EWR 20 (2021), Nr. 5 (September/Oktober)

Ann-Kristin Kolwes
Die Frauen und Kinder deutscher Kriegsgefangener
Integriert, ignoriert und instrumentalisiert, 1941-1956
Bielefeld: Transcript Verlag 2021
(320 S.; ISBN 978-3-8376-5464-6; 48,00 EUR)
Die Frauen und Kinder deutscher Kriegsgefangener In der unmittelbaren Nachkriegszeit bestand eine der zentralen Aufgaben und Herausforderungen der beiden neu gegründeten deutschen Staaten darin, das große Ausmaß an sozialen Notständen innerhalb ihrer jeweiligen Gesellschaften zu lindern. Millionen von Bürgerinnen und Bürgern waren zum Zeitpunkt der Gründung der Bundesrepublik und der DDR von einem oder mehreren typischen Nachkriegsschicksalen betroffen. Dazu zählten die sozialen Probleme der überlebenden Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sowie von Flüchtlingen, Vertriebenen, Evakuierten, Kriegsinvaliden, -waisen und -witwen, Spätheimkehrern aus der Kriegsgefangenschaft und Angehörigen von noch internierten Kriegsgefangenen sowie Kriegssachgeschädigten. Von den zahlreichen Problemen, die die neu gegründeten Staaten zu schultern hatten, stand daher die soziale Bewältigung der vielfältigen Folgen von Krieg und Diktatur an erster Stelle. Ein breites Forschungsfeld, das sich als Kriegsfolgenforschung bezeichnen lässt, hat diese Problemstellung in den vergangenen Jahrzehnten auf vielfältige Weise untersucht.

Diesem Forschungsfeld fügt Ann-Kristin Kolwes mit ihrer sozialgeschichtlichen Dissertation einen weiteren Mosaikstein hinzu, indem sie die bisher wenig erforschten Frauen und Kinder der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs in den Blick nimmt. Der Untersuchungszeitraum orientiert sich dabei an den Eckdaten der Kriegsgefangenschaft der Ehemänner bzw. Väter. Er beginnt 1941 mit dem Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion und endet im Jahr 1956 mit der Rückkehr der letzten Kriegsgefangenen aus der Gefangenschaft. Die Autorin fragt nach den Auswirkungen der Kriegsgefangenschaft der Ehemänner und Väter auf die Lebensumstände ihrer Ehefrauen und Kinder im Nationalsozialismus, der Britischen und Sowjetischen Besatzungszone sowie der Bundesrepublik und der DDR. Dabei werden zum einen die sozialstaatlichen Versorgungsleistungen vergleichend in den Blick genommen. Zum anderen wird das Selbstverständnis der Frauen und Kinder sowie deren Fremdwahrnehmung ebenfalls vergleichend untersucht. Hinzugezogene Quellen sind sowohl Verwaltungsakten, als auch zeitgenössische Beiträge in Zeitschriften und Zeitungen. Darüber hinaus werden sogenannte Egodokumente herangezogen, wobei hier neben Tagebüchern und Briefen (zehn Tagebücher, sechs Lebensberichte, vierzehn Briefwechsel) auch die stark formalisierte Textsorte der Eingabe (216 Briefe) an staatliche Stellen der DDR als Egodokument verstanden wird.

Der Vergleich der sozialstaatlichen Leistungen zeigt deutliche Unterschiede. Während die Frauen und Kinder von Soldaten im Nationalsozialismus mit dem Familienunterhalt für Wehrmachtsangehörige auch im Fall der Kriegsgefangenschaft umfassend versorgt waren, fielen diese Versorgungsleistungen nach Kriegsende in der Sowjetischen und Britischen Besatzungszone weg, wobei die Britische Zone hier nicht pars pro toto verstanden werden kann, da beispielsweise in Bayern oder Württemberg-Baden statusbezogene Unterhaltsleistungen gezahlt wurden. In der neu gegründeten Bundesrepublik wiederum waren Angehörige von Kriegsgefangenen seit April 1950 im Unterhaltsbeihilfegesetz berücksichtigt und, was die finanziellen Leistungen anbelangt, Witwen und Waisen ehemaliger Soldaten gleichgestellt. Die DDR hingegen sah keine spezifische Versorgung für Angehörige von Kriegsgefangenen vor.

