Die Frage, wie Bildung menschliches Verhalten verändern kann, im Sinne eines transformativen Lernens, begleitet das Nachdenken über Erziehung seit jeher (soweit es sich zurückverfolgen lässt). Claudia Gärtner knüpft diese Fragestellung an für sie hoffnungsstiftende Signale der Gegenwart (explizit die Fridays for Future-Bewegung) und an die bedrohlichen Zukunftsszenarien des Klimawandels (9). Damit spannt sie gleich auf den ersten Seiten einen weiten thematischen Bogen. Ihre Auslotung, wie religiöse Bildung zu nachhaltiger Entwicklung beitragen kann, bewegt sich zwischen den Polen der – für einen christlichen Ansatz – unverzichtbaren eschatologischen „Hoffnung auf Erlösung der Welt“ (ebd.) und der Einsicht in die Ergebnisoffenheit jeglichen pädagogischen Bemühens (18), letztlich eines (Auf-)Begehrens, das „nicht ohne die Verzweiflung angesichts gescheiterter und offener Zukunft an Karfreitag und der Hoffnung auf Erlösung der Welt an Ostern zu denken ist“ (9).
Eine einfache Verortung religiöser Bildung in der unter dem Kürzel BNE beinahe zur Eigenmarke gewordenen „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ ist der Autorin in diesem Sinne nicht ohne kritische und selbstkritische Übersetzungsleistungen möglich. Im ersten Kapitel (21-46) setzt sie sich intensiv mit den unterschiedlichen Verständnissen von BNE auseinander. Diese umfasst nach Gärtners Analyse je nach Diskurs mehr oder weniger alle sogenannten politischen Pädagogiken wie Friedensbildung, Politische Bildung, Demokratielernen und Global Citizenship Education oder aber wird enger im „ökologischen Lernen“ angesiedelt (22). Eine Unterscheidung, die sich weniger an Bezeichnungen und Etiketten, sondern an Grundhaltungen orientiert, sieht Gärtner in der Abgrenzung gegenwärtiger BNE von der „Umweltbildung“, wie sie in den 1980er Jahren entstand. Diese wird aus der Perspektive gegenwärtiger BNE-Diskurse als „stark normativ“ bewertet und auch methodisch kritisiert, weil sie „teilweise auf Angstmachen“ gesetzt habe (ebd.). Eine Orientierung an Kenntnissen und Qualifikationen, wie sie in den 17 Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals, SDG) der Vereinten Nationen grundgelegt ist, verweist dagegen auf positive Erwartungen an Bildung und Erziehung in Bezug auf „nachhaltige Lebensweise, Menschenrechte, Geschlechtergleichstellung, eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit, Weltbürgerschaft und die Wertschätzung kultureller Vielfalt und des Beitrags der Kultur zu nachhaltiger Entwicklung“ (23). In dieser Gegenüberstellung von Angstmachen vs. Kompetenzen schimmert freilich auch die positivistische Vorstellung einer didaktisch-pädagogisch planbaren Erreichbarkeit guter Erziehungsziele durch sowie die Ausblendung von Negativität als Prinzip jeden Lernens, im Sinne des Durchkreuzens des Vertrauten, das erst für das Neue, im transformativen Sinne, öffnen kann.
In der Auseinandersetzung mit den teilweise wie Zauberformeln beschworenen SDGs hält die Autorin die Spannung zwischen Hoffnung und Realitätssinn offen. So hält sie zwar die mit den SDGs angestrebte Kompetenz, „Konflikte in Bezug auf Fragen der (nicht) nachhaltigen Entwicklung konstruktiv [zu] bewältigen“, für wichtig und konsensfähig, zeigt daran aber auch eine Verschleierung von Sachzwängen auf: „Denn wie entscheiden, wenn ökonomische, ökologische oder soziale Logiken im Widerstreit stehen?“ (24). Ein Rückgriff auf Benners Modell der sechs Praxen [1], von denen die Erziehung eine ist, könnte hier sowohl begrenzte Möglichkeiten als auch nicht unmöglich zu überwindende Grenzen für pädagogisches Handeln aufzeigen. Gegenüber dem Subjekt müsste sich Erziehung demnach auf die Aufforderung zur Selbsttätigkeit beschränken. Im idealiter nicht-hierarchischen Zusammenspiel mit den Praxen Politik, Ökonomie, Ethik, Ästhetik, Religion würde dagegen der Erziehungspraxis die Aufgabe zufallen, gesellschaftliche Einflüsse anderer Praxen in pädagogisch legitimierte Einflüsse zu transformieren. Das Dilemma liegt darin, dass die Aushandlungsprozesse zwischen den Praxen realiter sehr wohl hierarchischen Ordnungen unterworfen sind [2]. Gärtner sieht mögliche Antworten darauf in der Politisierung einer religiösen Pädagogik, die sich als machtkritisch versteht (38). Die Ambivalenz zwischen einer zu simpel gedachten Steuerbarkeit von Lernen nach gewünschten Zielen und der Kapitulation vor ökonomischen und politischen Bedingtheiten versucht die Autorin als kreative Spannung für ihren religionspädagogischen Ansatz zu nutzen.
