Anselm Böhmer beschäftigt sich in seinem Buch mit den Bedingungen und Notwendigkeiten einer Inklusion von Schüler_innen mit Fluchtgeschichte im deutschen Schul- und Bildungssystem. Über „neue Konzepte für die Bildungsarbeit mit Geflüchteten“ nachzudenken, erscheint nicht nur aufgrund des quantitativen Anstiegs von Geflüchteten in der Gesellschaft wie in den Bildungsinstitutionen der Bundesrepublik dringend notwendig. Auch die zunehmende Verschränkung von Bildungs- und Integrationspolitik, damit einhergehende neue politische Steuerungsformen und eine sich dabei abzeichnende „Ökonomisierung des Sozialen“, machen es erforderlich, politische wie gesellschaftliche (Selbst-)Verständnisse um Integration und Bildung zu hinterfragen. Dass es mit Blick auf aktuelle Bildungsstatistiken bisher in Deutschland nur unzureichend gelungen ist, vor allem junge Menschen mit Migrationsgeschichte „angemessen in Bildung, Erwerbsarbeit und schlussendlich in Gesellschaft“ zu integrieren und insbesondere „ausländische Kinder und Jugendliche“ nach wie vor „in vielfältigen Formen exkludiert“ (84) werden, stellt für Böhmer nicht nur Ergebnis seiner Analyse, sondern auch einen zentralen Anlass dar, sich Fragen nach dem Umgang mit Geflüchteten im deutschen Bildungssystem kritisch zuzuwenden.
Anders als der Titel seines Buches suggeriert, knüpft Böhmer mit dem Begriff der „Integrationstechnologie“ nur am Rande an Auseinandersetzungen an, die die „sozialtechnologische Ausrichtung“ (Hess) eines „Integrationsdispositivs“ (Mecheril) und dessen Auswirkungen – bspw. in Form einer zunehmenden Aktivierung und Disziplinierung von „Integrationssubjekten“ – im Bildungs- und Beschäftigungssystem problematisieren. Auch formuliert Böhmer – wie der Untertitel seines Buches vermuten ließe – keine konkreten Konzepte hinsichtlich eines Umgangs mit migrationsbedingter Heterogenität für Politik und Praxis. Der Autor reflektiert in seinem Text – den er selbst als „Essay“ (9) charakterisiert – vielmehr aus bildungsphilosophischer und -theoretischer Perspektive eine notwendige Haltung, die es im (neuen) gesellschaftlichen Miteinander einzunehmen gilt. Hierfür skizziert er empirische Befunde jüngerer nationaler wie internationaler Studien zur Situation sog. Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland (Kapitel 1 und 3), analysiert die „diesen eingeschriebenen Bildungskonzeptionen“ (Kapitel 2 und 4) und reflektiert (Un)Möglichkeiten, „über Bildungsprozesse die Inklusion von Geflüchteten zu befördern“ (Kapitel 5).
In der Entwicklung einer bildungstheoretischen Position hinsichtlich der formalen und non-formalen Bildung von Migrant_innen in Deutschland, befasst sich Böhmer vor allem mit den Aspekten der „Fremdheit“ bzw. des „Fremdseins“, der „Subjektivierung“ und „Subversion“ sowie der „Inklusion“. Seine Argumentation basiert auf der Grundannahme, dass in Anbetracht zunehmender Transnationalisierungs- und Hybridisierungsprozesse eindimensionale und dichotom angelegte Zugehörigkeitskonzepte „von InländerInnen und AusländerInnen, von Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft und Geflüchteten“ (12) nicht haltbar seien; Zugehörigkeit vielmehr im Sinne einer flexiblen und fluiden Mehrfachzugehörigkeit über weit mehr als den natio-ethno-kulturellen Hintergrund definiert werden müsse. Um dichotome Kategorisierungen zu dekonstruieren, spricht sich Böhmer dafür aus, einen „„offenen Raum“ der Bildung“ (74) anzustreben, der nicht auf der (Re)Produktion eines gesellschaftlichen „Außen“ und „Innen“ basiert, sondern auf dem gemeinsamen Gefühl des Fremdseins. In diesem Gefühl sieht er verbindendes Potential, da dieses „auch bei größter Unterschiedlichkeit“ als „grundsätzliche Erfahrung“ (75) aller – alter wie neuer – Gesellschaftsmitglieder verstanden werden kann. Die „Fremde nicht als Bedrohung, sondern als Sinnbild der eigenen Erfahrungen“ zu begreifen und dies im Rahmen einer „Pädagogik der Fremde“ (74) zu vermitteln, erscheint für Böhmer grundlegend für inklusive Bildungsprozesse.
Zudem wendet sich Böhmer der subjektivierenden Funktion von Bildungsinstitutionen zu. So würden diese immer auch auf spezifische Weise „auf Individuen zugreifen und von ihnen der institutionellen Logik angemessene Ausdrucksformen von Individualität [...] einfordern“ (39). Geflüchtete seien hiervon auf vielfältige Weise betroffen. Bildungsarbeit müsse deswegen auch zum Ziel haben, Geflüchtete wie auch alle anderen in einer Gesellschaft lebenden Individuen die „eigene biographische Ausgestaltung“ (40) von Subjektivität zu ermöglichen und sie in die Lage zu versetzen, vorgegebene Normen und Diskurse der Subjektbildung sowie damit verbundene hegemoniale Ordnungen zu hinterfragen, subversiv zu interpretieren und so zu transformieren.
