„Der Basissatz des Sammlers ist […]: […] Nur ein Sammler versteht einen Sammler. Leute, die mit Sammeln nichts am Hut haben, die sagen: Was für ein Spinner. Wie kann man nur? Was macht der da?“ (Füllfederhalter-Sammler Jens Schulz)
Diese Selbstaussage eines Sammlers, zitiert im Vorwort (11), scheint auf den ersten Blick banal zu sein. Sie ist es jedoch nicht, wenn man sich als Forscherin in die nicht bloß skurrile und vielfältige Welt der Sammler, Sammlungen und Sammelgemeinden hineinbegibt und ihre Eigenschaften systematisch erkundet. Triviale Dinge des Alltags zu sammeln, wie Füllfederhalter, mag für Nichtsammler eher exotisch anmuten. Größere Akzeptanz, weil millionenfach und international verbreitet und in einer über hundertjährigen Tradition verankert, erfährt vermutlich das Sammeln von Briefmarken. Relativ neu ist seit den 1950iger Jahren des letzten Jahrhunderts das Sammeln von Barbiepuppen. Alltägliche Dinge wie diese und unzählige andere Dinge (z.B. Bierdeckel, Kronkorken, Sammeltassen) zu sammeln, ohne Gebrauchs- und Verbrauchsintentionen, jenseits hochkultureller und wissenschaftlicher Bildungs- und Aufklärungsansprüche samt den dazugehörigen besonderen Orten wie Museen oder wissenschaftlichen Institutionen, ist eine Begleiterscheinung der Industrialisierung und der Massenproduktion seit dem 19. Jahrhundert. Zwar ist das Thema Sammeln inzwischen Gegenstand unterschiedlichster wissenschaftlicher Disziplinen, wie der Philosophie, Psychologie, Soziologie, Kulturwissenschaften und nicht zuletzt auch der Erziehungswissenschaft. Sie thematisieren das Sammeln unter anthropologischer, kulturhistorischer, psycho-pathologischer Perspektive und, was die Pädagogik angeht, primär unter dem Aspekt der Bedeutung des Sammelns für die Entwicklung und Bildung von Kindern. Jedoch fehlen, so die Autorin, bis heute Untersuchungen darüber, wie Erwachsene triviale Dinge sammeln, welche lebensgeschichtliche Bedeutung sie dem Sammeln zuweisen, wie sie sich zu Sammlergemeinschaften mit dazugehörigen Kommunikationsstrukturen, Wissensaneignungs- und Wissensvermittlungsmöglichkeiten zusammenschließen. Die für die Erziehungswissenschaft und im engeren Sinne für die Erwachsenenbildung leitende Forschungsperspektive lautet, „wie Sammler/innen kommunikativ mit Wissen umgehen und welche kommunikative Praktiken und Strukturen beim Sammeln von Gegenständen entstehen“, welche pädagogischen Kommunikationsformen entstehen und „inwiefern sie für eine Bildung Erwachsener in sozialen Welten bedeutsam sind“ (22).
Nun verweist der eingangs zitierte Sammler darauf, dass für den Außenstehenden die Binnenwelt der Sammler befremdlich ist und damit auch unbekannt bleibt, wenn man sich nicht selbst mit dem Sammeln identifiziert oder als Sammler unter Sammlern anerkannt wird. Triviale Gegenstände sammeln im Kontext von Sammlergemeinschaften und Sammlungen, diese Tätigkeit ist keineswegs trivial und für jedermann leicht zugänglich, schaut man auf ihre Praktiken, Ordnungs- und Wertungsstrukturen, Wissensformen und Expertisen wie auch auf normierte Umgangsformen, Fachsprache und Fachliteratur, auf virtuelle und manifeste Tausch- und Austauschbörsen usw. Laut Denise Wilde gibt es zu diesem Untersuchungsfeld der Alltagspraktik des Sammelns von Erwachsenen keine einschlägigen Forschungen, so ihr Resümee (57ff). Ihre Forschungen eröffnen also eine neue Perspektive auf diese Art der Alltagskultur von Erwachsenen. Gemäß dem Anspruch qualitativer Feldforschung hat sich die Forschung ihrem Gegenstand anzumessen, um seinen Eigentümlichkeiten und internen Konstitutions-„Logiken“ auf die Spur zu kommen. Deshalb geht die Autorin hinein in die drei sehr unterschiedlichen Sammelwelten der Sammler von Füllfederhaltern, Barbiepuppen und Briefmarken, um selbst einschlägige Erfahrungen zu sammeln und sich der Perspektive der Sammler und Sammlerinnen anzunähern.
