Kinder interessieren sich, wenn sie sich für Geschichte überhaupt interessieren, wohl zunächst für die historischen Taten ihrer Eltern, schon seltener für die ihrer Großeltern, nur noch äußerst selten für die der Ur-Großeltern und so weiter. Das, was Kinder umtreibt, bewegt offensichtlich auch jüngere Historikerinnen und Historiker. Entsprechend nimmt unter ihnen das Interesse an der geschichtlichen Aufarbeitung ihrer Elterngeneration, also der so genannten „68er Generation“, spürbar zu. Die Studie von Andrea Wienhaus zu den Bildungswegen der Studierenden, die sich im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts in Berlin dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) anschlossen, liegt auch wissenschaftlich im Trend. Denn sie ist wie der Großteil der Studien der neueren deutschen historischen Bildungsforschung national und auf die eigene Zeitgeschichte bezogen [1].
Wienhaus‘ Interesse gilt jenen sozialisierenden Indikatoren der persönlichen Lebens- und Bildungsbiographie, die Menschen, die sich in einer politischen Gruppe wie – in ihrem Fall – dem SDS zusammenfinden, miteinander gemein haben. Ziel dieser Betrachtung ist es, eine differenzierte Kollektivbiographie der SDSler zu schreiben. Als Quellen für ihre Analyse nutzt die Autorin zwei universitäre Archivbestände des Universitätsarchivs der Freien Universität Berlin (FU). Zum einen sind es Akten, die unter „Apo und Soziale Bewegung“ verschlagwortet sind und Auskunft über die Mitglieder des SDS im Umfeld der FU Berlin geben (58f). Zum anderen wertet Wienhaus die „Immatrikulationsakten“ aus, die die Mitglieder des SDS für ein Studium an der Freien Universität in Berlin einreichten. Letztgenanntes Material ist äußerst umfangreich: Die „Angaben der Person“ umfassen umfangreiche sozialgeschichtlich relevante Daten wie Name, Geburtsdatum, Zahl der Kinder, Beruf des Vaters und der Mutter, Ort des Erwerbs der Hochschulreife usw. Ferner befinden sich unter den Akten Beurlaubungs- und Exmatrikulationsanträge und Lebensläufe, die über den schulischen Verlauf und die elterliche Herkunft informieren, die vor allem aber auch Auskünfte über das politische und ehrenamtliche Engagement, die kulturellen und sportlichen Hobbies, die Einstellung zu Kultur und Gesellschaft sowie den intellektuellen Horizont der Studierenden in Form von Bildungsreisen oder Lektüre geben (233f).
Die Quellen befragt Wienhaus hinsichtlich verschiedener erkenntnisleitender Schwerpunkte: In dem mit „Kollektivbiographien“ überschriebenen Kapitel II wendet sie sich, erstens, – in fünf Abschnitten und in klassisch sozialgeschichtlicher Arbeitsweise – den Sozialisationshintergründen der als SDS-Mitglieder bestimmten Studierenden zu. Der erste Abschnitt befragt das Material bezüglich der Geburtsjahrgänge, des Familienstandes und des Geschlechts (93f). Der zweite Abschnitt untersucht die Angaben zur regionalen Herkunft und Mobilität (115f). Diesem folgt die Analyse der sozialen Herkunft und familiären Situation (135f). Hier ist die Analyse der Elternberufe sehr zentral (Kapitel 3.1 und 3.2) sowie die der Kriegseinflüsse auf die Anwesenheit des Vaters (Kapitel 3.3) und die mentalgeschichtliche Frage nach der Bürgerlichkeit in Studierendenschaft und Gesellschaft (Kapitel 3.4). Abschnitt vier diskutiert die Bildungswege zur Hochschulreife (157f) und der letzte die Bildungswege nach dem Erwerb der Hochschulreife (185f). Dass das Kapitel II abschließende „Zwischenfazit“ resümiert eine vielschichtige Befundlage der vorangegangen Abschnitte. Im Kern heißt es, dass die Studierenden des SDS im Hinblick ihrer regionalen und sozialen Herkunft wenig disparat sind, biographisch keine signifikanten Unterschiede zur damaligen „Gesamtstudierendenschaft" aufweisen sowie „einem ‚bürgerlichen‘ Leitbild entsprechen“, das für Wienhaus typisch für die akademisch orientierten Mittelschichten der 1960er Jahre ist (215). Kurz, es gibt für Wienhaus keine gravierenden Sozialisationshintergründe, die die Berliner SDSler biographisch als Studierende besonders hervorheben – nicht einmal der Vater als Pfarrer, der in vielen Deutungen der „68er“ eine mythische, diese Generation offenbar in den Widerstand führende gesellschaftliche Funktion zugesprochen bekommt, kann bestätigt werden (139).
Dass die Herausarbeitung der typischen Bürgerlichkeit der SDSler als Kinder der Mittelschichten nicht nur Befund ist – wie Kapitel II noch hätte suggerieren können –, sondern das leitende Erkenntnisinteresse der Autorin darstellt, das ihre Quellendeutung überschattet, macht das mit „Konstruktion eines Akademischen Selbst“ überschriebene Kapitel III mehr als deutlich und damit zum Problem der Studie. In diesem Teil der Studie analysiert Wienhaus die zum Großteil ausführlichen Lebensläufe. Quellendistanziert gibt Wienhaus vor, diese Dokumente als „Ego-Dokumente“ zu verstehen (63f). Als solche präsentieren diese nicht die wahre Haltung einer Person, sondern dienen einem Zweck – hier dem Zweck der Bewerbung um einen Studienplatz. Die Selbstdarstellung der als Bildungsreisen interpretierten Schülerfahrten ins Ausland (233), von politischem Interesse und Engagement (236), die Beteiligung in Sport- und Jugendgruppen (240), von dem Liebesverhältnis zu den Kulturgütern in Literatur und bildenden Kunst (241) sowie der Mitwirkung in schulischen Arbeitsgemeinschaften, der Schülermitverwaltung und den Schülerzeitungen (244) lässt Wienhaus zu dem Befund kommen, dass „dem Leitbild einer ‚bürgerlichen‘ Bildung (...) innerhalb der SDS-Gruppe durchaus eine bedeutende Orientierungsfunktion“ zukomme (260).
