Der Zugang von Menschen mit Migrationsgeschichte zur deutschen Hochschullandschaft ist proportional zum Bevölkerungsanteil an Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland immer noch in einem Missverhältnis. Erlangen junge Erwachsene mit Migrationsgeschichte, den Zugang zu deutschen Hochschulen, entstehen Fragen, die die Heterogenität der Studierenden und die damit verbundene Diversität der Hochschullandschaft in das Blickfeld hochschulischer Debatten und sozialwissenschaftlicher Forschungsarbeiten rückt.
Biographieanalytische Herangehensweisen an studentische Biographien in sich verändernden Hochschullandschaften sind daher notwendig. In diesem Kontext vorliegende Arbeiten untersuchen vor allem soziale und geschlechterbezogene Ungleichheitsverhältnisse in Bezug auf die subjektive Verarbeitung sozialer Mobilitätsprozesse. Ein erweiterter Blick auf Biographien von Studierenden, die Migrationsprozesse und deren Einbindung in migrationsgesellschaftliche Differenzverhältnisse fokussieren, sind bislang in der Forschungslandschaft jedoch wenig beleuchtet worden. Zudem gibt es erst in jüngster Zeit einige wenige Untersuchungen zum Diskurs über „pädagogisch Professionelle mit Migrationsgeschichte“, die im Fokus des Diskurses über „Bildungserfolg“ stehen und aufgrund der bildungspolitischen Forderung nach einer Erhöhung des Anteils pädagogischer Professioneller mit Migrationsgeschichte vielfältigen Erwartungen ausgesetzt sind [1, 2].
Die von Dorothee Schwendowius vorgelegte Untersuchung verknüpft beide Ebenen wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses, indem sie die Erfahrungen von Studierenden mit Migrationsgeschichte „im Kontext universitärer Bildung“ ins Zentrum rückt und analysiert, wie sich die „Subjekte zur Universität und zum (pädagogischen) Studium ins Verhältnis setzen, wie biographische Vorerfahrungen und Sinnressourcen im Studium anschlussfähig werden und schließlich wie sich Teilhabe und Zugehörigkeit sowie Marginalisierungserfahrungen im Studium konstituieren“ (15). Um „Selbst-“ und „Fremdpositionierungen“ der Studierenden zu analysieren, die mit der „beruflichen Stellung der Pädagogin und des Pädagogen mit Migrationsgeschichte“ verknüpft sind, analysiert Schwendowius hierzu Lebensgeschichten von Studierenden, die Studiengänge belegt haben, welche für „pädagogische Berufe qualifizieren“.
Schwendowius fasst die relevanten Fragestellungen für die empirische Untersuchung in zwei Komplexe (15): Erstens: Wie gestalten sich die Bildungsbiographien von Studierenden im Kontext (migrations-)gesellschaftlicher Differenzverhältnisse? Dabei interessiert Schwendowius vor allem wie Studierende ihre Bildungsgeschichten konstruieren, welche Voraussetzungen und Ressourcen den Studierenden, die Teilhabe an universitärer Bildung ermöglichen, welche Zugehörigkeits- und Marginalisierungserfahrungen die Studierenden in Institutionen des Bildungssystems machen und schließlich wie sich Selbst- und Zugehörigkeitsrekonstruktionen im Verlauf der Lebensgeschichte (trans-)formieren. Der zweite Komplex geht der Fragestellung nach, welche biographischen Prozesse und Erfahrungen sich mit dem (pädagogischen) Studium verbinden. Insbesondere wie biographische Erfahrungen im Kontext des (pädagogischen) Studiums anschlussfähig werden, wie sich die Studierenden im „Bildungskontext Universität“ selbst positionieren und wie sie als angehende Pädagoginnen und Pädagogen mit Migrationsgeschichte von anderen positioniert werden.
Zur Bearbeitung der komplexen Fragestellungen greift Schwendowius auf „Perspektiven und Konzepte der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung“ (15) zurück, die zugleich den theoretischen und methodischen Rahmen der Untersuchung setzen. Schwendowius verknüpft den „biographieanalytischen Ansatz“ mit „zugehörigkeitstheoretischen Überlegungen“ nach Mecheril (2003), „die es ermöglichen, die Lebensgeschichten als eine sequenzielle Abfolge von Relationen der Subjekte zu bildungsrelevanten Kontexten zu lesen, in denen sich biographische Erfahrungsressourcen und Zugehörigkeitsverständnisse herausbilden und transformieren“ (16) und die Annahme zugrunde legen, dass „Bildungskontexte“ immer in Relation zu „gesellschaftlichen Machtverhältnissen“ gesetzt werden müssen, um erfassen zu können, welche den Subjekten jeweils „unterschiedliche Zugehörigkeitserfahrungen und Positionierungen ermöglichen“ (511).
Die biographisch-narrativ erhobenen Interviews wertet Schwendowius auf exzellentem Niveau, präzise und bemerkenswert tiefgründig aus. Auf rhetorisch hohem Niveau expliziert und präsentiert Schwendowius gewonnene Erkenntnisse sowohl in der Beschreibung der sorgfältig ausgewählten Einzelfallanalysen als auch im kontrastiven Vergleich unter Einbezug des erweiterten Datenmaterials.
