Traditionell steht das personale Subjekt im Fokus der Subjektivierungsforschung. Kollektive geraten in dieser Forschungstradition bislang nur in den Blick, wenn Individuen in Kollektiven subjektiviert werden. Doch stellt sich die Frage, ob auch Kollektive subjektiviert werden und sich subjektivieren. Sind fest umrissene, formale Organisationen oder auch fluide, fragile und örtlich kaum einzugrenzende soziale Bewegungen Effekte von Subjektivierungspraktiken? Sie werden zumindest gemeinhin als Subjekte adressiert und ihnen werden Handlungsfähigkeit und Eigensinn zugeschrieben.
Der Sammelband „Jenseits der Person. Zur Subjektivierung von Kollektiven“, herausgegeben von Thomas Alkemeyer, Ulrich Bröckling und Tobias Peter, stellt sich der Frage, inwieweit sich das subjektivierungstheoretische Instrumentarium auf die Analyse von Kollektivsubjekten übertragen lässt und worin dessen Grenzen liegen. Analog zur poststrukturalistischen Subjekttheorie wendet sich das Vorhaben gegen essentialistische Annahmen über Kollektive und fokussiert stattdessen deren performative Hervorbringung in der sozialen Praxis. Die Antworten auf die zentrale Frage fallen dabei nicht immer eindeutig aus; häufig haben die Beiträge den „Status probierender Gedankenfassungen“ (317). Die fünfzehn versammelten Artikel gehen teilweise aus der gleichnamigen, 2016 in Leipzig stattgefundenen, Tagung hervor, die die Herausgeber mit Martin Saar organisierten. Eine Einführung und ein abschließender Kommentar rahmen die im Buch gesammelten Beiträge, die sich unter fünf Kapitel gliedern. Im Folgenden werde ich exemplarisch auf sechs dieser Beiträge etwas detaillierter eingehen.
Den Anfang machen drei Beiträge über theoretische Perspektiven. Thomas Alkemeyer und Ulrich Bröckling explizieren in ihrem Artikel das Anliegen des Sammelbandes: Kann es Subjektivierung auch jenseits des Individuums geben? Anhand einer Skizze grundlegender Überlegungen der Subjektivierungstheorie fragen sie nach den Gründen der Zurückhaltung, den Werkzeugkasten für die Analyse von Kollektiven zu verwenden. Ausgehend von der Diskussion potentieller Analyseachsen und verschiedener praxistheoretischer Zugänge sehen die Autoren das analytische Potential einerseits im Herausarbeiten der „Prozesse und Praktiken ihrer Formung und (Selbst-)Bildung in den Relationen gesellschaftlicher Praxis“ (28). Andererseits bestehe es in der Anerkennung und Analyse der Gleichzeitigkeit von Unterwerfung und Ermächtigung. Da innerhalb der neosozialen Gesellschaft auch Gemeinschaften zur Verantwortungsübernahme angehalten sind, zeige sich auch die gegenwartsdiagnostische Brisanz dieser theoretischen Weiterentwicklung.
Im Unterschied dazu, nimmt Tobias Peter in seinem Artikel eine systemtheoretische Perspektive der Subjektivierung von Kollektiven ein. Das Potential der Systemtheorie liege in der Akzentuierung der „in Subjektivierungsprozessen zum Tragen kommenden sozialen und organisationsspezifischen Systemlogiken“ (34). Er plädiert für eine Fokusverschiebung von der „Zentralität des Subjekts“ (35) hin zu systemischen Rationalitäten. Hierfür arbeitet Peter das systemtheoretische Konzept der Adressierung aus und prüft deren Übertragung auf Kollektivsubjekte. Wie eine Art Relaisstation konstituieren sich Kollektivsubjekte demnach als „Instanzen einer doppelten Subjektivierung“ (38). Zum einen werden Kollektive selbst durch Funktionssysteme adressiert, zum anderen adressieren Kollektive ihrerseits wiederrum individuelle Subjekte. Entlang von Interaktion, Organisation und Gesellschaft konkretisiert Peter die Unterschiede zwischen den Systemebenen, um anschließend auf verschiedene Technologien der Adressierung (wie z.B. Selbstbeschreibungen) einzugehen.
Im Kapitel Kollektive Subjektivierung sozialer Bewegungen widmet sich Imke Schmincke der kollektiven Akteurin „Wir Frauen“ innerhalb der ersten Phase der neuen Frauenbewegung. Die Besonderheiten dieser Subjektivierung bestehe in der „Verzahnung“ individueller und kollektiver Subjektivierung und in der „Bedeutung des Körpers und seiner Politisierung“ (136). Durch eine subjektivierungstheoretische Erweiterung der sozialwissenschaftlichen Bewegungsforschung gerieten „die Effekte, Funktionen und Genealogien“ (137) der kollektiven Identität „Wir Frauen“ und deren konstitutive Bedeutung für die individuelle Subjektivierung in den Fokus. Der Gewinn in der Subjektivierungstheorie bestehe im Zusammendenken von „Widerspruchskonstellationen (oder –varianten)“ (145) und ermögliche die Rekonstruktion der Konstruktion des Kollektivsubjekts.
