Begriffe wie Heterogenität, Diversität und Intersektionalität erfreuen sich derweil einer Aufmerksamkeitskonjunktur, die über wissenschaftliche und pädagogische Diskurse hinausgehend auch in den Kulturbetrieb, journalistische Artikel sowie Talkshows und nicht zuletzt politische Debatten wirken. Als positive Werte werden sie ebenso reklamiert oder ihr Fehlen kritisiert, wie sie auch echauffierende Absetzbewegungen provozieren. Aus Sicht des Rezensenten veranschaulichen diese diskursiven Wellen die Notwendigkeit theoretischer Grundlagenarbeit, um durch geschärftes Begriffswerkzeug Argumentationen und Zusammenhänge klarer werden zu lassen.
Die hier vorgestellte Monographie basiert auf einer Dissertation und untersucht den Gegenstand der ‚Hybridität‘ in seinen theoretischen Fundierungen, methodischen Überlegungen und seiner pädagogischen Relevanz. Die Autorin verspricht sich von der Gegenstandswahl, theoretisch ausbuchstabieren zu können, wie aus sich überlagernden Praktiken und verknüpften Diskursen bestehende hybride Subjektivitäten denkbar sind. Für pädagogische Kontexte bietet dies die Möglichkeit, sich einer migrationsgesellschaftlichen Realität zu stellen, die allzu oft noch als Sonderstatus gesehen wird, wenn sie nicht gar ganz dethematisiert wird [1]. Das Werk möchte dabei nicht ‚nur‘ als trockene Vermittlung von Wissen von Hybridität verstanden werden, sondern versucht gleichzeitig, die Erfahrungswelt der Leser*in zu adressieren: „In diesem Buch wird Wissen über Hybridität dargelegt, Hybridität wird zudem erfahren und rückwärts nachvollzogen.“ (14, Hervorh. i. O.).
Im ersten Teil des Buches, das von einem Zitat aus der prototypischen ‚Quality TV‘ Serie „The wire“, in der Verschränkungen von Gender, Race und Class eine wichtige Rolle spielen, eingeleitet wird, wird Hybridität als Absetzbewegung von imaginierten Grenzen skizziert. Angelehnt an Methoden der Dekonstruktion, wenn gleich ohne starken Bezug zu Jacques Derrida, wird das Feste von Grenzen – sowohl nationaler als auch identitärer – hinterfragt. Der ehemals für Mischformen in der Biologie bei Tieren und Pflanzen gebräuchliche Begriff der Hybridität wird dann als Gegenbegriff zu starren Begrenzungen konturiert. Daran anschließend wird die besondere Pointe der Aneignung des Begriffs durch postkoloniale Diskurse eingeführt. So ermöglicht dieser es, eurozentrische Selbstverständnisse nachhaltig in Frage zu stellen, da sie auf einem gewaltförmigen Ausschluss von Andersartigkeit basieren. ‚Hybridität‘ kann solche Annahmen thematisieren. Diese Theoriefigur erlaubt, Vorstellungen von Geschlossenheit und Reinheit, worauf oft benachteiligende (pädagogische) Arrangements bis hin zu expliziten Rassismen basieren, auf empirischer Grundlage zu problematisieren. Gleichzeitig markiert er aber auch ethisch die Fragwürdigkeit solcher Ausschlüsse und macht sie so einer pädagogischen Reflexion zugänglich.
Anhand der Beispiele von Geschichte, Bildern und Lebenswelten wird der Begriff im Folgenden illustriert. Positiv betont wird dabei das ‚Produktive‘ von Hybridität als Theorieoption, die das Starre von Grenzen, ohne diese ideologische Figur komplett bei Seite zu legen und seine Wirkmächtigkeit dadurch auszublenden, kritisierbar werden lassen.
Im zweiten Teil des Buches werden Bestandteile des Werkes von Homi K. Bhabha zentral gesetzt, der wesentlich zur Popularisierung des Begriffs der ‚Hybridität‘ beigetragen hat. Die Autorin betont dabei das Fragile und die im Werden befindliche Subjektivität in Bhabhas Entwürfen und legt so die Spur zu erziehungswissenschaftlichen Fragestellungen des Aufwachsens. Im Folgenden werden verschiedene Akzentuierungen in der Rezeption Bhabhas in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft systematisch vorgestellt, so die Rassismus-kritische Forschung, die Organisationsforschung transnationaler Kontexte und die kulturwissenschaftliche Erforschung pädagogischer Verhältnisse. Daran anschließend versucht die Autorin, theorievergleichend Bhabha mit dem Ansatz der Frankfurter Schule (genuin Theodor W. Adorno und Max Horkheimer) zu konfrontieren. Dies bietet sich u.a. deswegen an, weil feste Identitäten, die auf gewaltförmigen Ausschlüssen basieren, Gegenstand der Kritik beider Zugänge sind. Darauf aufbauend erfolgt eine breite Einführung in Bhabhas‘ Vorstellung über Kultur und Subjektkonstitution. Die Autorin räumt auch der Kritik an Bhabhas theoretischem Instrumentarium Platz ein: Von diesem wird das Harmonische zu stark betont. Auch antizipiert die Verfasserin eine Passförmigkeit von Bhabhas‘ Entwurf zu neoliberalen Dispositiven. Besonders interessant ist die Darstellung der Einverleibung des Diskurses über Hybridität durch rechtsradikale Gruppen. So hat die Identitäre Bewegung den populären Begriff von Neuem biologisiert und Migrationsgesellschaften als Schreckensszenario stilisiert.