Ein Verständnis des Christentums als „widerständig-hoffnungsgeleitete Hermeneutik“ mobilisiert für sie „Ressourcen, um diese Spannung auszuhalten […] und hieraus Kraft zum (veränderten) Handeln zu schöpfen“ (43).
Wie die Autorin unterschiedlichen Verständnisse von Bildung für Nachhaltigkeit auf ihre Potenziale und Problemlagen hin untersucht, ist eine Qualität des Buches jenseits seiner Intention (47-82). Dazu nimmt sie psychologische, soziologische und schließlich pädagogische Perspektiven in den Blick, die sie einerseits kritisch abwägt und zugleich in einen Dialog bringt. Im Versuch, diese Analyse für die Ausrichtung des Buches fruchtbar zu machen, geraten ihr dann die eingangs mitbedachten unterschiedlichen transformativen Ansätze wie Friedensbildung und Global Citizenship Education zugunsten der BNE weitgehend aus dem Blick.
Aus ihrer Analyse lassen sich aber Grundüberlegungen herausdestillieren, die auch jenseits der einen oder anderen Etikette Anknüpfungspunkte bieten. Sie finden sich im Vertrauen auf „unkonventionelle und alternative Lernerfahrungen“ (44) als „handlungsorientiertes, experimentelles und projektartiges Lernen“, das sich an lebensweltlichen Fragestellungen erprobt und „Selbstwirksamkeitserfahrungen für die Lernenden ermöglicht“ (75). Der Zugang über die Erfahrung unterläuft einerseits pädagogische Machbarkeitsmythen [3], da Erfahrungen schwerlich steuerbar sind, und fordert andererseits eine Pädagogik ein, die Lernen nicht als messbaren Output, sondern als Wachsen an Problemstellungen und Lebensanforderungen versteht und entsprechende theoretische und methodische Zugänge dafür schafft [4].
Dieser Aufgabe stellt sich die Autorin in drei größeren Abschnitten, in denen sie eine „Theologische Perspektivierung von Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (83-106) versucht, um davon ausgehend „Konturen einer politischen religiösen Bildung“ (107-136) zu skizzieren. Diese entwickelt sie entlang von Anforderungen wie „krisenorientiert und kontrovers“, „eschatologisch“, „kritisch-reflexiv“, „emanzipatorisch“ und „erfahrungsorientiert“. Im abschließenden Kapitel bietet das Buch konkrete Beispiele für Umsetzungsversuche, die vom Klostergarten übers Fasten, über Klatschen und Beten im engeren Sinne religionspädagogisch sind, zugleich aber auch Einsichten eröffnen, die über den von Gärtner angedachten Anwendungsbereich hinaus interessant sind. Die Offenheit für leiblich-ästhetische Erfahrungsdimensionen von Lernen (99) mündet in das Konzept der Compassion (128, 158) als eine Möglichkeit, normative Zielvorgaben in Bildungsangeboten zu vermeiden und darauf zu vertrauen, dass Menschen, die mit ihren Lebensweisen in Beziehung kommen und die Folgen ihres Tuns für andere mitfühlen, sich eher für Veränderungen öffnen.
Ein interessantes, kundiges Buch mit mutigen Ansätzen wider die Mutlosigkeit, das nicht nur für Religiöse Bildung bekannte Problemlagen erkundet und interessante Perspektiven wagt.
[1] Benner, D. (2015). Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns (S. 61-127). Juventa.
[2] Peterlini, H. K. (2021). Warum…? Und wenn ja, wie anders? Pädagogische Antwortversuche auf politische und gesellschaftliche Überlebensfragen. In W. Wintersteiner (Hrsg.), Die Welt neu denken lernen. Plädoyer für eine planetare Politik (S.16-18). Transcript.
[3] Meyer-Drawe, K. (2000). Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich. (2. Auflage). P. Kirchheim.
[4] Meyer-Drawe, K. (2003). Lernen als Erfahrung. Zeitschrift fĂĽr Erziehungswissenschaft, 6 (4), 505-514.
EWR 21 (2022), Nr. 2 (April)
Klima, Corona und das Christentum
Bielefeld: transcript Verlag 2020
(196 S.; ISBN 978-3-8376-5475-2; 29,00 EUR)
Hans Karl Peterlini (Klagenfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Hans Karl Peterlini: Rezension von: Gärtner, Claudia: Klima, Corona und das Christentum. Bielefeld: transcript Verlag 2020. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383765475.html
Hans Karl Peterlini: Rezension von: Gärtner, Claudia: Klima, Corona und das Christentum. Bielefeld: transcript Verlag 2020. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383765475.html