Für die systematische Erforschung verwendet sie klassische ethnographische Forschungsverfahren (Felderkundungen durch teilnehmende Beobachtung, narrative Interviews mit ausgesuchten Sammlern und Sammlerinnen, Studium der einschlägigen Fachliteratur samt Begrifflichkeiten und Kommunikationsnetzen, Besuch von Sammlerbörsen und -treffen) und generiert auf der Grundlage der Grounded Theory theoretisch relevante Theorien zum Sammeln dieser drei trivialen Alltagsgegenstände (Kap. 3). Der Leser wird in den Kapiteln 4 „Datenauswertung“ und 5 „Das Sammeln trivialer Objekte im Vergleich. Zur Konstitution sozialer Welten“ mit den Ergebnissen der Datenaufbereitung, der Gewinnung des Fragenkatalogs, der Themenbereiche und Kategorien wie auch des Vergleichs der Strukturen der drei unterschiedlichen sozialen Sammelwelten bekannt gemacht. Ausgewertet wird der Umgang mit Wissen bei Füllfederhalter-, Barbiepuppen- und Briefmarkensammlern. Verglichen werden ihre Kommunikationsrahmen, spezifischen Gemeinschafts- und Sozialformen, Settings wie auch eigentümliche Dimensionen einzelner Sammelgebiete. Gesucht wird nach Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten in der Kommunikation mit dem Ziel der Typenbildung (z.B. offene oder mehr geschlossene, demokratische oder eher hierarchische Sammlerkommunen; Sammlertypen: Laie, Spezialist, Experte). Nicht zuletzt, weil für eine erziehungswissenschaftliche Arbeit relevant, werden mehr oder weniger patente oder latente Formen pädagogischer Intentionalität thematisch, d.h. Kommunikationsformen des Lernens und der (Selbst-)Bildung, in denen Sammler sich mit Hilfe der Mitsammler Wissen aneignen oder Wissen weitervermitteln. Darüber hinaus werden biographische Prozesse der Identifikation und Identitätsbildung durch das Sammeln in ihren individuellen oder kollektiven Formen aufgezeigt. Diese methodische Vorgehensweise der Theoriegenerierung an einem Beispiel detailliert nachvollziehbar zu machen, hätte vermutlich den Rahmen der Buchveröffentlichung gesprengt. Die Ergebnisse dieser Feldforschungen zeigen deutlich und gut nachvollziehbar, wie komplex das Sammeln von trivialen Objekten und die dazugehörigen Praktiken wie auch Wissens- und Kommunikationsstrukturen sind. Man kann sich ohne Mühe vorstellen, dass deswegen das Sammeln für einzelne Sammler eine lebensgeschichtlich wichtige Bedeutung besitzt, dass sie in diese Sammelwelten eintauchen und dort ihre gesellschaftliche Anerkennung erfahren, dass diese Sammlergemeinschaften und das Sammeln selbst sogar für den einen oder anderen zum Lebensmittelpunkt werden können.
Wie lassen sich diese Feldforschungen über das Sammeln von trivialen Objekten in der Erziehungswissenschaft respektive der Erwachsenenbildung verorten? In Kapitel 2 „Erwachsenenbildung und Bildung Erwachsener: Theoretische Hintergründe und Konzepte“ versucht Denise Wilde hauptsächlich mit Referenz auf systemtheoretische Theoriebildungen der Erwachsenenbildung zu verdeutlichen, dass Lern- und Bildungsprozesse von Erwachsenen auch außerhalb traditioneller Institutionen und Organisationen stattfinden und damit die in der Erwachsenenbildung diskutierte Diagnose der Entgrenzung oder auch Universalisierung des Pädagogischen auf eine beobachtbare Realität treffen. Die Frage nach einer institutionell, organisatorisch und theoretisch gesicherten Identität der Disziplin ist sicherlich für ihre Selbstlegitimation wichtig, besonders dann, wenn ihr Gegenstandsfeld diffundiert. Inwieweit jedoch ihr mit systemtheoretischer Begrifflichkeit operierendes Objektverständnis passend für die Beschreibung der mehr oder weniger intentionalen und präreflexiven Prozesse der Wissensvermittlung und Wissensaneignung in den Sammelwelten der Erwachsenen ist, bezweifelt die Autorin zu Recht und sie vermeidet in der Darstellung ihrer Feldforschung weitgehend diese Begrifflichkeit. Denn in der Feldforschung treffen Forscher auf konkrete Personen, die miteinander kommunizieren und interagieren, dort auch eigene Strukturen, Regeln, Normen und Organisationsformen schaffen, nicht aber auf anonyme psychische, kognitive, Wissen verarbeitende und soziale Systeme. Feldforschungen und Systemtheorie passen weder systematisch noch begrifflich zueinander. Auch benötigt man den systemtheoretischen Diskurs nicht, wenn man das eruieren will, was in der Feldforschung deutlich wurde: dass nämlich mehr oder weniger intentional verfasste, nicht wie in der systemtheoretischen Perspektive der Erwachsenenbildung auf bloße Wissenskommunikation reduzierte Lern- und Bildungsprozesse in vielen gesellschaftlichen Bereichen jenseits pädagogischer Institutionen stattfinden. Das wusste schon die geisteswissenschaftliche Tradition der Pädagogik, und das systematisch zu erfassen, dafür haben deskriptive, phänomenologisch und lebensweltlich orientierte Forschungen das methodische, begriffliche und inhaltliche Rüstzeug zur Verfügung gestellt.
Fraglich jedoch bleibt dem Rezensenten, ob die drei trivialen Sammelobjekte, die sicher für den einzelnen Sammler einen eigenen Wert besitzen, auch Objekte einer gehaltvollen Bildung darstellen? Dass sie Gegenstände komplexer Sammlertätigkeiten und hoch differenzierter Sammlerkommunen sind, in denen man mithilfe von Wissensaneignungs- und Wissensvermittlungsprozesse zum Experten werden kann, verleiht ihnen nicht deshalb schon einen eigenen Bildungswert.
EWR 14 (2015), Nr. 6 (November/Dezember)
Dinge Sammeln
Annäherungen an eine Kulturtechnik
Bielefeld: transcript 2015
(350 S.; ISBN 978-3-8376-2940-8; 34,99 EUR)
Wilfried Lippitz (Siegen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Wilfried Lippitz: Rezension von: Wilde, Denise: Dinge Sammeln, Annäherungen an eine Kulturtechnik. Bielefeld: transcript 2015. In: EWR 14 (2015), Nr. 6 (Veröffentlicht am 02.12.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383762940.html
Wilfried Lippitz: Rezension von: Wilde, Denise: Dinge Sammeln, Annäherungen an eine Kulturtechnik. Bielefeld: transcript 2015. In: EWR 14 (2015), Nr. 6 (Veröffentlicht am 02.12.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383762940.html