EWR 16 (2017), Nr. 3 (Mai/Juni)

Olga V. Artamonova
„Ausländersein“ an der Hauptschule
Interaktionale Verhandlungen von Zugehörigkeit im Unterricht
Bielefeld: transcript 2016
(320 Seiten; ISBN 978-3-8376-3461-7; 29,99 EUR)
„Ausländersein“ an der Hauptschule Die Dissertation von Olga V. Artamonova, die im Jahr 2015 von der Philologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau als Dissertation angenommen worden ist, widmet sich dem „interaktiven Umgang mit Ethnizität und Mehrsprachigkeit am Beispiel authentischer Daten aus dem Unterricht“ (12). Das Ziel der Arbeit ist: „Eine auf langfristige Beobachtung ausgerichtete schulische Fallstudie vorzustellen, die mit soziolinguistischen Mitteln arbeitet und Einblick in die kommunikativen Praktiken der Schule ermöglicht“ (13). „Zentral [...] bleibt die Kategorie ‚Ethnie‘ und ihre Hervorbringung in den Unterrichtsinteraktionen“ (34). Artamonova geht diesem Ziel mithilfe der folgenden Forschungsfragen nach: „Wie wird [...] ethnische Zugehörigkeit hervorgehoben? Welche kommunikativen Ziele werden erreicht, indem man seine eigene oder die fremde ethnische Zugehörigkeit thematisiert? Wie werden andere Differenzen (bspw. das Aussehen) interaktiv bearbeitet?“ (34). Der theoretische Rahmen der Studie basiert auf einer „Methodenkombination von Ethnographie, Gesprächsanalyse und soziolinguistischen Ansätzen [...]“ (13).

Hierfür verbringt sie einen siebenmonatigen Feldaufenthalt in der siebten Klasse einer hessischen Hauptschule und kreiert dort „ein komplexes, multidimensionales Korpus“, das „Fragebogen, [...] der von den Schülern selbst ausgefüllt wurde und Informationen über ihre Herkunft und die von ihnen [...] gesprochenen Sprachen liefert [...], Feldnotizen, die im Laufe der Ethnographie gesammelt wurden [...], Tonaufnahmen aus dem Unterricht sowie aus den Pausen [...], klärende Gruppennachbesprechungen mit einzelnen Schülern“ sowie „Online-Daten [...] in Form von Screen-Shots [von Profilen der Schüler_innen] auf der informellen Domäne Facebook“ (13) beinhaltet.

In der Einleitung (11-14) geht Artamonova auf die Relevanz, die Forschungsmethode und die Zielsetzung der Arbeit ein und legt die Bestandteile der Arbeit dar.

Die nachfolgende Untersuchung gliedert sich in drei Teile:
Der erste Teil der Arbeit „Makrotheoretischer Kontext der Zugehörigkeitsprozesse im Bildungswesen“ (17-106) beinhaltet erstens einen „Exkurs zum migrationsschulischen Kontext Deutschlands“ (17-35), in dem u. a. „eine Übersicht über die Situation der Institution (Haupt)Schule in Deutschland [dargestellt wird], die durch Migrationsprozesse eine hohe Dynamik entwickelt“ (17); zweitens die „Zugehörigkeitshervorhebung, -zuschreibung und -bewertung“ (37-72), in dem u. a. darauf eingegangen wird, „wie sich die Prozesse der Zugehörigkeit und ihrer Zuschreibung in einer Interaktion erkennbar und verfolgbar machen“ (37); drittens die „Methoden einer hauptschulischen Fallstudie: Ethnographie und Konversationsanalyse (73-106), in dem u. a. auf die „methodische Rahmung der Fallstudie“ und das „zentrale Instrumentarium der (ethnographischen) Konversationsanalyse, ergänzt durch eine Ethnographie der Feldarbeit“ dargestellt wird.