Unterschiede zeigen sich nach Kriegsende auch in der Selbstorganisation der Betroffenen. Während in der Bundesrepublik mit dem Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermißtenangehörigen (VdH) eine einflussreiche Interessenvertretung der (ehemaligen) Kriegsgefangenen und ihrer Angehörigen entstand, war die Gründung eines Verbandes in der DDR aus naheliegenden Gründen nicht möglich. Zwar standen die Angehörigen der Kriegsgefangenen nicht im Zentrum der Arbeit des VdH; ob man daraus jedoch – wie die Autorin – folgern muss, dass die Frauen und Kinder im VdH etwa im Rahmen von Protest- und Gedenkveranstaltungen „instrumentalisiert“ wurden, sei dahingestellt. Denn einerseits versteht Kolwes die Frauen und Kinder von Kriegsgefangenen explizit als „handelnde Akteurinnen und Akteure“, die „aktiv nicht nur ihr eigenes Selbstverständnis konstruieren, sondern darüber hinaus ebenfalls ihre Fremdwahrnehmung durch andere beeinflussen“ (11). Anderseits aber spricht sie mit dem Befund der „Instrumentalisierung“ den Betroffenen die bewusste Entscheidung ab, an den Prostest- und Gedenkveranstaltungen des Verbandes teilzunehmen, um so ihr Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen. Dabei waren viele Ehefrauen von Kriegsgefangenen selbst Mitglied des Verbands, und die zentralen Forderungen nach Freilassung der Kriegsgefangenen und Versorgung der Angehörigen waren auch die ihren.

Eher durch Gemeinsamkeiten als durch Unterschiede geprägt sind die Selbstwahrnehmungen und emotionalen Befindlichkeiten der Betroffenen. So war die Situation für die Familien etwa durch große Unsicherheit, das Warten auf die Rückkehr des kriegsgefangenen Angehörigen und den Versuch gekennzeichnet, die Beziehung zur Familie auch in Zeiten der Abwesenheit des Ehemanns bzw. Vaters aufrechtzuerhalten.

Die Autorin rückt in ihrer Studie eine Gruppe von Personen in den Blick, die in der Forschung bislang wenig Beachtung gefunden hat. Die zukünftige Forschung zum Personenkreis wäre allerdings gut beraten, den Untersuchungszeitraum nicht mit der Rückkehr der letzten Kriegsgefangenen im Jahr 1956 enden zu lassen. Kolwes begründet die Entscheidung für das Ende des Untersuchungszeitraums ihrer Studie mit dem Argument, dass es nach der Rückkehr „keine Frauen und Kinder von Kriegsgefangenen mehr“ gegeben habe (272). Damit habe auch „ein solches Selbstverständnis“ seine „Berechtigung“ verloren (ebd.). Dieser Befund ist deshalb erstaunlich, da die Kriegsgefangenschaft nach der Rückkehr der letzten Gefangenen zwar auf verschiedenen Ebenen keine Rolle mehr spielte; gerade aber, was das Selbstverständnis der Betroffenen oder das familiäre Umfeld angeht, war dies jedoch mitnichten der Fall. Gerade die Spätheimkehrer waren bei ihrer Rückkehr nicht selten vielfach beschädigte und gebrochene Männer, denen zudem im schlimmsten Fall bis zu zehn Jahre der Nachkriegsentwicklung und die Erfahrung der vielfältigen Dynamiken und Wandlungen in diesem Zeitraum fehlten. Zwar war mit der Rückkehr nach Deutschland die Kriegsgefangenschaft, nicht aber deren Erfahrung beendet. Dass daraus nicht nur vielfältige Probleme unter anderem in Ehen und Familien resultierten, sondern sich die Betroffenen bis ins hohe Alter als (ehemalige) Kriegsgefangene sowie als Familien von (ehemaligen) Kriegsgefangenen definierten, spricht dafür, die Frage des Selbstverständnisses nicht nur ehemaliger Kriegsgefangener, sondern auch von deren Angehörigen über die Zäsur von 1956 hinaus zu verfolgen. Möglicherweise ist die Quellenlage bezüglich sich daran anschließender Fragestellungen nicht als einfach zu bewerten, aber Kolwes hat mit ihrer Arbeit nicht zuletzt gezeigt, dass selbst auf der Grundlage einer als schwierig zu bewertenden Quellenlage interessante Ergebnisse zu erzielen sind.
Birgit Schwelling (Konstanz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Birgit Schwelling: Rezension von: Kolwes, Ann-Kristin: Die Frauen und Kinder deutscher Kriegsgefangener, Integriert, ignoriert und instrumentalisiert, 1941-1956. Bielefeld: Transcript Verlag 2021. In: EWR 20 (2021), Nr. 5 (Veröffentlicht am 25.10.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383765464.html