Das die Studie abschließende Fazit zeigt, dass Wienhaus mit der theoretischen Einordnung des Zusammenhangs von bürgerlicher Leitkultur einerseits und linkspolitischem Protest der Studierenden andererseits dann doch deutlich überfordert ist. Der Hauptgrund dieser Überforderung dürfte in dem wenig kontrovers diskutierten theoretischen Bezugsrahmen liegen, der sich zum Großteil nur aus der Bürgertumsforschung Carola Groppes speist [2]. Auf eine auf das Soziale typologisierende Gesellschaftstheorie, wie sie etwa bei und im Anschluss an Max Weber zu finden ist und zum Verständnis des sozialen Ortes des bürgerlichen Bewusstseins beigetragen hat [3], wird in der Studie kein Bezug genommen. Bürgerlichkeit bleibt dabei mehr Ausdruck von Konsumverhalten und dessen Narration im Gesellschaftlichen. Angesichts soziologischer Standardforschung, die dies unter dem Leitthema der privilegierten Bildung seit Jahrzehnten betreibt, ist damit kein Erkenntnisgewinn zu erkennen. Dabei war Wienhaus durchaus auf einem interessanten Wege: Der explizite Rekurs auf den Soziologen Karl Mannheim (78f) hätte der Studie eine besondere theoretische Schärfe sowie erkenntnistheoretische Tiefe geben und sie über die bloße Sozialisationsvermessung und Jagd auf Mittelschichtmerkmale heben können, wenn Wienhaus dessen Paradigma nicht verkürzt auf das von Mannheim besprochene Generationenproblem aufgegriffen, sondern diese Diskussion – wie es der Theorie angemessen gewesen wäre – in dem gesamten wissenssoziologischen Verständnis gelesen hätte. So wäre Wienhaus das für die Analyse von Wissensentwicklung nicht minder wichtige Moment der politischen Konkurrenz des Geistigen [4] ebenso wenig im Verborgenen geblieben wie die besondere politische Stellung der SDSler im wissenspolitischen Kampf um soziale Anschauung und humane Emanzipation. Denn dieser Theoriekampf stand gerade in der Tradition der sozialistischen Vernunftdiskussion, wie sie beispielsweise durch den Internationalen Sozialistischen Kampfbund und durch Leonard Nelson vertreten wurde [5]. Und dessen Vertreter wurden ja nicht selten innerhalb des linkspolitischen Lagers der 1960er und 70er Jahre wegen ihres auffällig starken Rekurses auf vermeintlich das Bildungsbürgertum charakterisierende Bildungsgüter als „konservativ revolutionär“ beschrien, wie beispielsweise der Angang Herwig Blankertz‘ gegen den SDS-Mitgründer Heinz-Joachim Heydorn belegt [6]. Vor diesem Hintergrund lehrt die Studie von Wienhaus folgendes: Der linkspolitische Widerstand reüssiert als kollektiver Bildungsweg vor allem aus den vermeintlich als bildungsbürgerlich verschrienen Bildungsgütern.
[1] Fuchs, E.: Die historische Bildungsforschung im Spiegel ihrer Fachzeitschriften. In: Jahrbuch für die Historische Bildungsforschung. Band 14. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2008.
[2] Groppe, C.: Der Geist des Unternehmertums. Eine Bildungs- und Sozialgeschichte. Die Seidenfabrikantenfamilie Colsmann (1649–1840). Köln und Weimar: Böhlau 2004.
[3] Schluchter, W.: Die Entstehung der bürgerlichen Lebensführung. In: Wagner, F. , Zipprian, H. (Hrsg.): Max Webers Wissenschaftslehre. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, 700–712.
[4] Mannheim, K.: Ideologie und Utopie. Bonn: Cohen: ders. (1929) Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen. In: Deutsche Gesellschaft für Soziologie (Hrsg.): Verhandlungen des 6. Deutschen Soziologientages vom 17. bis 19. September 1928 in Zürich: Vorträge und Diskussionen in der Hauptversammlung und in den Sitzungen der Untergruppe. Tübingen: Mohr Siebeck 1929, 35–83.
[5] Klafki, W.: Vernunft – Erziehung – Demokratie. Zur Bedeutung der Nelson-Schule für die deutsche Pädagogik. In: Neue Sammlung 23(6) 1983, 544–561.
[6] Blankertz, H.: Der Konservative als Revolutionär. In: betrifft: erziehung 11(2) 1972, 63–65.
EWR 14 (2015), Nr. 2 (März/April)
Bildungswege zu „1968“
Eine Kollektivbiografie des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes
Bielefeld: transcript Verlag 2014
(300 S; ISBN 978-3-8376-2777-0; 29,99 EUR)
Frank Ragutt (Münster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Frank Ragutt: Rezension von: Wienhaus, Andrea: Bildungswege zu „1968“, Eine Kollektivbiografie des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes. Bielefeld: transcript Verlag 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 2 (Veröffentlicht am 08.04.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383762777.html
Frank Ragutt: Rezension von: Wienhaus, Andrea: Bildungswege zu „1968“, Eine Kollektivbiografie des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes. Bielefeld: transcript Verlag 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 2 (Veröffentlicht am 08.04.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383762777.html