Der zweite Teil der Studie „Zugehörigkeitsherstellung und interaktionale Bearbeitung von Differenzen in H7“ (107-215) umfasst „einen empirischen Einblick in den kommunikativen Alltag sowie in die interaktionale Kultur der H7“ indem „Fragen der ethnischen Zugehörigkeit, der Gruppenidentität sowie der Selbst- und Fremdbezeichnung im Schulkontext“ (107) fokussiert werden. Hierbei werden „Besonderheiten des interaktiven Umgangs mit hoch sensiblen Themen wie Ethnizität, Rasse und Religion / Kultur im Unterricht, die gleichzeitig als Differenzlinien dienen, [...] anhand der Gesprächsdaten illustriert“ (107). In diesem Zusammenhang verweist Artamonova darauf, dass „Schüler sowie einige Lehrpersonen [...] ‚Kanake‘ und ‚Kanakistan‘ oft in verschiedenen Formen und Sätzen“ (112) benutzen. Artamonova konstatiert diesbezüglich: „Die Bezeichnung Kanake hat [...] eine stark negativ geladene, rassistische Konnotation ausländisch und ‚verachtenswert‘ zu sein. Dies wurde jedoch in der untersuchten Klassenkommunikation nicht bestätigt. Die H7 und ihre zwei Lehrpersonen [...] geben diesem Wort eine ganz individuelle Bedeutung, die sich nur intern im Kontext der zwischenpersönlichen Interaktionen korrekt und adäquat verstehen lässt“ (112). Vor diesem Hintergrund benennt Artamonova ein Kapitel mit der Überschrift „Die imaginäre Welt der Kanaken: Zugehörigkeitszuschreibungen in einer multiethnischen Klasse“ (109-143). Hier wird geklärt „unter welchen identitären Selbst- / Fremdbezeichnungen und Annahmen [...] die meisten Unterrichtssituationen verlaufen“ (109). Es wird u. a. herausgefunden, dass „Ironie eine der Strategien zur Differenzmarkierung bzw. zur Hervorhebung von Unterschieden auf eine implizite Art“ (120) ist. Zweitens spielt die „interaktionale Bearbeitung der ethnischen Zugehörigkeiten“ (145-194) eine Rolle. Es wird u. a. festgestellt, dass „humoristische Anspielungen, die auf die ‚Herkunftsländer‘ der Schüler zurückgreifen oder stereotypische Extremzuschreibungen im Kern ihrer Kritik haben, [...] die häufigsten Modelle der Ordnungs- und Disziplinherstellung in der Gruppe [der Schüler_innen sind]“ (162). Drittens werden „gesichtsbedrohende Kategorisierungen nach Aussehen“ (195-209) beschrieben, die sich u. a. „in Form von Frotzeleien, der Ausbeutung von Stereotypen und Hypertypen oder ironischen Anspielungen“ äußern und die „nicht nur der reinen Informationsvermittlung oder der Rekonstruktion der In-Group, sondern auch zur Regulierung der zwischenmenschlichen Beziehungen in der Klasse“ (195) dienen.

Der dritte Teil der Studie „mehrsprachige Realitäten der Schüler und ihre Realisierung in (außer)Schulischen [sic] Kontexten“ (211-282) geht den folgenden Fragestellungen nach: „Unter welchen gesellschaftlichen und schulischen Bedingungen verlaufen die Prozesse der Mehrsprachigkeit, die den Alltag der Hauptschüler bestimmen? Ist es überhaupt obligatorisch, dass polykulturelle/polyethnische Gruppen wie die H7 (überall) polylingual sind? Auch wenn das die Tatsache ist, unter welchen Konstellationen geschieht das dann? Wie geht die Institution Schule mit den Merkmalen der Mehrsprachigkeit um?“ (213). Die Fragen werden beantwortet, indem zuerst eingegangen wird auf „polylinguale Praktiken im (monolingualen) Unterricht“ (217-241). Diesbezüglich konnte u. a. herausgefunden werden: „Die Schüler berichten, dass ihre Muttersprachen [...] im schulischen Kontext nicht willkommen sind“ (221). Zweitens sind „Interaktionsdynamiken im Ethikunterricht“ im Sinne eines „‚Doing Ausländer‘“ (243-257) wirkmächtig, die sich folgendermaßen äußern: „Auf einer Seite spielen die Schüler selbst Ausländer / Nicht-Muttersprachler. Auf der anderen Seite werden sie durch solche Praktiken künstlich zu Ausländern / Nicht-Muttersprachlern gemacht“ (250). Drittens werden „die virtuellen linguistischen Landschaften der Schüler: Dissens-Diskurs“ analysiert (259-282) und u. a. festgestellt, dass „in der Facebook-Community grenzenlose multikulturelle Landschaften kreiert werden“ (267).