In einer dritten Theorieperspektive spricht sich Böhmer gegen die Begriffe der Assimilation und Integration aus und macht sich für den Begriff der Inklusion stark, wenn es um die Ermöglichung einer gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe sowie einen Abbau von (Bildungs-)Diskriminierung geht. Anstatt junge Menschen mit Fluchtgeschichte im Sinne von Assimilation und Integration „vollumfänglich [...] in eine homogen vorgestellte Gesellschaft“ bzw. „die vorgegebenen Ordnungen“ (14f) einzupassen, müssten sich „bisherige Abläufe, Strukturen und professionelle Kompetenzen merklich weiten und transformieren“ (84). Dazu gehöre auch, allen Geflüchteten – unabhängig von ihrem aufenthaltsrechtlichen Status – Zugänge zu Bildung zu ermöglichen (83). Vor dem Hintergrund von Böhmers Auffassung einer prinzipiellen Mehrfachzugehörigkeit von Individuen und Gruppen, könne sich Inklusion dabei immer nur auf „„Teilausschnitte“ menschlicher Praxis“ beziehen; „polyvalent[e], dynamisch[e] und fragil[e]“ (22) Identitäten erforderten zudem „temporäre Arrangements von Inklusion“ (17); hierauf müsse in der politischen Bildungsarbeit flexibel eingegangen werden.
Insgesamt liefert Böhmers Essay anregende Impulse hinsichtlich eines (neuen) Umgangs mit Migration in der Bildungsarbeit ohne dabei – wie so häufig – die Analyse auf den „natio-ethno-kulturellen Hintergrund“ der Migrationssubjekte und diesbezüglich vorgenommene Problematisierungen zu fixieren. Die zahlreichen theoretischen Bezüge sowie empirischen Befunde bleiben letztlich jedoch recht unvermittelt nebeneinander stehen und erscheinen in ihrem Verhältnis teilweise inkonsistent und recht unkonkret. So bleiben am Ende von Böhmers Ausführungen viele Fragen offen, wie zum Beispiel: Was verspricht die Vergewisserung eines (vermeintlich) gemeinsamen Fremdheitsgefühls über die Herstellung eines temporären Gemeinschaftsgefühls hinaus? Wie gelingt es darüber, gesellschaftliche Machtasymmetrien, damit verbundene Interessen und Diskriminierungsverhältnisse zu dekonstruieren bzw. zu bearbeiten und so der Voraussetzungshaftigkeit eines „offenen Bildungsraumes“ zu begegnen? Und wie kann über die Reflexion des eigenen Subjektverständnisses konkret zur Veränderung des gesellschaftlichen Status quo beigetragen werden, ohne die Verantwortung hierfür letztlich (doch) allein in die Hände der „Migrationssubjekte“ – sprich der Geflüchteten – zu legen?
Dass Böhmer darauf verzichtete, sich Fragen von „Diskriminierung sowie ihren Perspektiven für Institutionen von Bildung, Ausbildung und Erwerbsarbeit“ (9) zuzuwenden, ist eine echte Leerstelle – erscheint eine Auseinandersetzung mit (institutioneller) Diskriminierung doch gerade wesentlich, um Subjektivierungsprozesse und ihre Effekte nachzuvollziehen sowie Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer Transformation aktueller Bildungs- und Integrationspolitik zu fundieren und zu konkretisieren.
Dass es auch für Wissenschaftler_innen ein voraussetzungsvolles Unterfangen ist, eine kritische Distanz zum Integrationsdispositiv einzunehmen, zeigt sich u.a. darin, dass Böhmer in seinem Essay immer wieder auf normalisierte Grundannahmen um Migration und Integration zurückfällt. So warnt er bspw. zwar vielfach vor einer „Verengung“ der Thematisierung von Bildung und Migration „auf Humankapital-Debatten“ (35), referiert dabei aber selbst immer wieder auf die „ökonomischen Mehrwert-Möglichkeiten“ (23) von Geflüchteten, um so gleichsam aus der volkswirtschaftlichen Verwertungsperspektive zu argumentieren, dass Migration „kein Verlustgeschäft“ (25) sei. Eine solche „Verstricktheit“ in herrschende Diskurse und Argumentationen macht weniger die Unsinnigkeit als vielmehr die Notwendigkeit deutlich, den aktuellen gesellschaftspolitischen wie eigenen Umgang mit normalisierten Denkrichtungen auf Migration im Bildungssystem zu hinterfragen. Hierfür sowie hinsichtlich der Frage, wie sich demokratischen (Bildungs-)Räume im Kontext gesellschaftlicher Transformationen konkret ausgestalten lassen, kann Böhmers Ansatz inspirieren.
EWR 16 (2017), Nr. 1 (Januar/Februar)
Bildung als Integrationstechnologie?
Neue Konzepte fĂĽr die Bildungsarbeit mit GeflĂĽchteten
Bielefeld: transcript 2016
(120 S.; ISBN 978-3-8376-3450-1; 14,99 EUR)
Ellen Kollender (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ellen Kollender: Rezension von: Böhmer, Anselm: Bildung als Integrationstechnologie?, Neue Konzepte fĂĽr die Bildungsarbeit mit GeflĂĽchteten. Bielefeld: transcript 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 1 (Veröffentlicht am 02.02.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383763450.html
Ellen Kollender: Rezension von: Böhmer, Anselm: Bildung als Integrationstechnologie?, Neue Konzepte fĂĽr die Bildungsarbeit mit GeflĂĽchteten. Bielefeld: transcript 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 1 (Veröffentlicht am 02.02.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383763450.html