Im Fazit ihrer bildungsphilosophischen Grundlagenarbeit kann die Autorin zeigen, dass ‚Hybridität‘ vielfältige Anschlüsse an erziehungswissenschaftliche Fragestellungen bieten kann. Die in vielfältigen pädagogischen Subdisziplinen und Forschungszugängen präsente Vorstellung vom Werden von Subjekten anstelle des erzieherischen Herausschälens eines Kerns an Identität, der im Menschen schon angelegt sei, erfährt durch die vertiefende Beschäftigung mit Hybridität eine Erweiterung um bemerkenswerte Nuancen.
Die Arbeit besticht durch ihre systematische Vorgehensweise, welche vielfältige Bedeutungsebenen und Gegenstände anspricht, ohne dabei den roten Faden zu verlieren. Der Plural des Titels „Zugänge“ wird dementsprechend ernst genommen. Dabei kommt der Arbeit massiv zugute, dass sie sich nicht in Spezialdiskursen verheddert. Autor*innen wie Hannah Arendt, Walter Benjamin oder Maurice Merleau-Ponty werden so mit postkolonialen Perspektiven verknüpft, um dann nach Anschlüssen an gegenwärtige pädagogische Diskurse zu suchen.
Die Darstellung der Autorin regt dabei zum Nach- und Weiterdenken an, wobei mir zwei Punkte besonders relevant erscheinen:
Zum einen erscheint die Argumentation so, als sei es vorrangig relevant, sich mit Hybridität zu beschäftigen, weil es empirisch angemessen ist, Subjekte und Kulturen im Werden zu beschreiben. Immer dann, wenn die historische Argumentation über die historische Verantwortung des Westens aufgrund des Kolonialismus in den Hintergrund rückt, erscheint es, als sei der ethische Bezug ein kontingenter Sachverhalt. Zugänge mit starkem Identitätsbegriff könnten dann zumindest postulieren, dass Homogenität eine abweichende, aber legitime kulturelle Formation darstelle. Der Extremfall wäre dann die von der Autorin angesprochene Identitäre Bewegung, die historische Verantwortung leugnet und so ihre Biomachtfantasien des reinen Volkes als gerechtfertigte politische Forderung stilisiert. Eine stärkere Auseinandersetzung mit philosophischen Ansätzen, die den ethischen Anspruch der Alterität in seiner Absolutheit in den Vordergrund stellen, hätte dabei zeigen können, dass eine ethische Beziehung zu Anderen eine unumgängliche Herausforderung darstellt, die nicht kontingent ist und die intersubjektiven Verhältnisse radikal durchzieht [2]. Dies hätte die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit Hybridität noch einmal in ihrer Dringlichkeit betont.
Ähnliches gilt für das Ausbleiben einer Auseinandersetzung mit radikaldemokratischen Ansätzen, welche vehement die politische Gleichheit zentral setzen und ethisch-politisch einfordern [3]. Eine Auseinandersetzung damit hätte die politische Dimension des Pädagogischen noch stärker betont. Die Forderung nach Gleichheit wird dann nämlich für Gesellschaften, deren pädagogische Institutionen Ungleichheiten reproduzieren, zu einer Problematisierung ihres eigenen Selbstverständnisses als Demokratie. In diesem Sinne könnte man fragen, wieso sich der globale Norden nicht nur im Sinne epistemischer Gewalt Universalisierungen anmaß (und anmisst), sondern wieso dieser auch mit den eigenen Universalisierungsansprüchen nicht ernst macht. Denn wenn Freiheit und Gleichheit nicht für alle Regionen, Lebensentwürfe und Communities gelten, so bleiben diese Werte exklusiv, was die Selbstbeschreibung westlicher Werte konterkariert.
So stellt die Arbeit sowohl einen gelungenen Abriss über bestehendes pädagogisches Nachdenken über Hybridität dar und eröffnet parallel dazu neue Theorieoptionen. Dem Anspruch eines kritisch-emanzipatorischen Wissenschaftsverständnisses, wie in der Einleitung formuliert, wird dabei nachgekommen. Die Übertragung auf konkretere pädagogische Kontexte bleibt in weiten Teilen den Leser*innen überlassen. Die Arbeit bereichert die wissenschaftlich fundierte Kritik an festgelegten Identitäten, die pädagogisches Denken und Handeln noch immer prägen und blockieren.
[1] Shure, S. (2021). De_Thematisierung migrationsgesellschaftlicher Ordnungen. Lehramtsstudium als Ort der Bedeutungsproduktion. Beltz Juventa.
[2] Lévinas, E. (2002). Totalität und Unendlichkeit: Versuch über die Exteriorität. Albers.
[3] Laclau, E.; Mouffe, C. (1991). Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien: Passagen; sowie Rancière, J. (2002). Das Unvernehmen: Politik und Philosophie. Suhrkamp.
EWR 21 (2022), Nr. 4 (Oktober)
Zugänge zu Hybridität
Theoretische Grundlagen – Methoden – Pädagogische Denkfiguren
Bielefeld: transcript Verlag 2021
(275 S.; ISBN 978-3-8376-5153-9; 40,00 EUR)
Lukas Schildknecht (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Lukas Schildknecht: Rezension von: Hosseini-Eckhardt, Nushin: Zugänge zu Hybridität, Theoretische Grundlagen – Methoden – Pädagogische Denkfiguren. Bielefeld: transcript Verlag 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383765153.html
Lukas Schildknecht: Rezension von: Hosseini-Eckhardt, Nushin: Zugänge zu Hybridität, Theoretische Grundlagen – Methoden – Pädagogische Denkfiguren. Bielefeld: transcript Verlag 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383765153.html