Anschließend folgen unter der Kapitelüberschrift Organisationen als Kollektivsubjekte die Beiträge von Roland Hartz und Verena Eickhoff. Innerhalb der kritischen Organisations- und Managementforschung diagnostiziert Hartz eine einseitige Lesart, die sich lediglich auf die Unterwerfung und Kontrolle von Subjekten durch Organisationen konzentriert. Die Idee der strategischen Polyvalenz scheint ihm bedeutsam, um eine emanzipatorische Perspektive einzunehmen. Durch die prinzipielle Möglichkeit einer „heterodoxen Anrufung und Formierung von Organisation“ (195) eröffne sich ein Raum, der sowohl theoriepolitisch wie empirisch Organisationen als Vergemeinschaftung zwischen Unterwerfung und Widerstand anerkennt. Anhand von konventionellen Vergemeinschaftungskonzepten der Betriebswirtschaftslehre und der Managementforschung illustriert er Anrufungen, die auf individuelle Integration und Anpassung zielen. Um auch alternative Formen sozialer Existenz und Anerkennung für Subjekte aufzuzeigen, gelte es auf emanzipative Projekte organisationsförmiger Vergemeinschaftung hinzuweisen und diese zu analysieren.
Eickhoff betrachtet in ihrem Artikel die Organisationswerdung von Hochschulen durch Diversität und kombiniert hierzu die Subjektivierungstheorie mit dem Neo-Institutionalismus. Dies ermögliche die Erfassung eines Beobachtungsschemas von Akteursmerkmalen und den Anschluss an andere Forschungstraditionen. Für die empirische Rekonstruktion der Organisationswerdung analysiert sie die „Hochschulreform als spezifisches Subjektivierungssetting“ (219). Um die „Anrufungen und Umwendungen sowie potentielle Techniken der Subjektivierung zu untersuchen“ (226), verwendet sie unterschiedliche Materialsorten. Den Vorteil in der Übertragung der Subjektivierungstheorie auf Organisationen sieht sie darin, „Organisationen nicht nur als statische Rahmenbedingung, sondern quasi als »aktive Mitspielerin« personaler Subjektivierung einzubeziehen“ (234).
Im abschließenden Kommentar mahnen Nikolaus Buschmann und Norbert Ricken vor einer einfachen Übertragung der Subjektivierungstheorie auf Kollektive. Entgegen anderer Ansätze fokussiere diese Denkbewegung die performative Hervorbringung von Kollektiven, deren Subjekthaftigkeit in dem „dynamischen Beziehungsgeflecht verschiedenartiger Elemente“ (319) liege. Dabei gelte es „den Effekten kollektiven Zusammenwirkens“ (321) nachzugehen, den jeweiligen „Subjektstatus“ (322) auszuweisen und zwischen den „Verschränkungen der verschiedenen Subjektivierungsdimensionen“ (322) zu differenzieren.
Der Sammelband wird seinem Anliegen, zu fragen, inwieweit sich das für die Analyse von Individuen entwickelte subjektivierungstheoretische Instrumentarium auf Kollektive übertragen lässt, mehr als gerecht. Die Publikation stellt einen wichtigen Beitrag für die Weiterentwicklung der Subjektivierungstheorie dar, der darüber hinaus etablierte Theorien herausfordert, die sich ebenfalls mit Kollektiven auseinandersetzen. Eine Perspektive, die die Gleichzeitigkeit von Unterwerfung und Ermächtigung als konstitutiv für Kollektive denkt, sowie die Bereitstellung eines Werkzeugkastens, der die vielschichtigen Bestimmungskräfte zu analysieren verhilft, sind dabei nur zwei Impulse dieses Bandes. Neben der Breite an unterschiedlichen Formen von Kollektiven zeichnen sich die Beiträge durch anspruchsvolle Theoriekombinationen aus. Dass die Subjektivierungsforschung mit anderen Theorien ins Gespräch gebracht wird (u.a. der Systemtheorie und dem Neo-Insitutionalismus) muss als besonderes Merkmal hervorgehoben werden. Zudem erweist sich der Blick auf die „doppelte Subjektivierung“ als besonders fruchtbar. In kritischer Absicht bietet das Forschungsprogramm die Möglichkeit, die kontingenten Bedingungen von Kollektivsubjekten zu analysieren, und stellt ein Gegengewicht zu individualisierenden Forschungsrichtungen dar. Folglich bildet der Sammelband einen herausfordernden Auftakt für eine weitere Auseinandersetzung mit Kollektiven über die Disziplingrenzen hinweg.
EWR 17 (2018), Nr. 4 (Juli/August)
Jenseits der Person
Zur Subjektivierung von Kollektiven
Bielefeld: transcript 2018
(336 S.; ISBN 978-3-8376-3842-4; 29,99 EUR)
Nils Klevermann (TĂĽbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Nils Klevermann: Rezension von: Alkemeyer, Thomas / Bröckling, Ulrich / Peter, Tobias (Hg.): Jenseits der Person. Zur Subjektivierung von Kollektiven.. Bielefeld: transcript 2018. In: EWR 17 (2018), Nr. 4 (Veröffentlicht am 30.08.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383763842.html
Nils Klevermann: Rezension von: Alkemeyer, Thomas / Bröckling, Ulrich / Peter, Tobias (Hg.): Jenseits der Person. Zur Subjektivierung von Kollektiven.. Bielefeld: transcript 2018. In: EWR 17 (2018), Nr. 4 (Veröffentlicht am 30.08.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383763842.html