Die Dissertation endet mit einer „Zusammenfassung“ (283-286) und darin konstatiert Artamonova: „Die vorliegende Fallstudie ermöglicht einen Einblick in Mikroprozesse der Schülerkommunikation [...]. Durch aufmerksame Beobachtung sowie die Mikroanalyse der schulischen Daten konnten die sozialen Welten moderner Schüler erfolgreich untersucht werden. Außerdem konnte anhand dieser Daten die Konstruktion der lokalen Ordnung in der Gruppe erforscht und die allgemeinen Gruppendynamiken im institutionellen Setting sowie außerhalb dessen nachvollzogen werden“ (283).

Olga V. Artamonova thematisiert in ihrer Dissertation hochaktuelle und gesellschaftlich wichtige Fragen. Die methodische Herangehensweise ist durchdacht, gut gewählt, zeitaufwändig und setzt Maßstäbe für künftige Studien über die Konstruktion von Fremd- und Andersartigkeit der Schüler_innen in und durch die Institution Schule und schulrelevanten Personen. Die Interviewzitate sind spannend zu lesen und gut ausgewählt. Positiv ist außerdem der Nachweis der Konstruktion des monolingualen Habitus im Schulalltag multilingualer Schüler_innen durch die Institution Schule, der Artamonova gut gelingt. Auch die Analyse der Identitätsarbeit der Jugendlichen bei Facebook hebt ihre Studie von anderen Untersuchungen ab und die Analyse der medialen Lebenswelt der Schüler_innen stellt sicherlich einen wichtigen Bezugspunkt für künftige Studien dar. Die Nachbesprechungen mit den Schüler_innen hätten jedoch größeren Raum in der Dissertation einnehmen müssen.

Kritikwürdig ist Artamonovas laxer Umgang mit Begriffen wie Ausländer, Ethnie, Kanake, Muttersprache und Rasse, die sie nicht hinreichend thematisiert und kritisiert. Außerdem beschreibt sie fälschlicherweise ganz eindeutig rassismusrelevante Sachverhalte (zum Teil offen biologistische Rassekonstruktionen und biologistischen Rassismus) der Lehrer_innen gegenüber den Schüler_innen als Ironie, Spaß oder Frotzeleien und schreibt ihnen sogar positive Wirkungen für den Aufbau der Gruppenidentität zu. Dies geschieht nicht nur an einigen wenigen Stellen, sondern über die gesamte Dissertation hinweg. Hierbei ignoriert Artamonova die formulierte Kritik der Schüler_innen an solchen Praktiken, die sie in den Nachbesprechungen äußern, obwohl sie diese Stellen in ihrer Arbeit zitiert. Es entsteht dadurch der Eindruck, dass die Autorin die Lehrkräfte in Schutz nehmen möchte. Eine rassismuskritische Herangehensweise an das Material hätte der Dissertation gutgetan und wäre vor dem Hintergrund des zitierten Materials dringend notwendig gewesen.
Karim Fereidooni (Bochum)
Zur Zitierweise der Rezension:
Karim Fereidooni: Rezension von: Artamonova, Olga V.: „Ausländersein“ an der Hauptschule, Interaktionale Verhandlungen von Zugehörigkeit im Unterricht. Bielefeld: transcript 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 3 (Veröffentlicht am 30.05.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383763461.html