Strukturen bedingten pĂ€dagogischen Beziehung eine besondere Bedeutung zukommen. Aufbauend auf einem strukturtheoretischen ProfessionsverstĂ€ndnis arbeitet sie die Spezifika des sexualpĂ€dagogischen Lehrer*innenhandelns entlang von Antinomien systematisch heraus. Des Weiteren erarbeitet sie generationale und geschlechtliche Ordnungen als konstitutive Elemente fĂŒr die pĂ€dagogische Beziehung und verdeutlicht die Verwobenheit von Biografie, SexualitĂ€t und Profession, um Lehrer*innen als ganze Personen – somit auch als sexuelle Wesen – gerecht zu werden.

Im methodischen Teil begrĂŒndet Siemoneit den Expert*innenstatus von Lehrer*innen machttheoretisch und verortet ihre Forschung wissenssoziologisch, bevor sie ihr methodisches Vorgehen prĂ€zise beschreibt. Mithilfe problemzentrierter Interviews befragte sie 13 Lehrer*innen, die an vier groß- und ein mittelstĂ€dtisches Gymnasium unterschiedliche FĂ€cher unterrichten. Die Auswertung erfolgt in Anlehnung an die Heuristik von Hoffmann [2] mittels einer Deutungsmusteranalyse, durch die Siemoneit auf ĂŒbergeordnete Themenkomplexe und Typologien abzielt. Als Bezugsthemen arbeitet sie Begehren und Körper heraus.

Beim Thema Begehren rekurrieren die befragten Lehrer*innen vorwiegend auf HomosexualitĂ€t, die sie insbesondere mit schwulen Lebensformen assoziieren. Ihre AusfĂŒhrungen zum Thema sind ĂŒberwiegend problematisierend und reichen von unterrichtlicher Bearbeitung, Umgang mit homofeindlich-diskriminierendem Sprachgebrauch bis zu Chancen und Herausforderungen von gleichgeschlechtlich begehrenden Lehrer*innen (Diskriminierungsgefahr vs. positive ReprĂ€sentation) sowie Möglichkeiten der Vorbildfunktion von Lehrer*innen. Siemoneit rekonstruiert dabei fundiert und prĂ€zise die Ambivalenz zwischen der Relevanz und der ZustĂ€ndigkeit, Themen sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in Schule zu behandeln und fĂŒr die Themen zu sensibilisieren.

Bei den AusfĂŒhrungen zum Thema Körper beziehen sich die Lehrer*innen vorwiegend auf weibliche Körper – sowohl die der SchĂŒlerinnen als auch die der Lehrerinnen. Mit einer ĂŒberwiegend problemzentrierten Sichtweise werden bspw. das VerhĂ€ltnis von Lehrern zu SchĂŒlerinnen, die Disziplinierung und Neutralisierung von SchĂŒlerinnenkörpern, aber auch die Ver- bzw. Entgeschlechtlichung von Lehrerinnenkörpern besprochen. Sowohl der Kleidung als auch dem VerhĂ€ltnis von öffentlicher und privater SphĂ€re kommt dabei eine besondere Bedeutung zu.

Die Studienergebnisse verdeutlichen, dass Sexualerziehung nicht nur auf den (SexualaufklĂ€rungs-)Unterricht reduziert werden kann, sondern auch im Rahmen informeller Lernprozesse von Relevanz ist. Lehrer*innen sind mit ihren (persönlichen) sexualitĂ€tsbezogenen WissensbestĂ€nden Teil des schulischen Alltags der SchĂŒler*innen und beeinflussen diese durch ihre persönlichen Einstellungen und ihr Verhalten.

Insgesamt ĂŒberzeugt die Publikation von Siemoneit durch die fachkundige VerknĂŒpfung von historischer und aktueller wissenschaftlicher Literatur aus verschiedenen Disziplinen. Die Studie liefert durch die PrĂ€zision und Tiefe der Analyse empirisch gesicherte Ergebnisse zum sexualitĂ€tsbezogenen Lehrer*innenhandeln in Schule, die auf theoretischer Ebene schon lĂ€nger vermutet wurden. Trotz analysierter MissstĂ€nde geht sie sehr sensibel und konstruktiv auf das Datenmaterial ein. Die Arbeit verdeutlich die immer noch vorherrschende Brisanz des Themas SexualitĂ€t, das insbesondere im Kontext Schule aufgrund diffuser Beziehungsdynamiken Herausforderungen birgt und vielfĂ€ltiger Reflexion fĂŒr ein professionelles Handeln bedarf. Siemoneit trĂ€gt sowohl mit ihren theoretischen als auch praxisnahen AusfĂŒhrungen zur Reflexion der eigenen Biografie und Haltung und einem angemessenen Umgang mit sexualitĂ€tsbezogenen Themen in Schule bei.

Auch wenn die Übertragbarkeit der Ergebnisse limitiert ist, regt die Autorin zu weiteren Forschungen an, bspw. ob und welche Unterschiede sich in Bezug auf einen lĂ€ndlichen Kontext oder andere Schulformen ergeben und wie sich andere Zielgruppen wie Schulsozialarbeiter*innen, Eltern und SchĂŒler*innen zum Thema Schule und SexualitĂ€t positionieren.

Siemoneit zeigt mit ihrer Publikation, wie notwendig eine Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex ‚Schule und SexualitĂ€t‘ ist. Ihre AusfĂŒhrungen sind empfehlenswert fĂŒr die BeschĂ€ftigung mit und Sensibilisierung fĂŒr sexualitĂ€tsbezogene Themen – insbesondere Begehren und Körperlichkeit – im Kontext Schule. Dies gilt, nicht nur fĂŒr (angehende) Lehrer*innen, sondern fĂŒr alle, die sich fĂŒr eine Behandlung und Wirkung sexualitĂ€tsbezogener Themen interessieren.

[1] Blumenthal, S.-F. (2014). Scham in der schulischen SexualaufklÀrung. Eine pÀdagogische Ethnographie des Gymnasialunterrichts. Springer VS.
[2] Hoffmann, M. (2016). Schulische Sexualerziehung. Deutungsmuster von Lehrenden. Verlag Barbara Budrich.
Christina Mieruch (Kiel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christina Mieruch : Rezension von: Siemoneit, Julia Kerstin Maria: Schule und SexualitĂ€t, PĂ€dagogische Beziehung, Schulalltag und sexualerzieherische Potenziale. Bielefeld: transcript Verlag 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383765492.html