Schwendowius zeigt in ihrer qualitativ-rekonstruktiv angelegten Untersuchung und mit Hilfe des gewählten Zugangs der biographieanalytischen Perspektive exemplarisch an individuellen Bildungsgeschichten auf, wie divers Bildungsverläufe von „Studierenden mit Migrationsgeschichte“ sind. Dabei wird deutlich, dass keineswegs von einer „Homogenität“ der Bildungsbiographien aufgrund „ethnischer Zuschreibungen“ und damit verbundener gesellschaftlicher Differenzverhältnisse ausgegangen werden kann, wie beispielsweise viele large-scale Analysen suggerieren, deren quantitativ erhobene Datensätze häufig zu Ergebnissen führen, die gar eine direkte Kausalität zwischen „Migrationsgeschichte“ und „Bildungserfolg“ oder „-misserfolg“ herstellen. Diese verkürzte Sichtweise auf Bildungsbiographien von Studierenden mit Migrationsgeschichte lassen vor allem individuelle und kollektive Wirkungsprozesse auf Bildungsbiographien, die nicht quantitativ erhebbar sind, außer Acht. Die Diversität der Bildungsgeschichten der Studierenden, deren Gemeinsamkeit die „Gegenwart als angehende Pädagoginnen und Pädagogen“ ist, zeigt sich insbesondere aufgrund der „jeweiligen Position der Familien im sozialen Raum [in dem sie] über unterschiedlich konfigurierte Kapitalressourcen“ (513) verfügen und den Umgang der Biographinnen und Biographen mit dem „Bildungserbe“ der Eltern.
Des Weiteren arbeitet Schwendowius heraus, dass „Teilhabechancen und Erfahrungen von Zugehörigkeit im Bildungssystem eng mit Wirksamkeits- und sozialen Anerkennungserfahrungen verbunden sind“ (514) (Wiezorek / Grundmann 2013 zit. n. Schwendowius, 514). Anders als im schulisch geprägten Bildungsverlauf, in dem die Studierenden oftmals Ausgrenzungserfahrungen bspw. aufgrund „institutioneller Diskriminierung“ ausgesetzt waren, ist eine „zentrale Voraussetzung für die Herstellung von Teilhabe und Zugehörigkeit“ im universitären Kontext, „dass die Subjekte sich selbst als Akteur /innen und Konstrukteur /innen ihrer Bildungsbiographie verstehen müssen“ (516). Dabei ist die Analyse der „Bedingungen des jeweiligen Studienkontexts“ bedeutsam, deren Untersuchung das Zusammenspiel von „gesellschaftlich verankerten Dominanzverhältnissen, spezifischen institutionellen Hierarchien und Unterscheidungspraktiken“ (516) fokussieren sollte.
Schwendowius Studie zeigt in besonders bemerkenswerter Weise die (mögliche) Stärke biographieanalytisch angelegter Studien im Rahmen „migrationsspezifischer Themenstellungen“ auf zwei Ebenen: auf der einen Seite können durch das offenlegen „individueller biographischer Prozessstrukturen“ in präzise analysierten „Eckfällen“ über den kontrastiven Vergleich des gesamten Datenmaterials hinaus verallgemeinerbare Aussagen durch relevante Kategorienbildungen getroffen werden, ohne die mit der Forschungsfrage verbundene Gefahr der „Reproduktion ethnischer Typisierungen“ einzugehen. Auf der anderen Seite kann der gewählte methodische Zugang durch das offene Vorgehen, das biographieanalytisch-rekonstruktiven Studien zugrunde liegt, wissenschaftlichen Fortschritt anregen, indem die Komplexität der Erkenntnislage in der Bearbeitung des Forschungsgegenstandes sichtbar wird. In diesem Sinne stellt Schwendowius in Bezug auf den Diskurs um „Professionelle mit Migrationsgeschichte im Bildungssystem“ fest, dass die Notwendigkeit „im pädagogischen Studium [besteht,] Möglichkeiten zur systematischen Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Theorien und Erklärungsansätzen zu eröffnen, die Alternativen zu den im öffentlichen Integrationsdiskurs vorherrschenden Deutungsangeboten darstellen, die –„Bildungserfolge“ in erster Linie der Leistungs- und Assimilationsbereitschaft der Schüler /innen und ihrer Familien zuschreiben“ (528). Als Grundvoraussetzung für die Möglichkeit dieser Auseinandersetzung muss für „alle“ angehenden Pädagoginnen und Pädagogen, die „systematische Reflexionsmöglichkeit“ der „eigenen Bildungsgeschichten“ geschaffen werden.
[1] Bräu, K. / Georgi, V. B. / Karakaşoğlu, Y. / Rotter, C.: Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund. Zur Relevanz eines Merkmals in Theorie, Empirie und Praxis. Münster: Waxmann 2013.
[2] Karakaşoğlu, Y.: Lehrer, Lehrerinnen und Lehramtsstudierende mit Migrationshintergrund. Hoffnungsträger der interkulturellen Öffnung von Schule. In: Neumann, U. / Schneider, J. (Hg.): Schule mit Migrationshintergrund. Münster: Waxmann 2011, 121-135.
EWR 16 (2017), Nr. 2 (März/April)
Bildung und Zugehörigkeit in der Migrationsgesellschaft
Biographien von Studierenden des Lehramts und der Pädagogik
Bielefeld: transcript 2015
(560 S.; ISBN 978-3-8376-3194-4; 49,99 EUR)
Sevgi Söyler (Nürnberg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sevgi Söyler: Rezension von: Schwendowius, Dorothee: Bildung und Zugehörigkeit in der Migrationsgesellschaft, Biographien von Studierenden des Lehramts und der Pädagogik. Bielefeld: transcript 2015. In: EWR 16 (2017), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.03.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383763194.html
Sevgi Söyler: Rezension von: Schwendowius, Dorothee: Bildung und Zugehörigkeit in der Migrationsgesellschaft, Biographien von Studierenden des Lehramts und der Pädagogik. Bielefeld: transcript 2015. In: EWR 16 (2017), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.03.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383763194.html