EWR 11 (2012), Nr. 2 (März/April)

Ingrid Lohmann / Sinah Mielich / Florian Muhl / Karl-Josef Pazzini / Laura Rieger / Eva Wilhelm (Hrsg.)
Schöne neue Bildung?
Zur Kritik der Universität der Gegenwart
Bielefeld: transcript 2011
(242 S.; ISBN 978-3-8376-1751-1; 25,80 EUR)
Schöne neue Bildung? Die Umstrukturierung des Hochschulwesens im Zuge des Bologna-Prozesses hat vielerlei kritische Stimmen und Proteste hervorgerufen, zu denen auch eine von Studierenden realisierte Konferenz an der Hamburger Universität im Jahr 2010 zählt. Als Ergebnis dieser Konferenz entstand der hier vorliegende Herausgeberband „Schöne neue Bildung? Zur Kritik der Universität der Gegenwart“. Dieser versammelt verschiedene kritische Einsätze zur gegenwärtigen Gestalt der Universität, darunter die Aufdeckung der Entdemokratisierungs- und Ökonomisierungstendenzen, die Kritik am „Autonomieverlust“ und die Herausstellung ungenutzter Chancen der Reform.

Eine besondere Relevanz erhält dieser Band vor dem Hintergrund, dass er bislang die einzige Publikation in Deutschland [1] ist, der erstens auf Initiative Studierender entstand und der zweitens diese selbst zu Wort kommen lässt. Einleitend geben Studierende und Lehrende gemeinsam einen Überblick über die gegenwärtigen Veränderungsprozesse der Universität und verweisen darüber hinaus auf Bezugspunkte, die indirekt den Rahmen für die folgenden Beiträge des Bandes bilden und der weiteren Auseinandersetzung bedürfen. Nach Auffassung der Beitragenden verliert die Universität durch die fortschreitenden Privatisierungs- und Ökonomisierungsprozesse ihr kritisches Potential sowie ihre vormalige Bestimmung als demokratischer Ort. Ziel des Bandes ist es, die Debatte um die Entwicklung der Universitäten fortzusetzen und zu politisieren.

Folgt man dem in der Einleitung formulierten Rahmen, liegt es nahe, die einzelnen Beiträge entsprechend ihrer Perspektivierungen des Kritikproblems zu betrachten. Die Darstellung der Beiträge gliedern wir daher folgendermaßen: Ein erster Gesichtspunkt bezieht sich auf das Anliegen, das Problembewusstsein für die derzeitigen bildungspolitischen Entscheidungen zu schärfen (1.). Zweitens werden die veränderten Lehr- und Lernbedingungen fokussiert (2.). Ein dritter Gesichtspunkt zielt auf eine Kritik, die direkt und konkret an der Konzeption und Umsetzung des Bologna-Prozesses ansetzt (3.), während viertens die geübte Kritik selbst problematisiert wird (4.). Fünftens erhalten einzelne Beiträge ihr kritisches Profil durch historische oder ideelle Bezugspunkte (5.). Schließlich wird sechstens eine Perspektive eingebracht, die jenseits der aktuellen Verfasstheit der Universität dieses Feld als ein pädagogisches „neu“ zu begründen versucht (6.).

  1. Der Beitrag von Ralf Ptak versucht ein Problembewusstsein in Bezug auf die bildungspolitischen Entscheidungen zu schaffen, indem er Widersprüche in der gegenwärtigen bildungsökonomischen Ausrichtung der Universität aufzeigt. Im Beitrag von Sinah Mielich, Florian Muhl und Laura Rieger wird die Universität als eine genuin gesellschaftliche Institution dargestellt: Zum einen sind strukturelle Veränderungen bedingt durch gesellschaftliche Entwicklungen, zum anderen ist die Universität ein Ort, von dem gesellschaftliche Reflexionsprozesse und Widerstand ausgehen. Die strukturellen Veränderungen werden als Folgen des kapitalistischen Wirtschaftssystems gedeutet. Daraus resultiert nach Auffassung der AutorInnen ein „neues“ Selbstverständnis der Studierenden: Anstatt Erkenntnissuchende zu sein, werden sie zu KundInnen einer „Dienstleistungsuniversität“. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken müssen Freiräume geschaffen, Auseinandersetzungen gefördert und Beziehungen in Form eines leidenschaftlichen Verhältnisses zur Universität gestärkt werden. Die Einführung von „neuen Strukturen“ soll dies bewirken.


  2. Stefanie Maxim beschäftigt sich mit den Lehr- und Lernbedingungen an der Hamburger Universität. Sie problematisiert, dass die Studierenden sich zum Gelernten nicht noch einmal in ein Verhältnis setzen, was eine Auseinandersetzung mit der Bestimmung der Ziele des „ZusammenLebens“ (161) verhindert.


  3. In seinem Beitrag beschäftigt sich Klemens Himpele mit der Beziehung zwischen den Reformpotenzialen, vor allem in Bezug auf die Ermöglichung von Chancengleichheit, und der letztendlichen Reformumsetzung. Himpele ist der Auffassung, dass aufgrund der „technokratischen Umsetzung“ (187) der Bologna-Vereinbarung sowie der ihr innewohnenden Widersprüche die Chancen der Reform nicht genutzt wurden. Karl Dieter Schuck reflektiert in einer Art ‚Erfahrungsbericht‘ seine Erlebnisse im Zuge der Reformen. Er verortet die gescheiterte Umsetzung des Bologna-Prozesses auf Seiten der Akteure und thematisiert dabei die inneruniversitären Reformbemühungen selbstkritisch. Eva Arnold gibt diesem eine weitere Wendung, indem sie das Hauptproblem der geführten Diskussion – und auch das Scheitern des Bologna-Prozesses – darin sieht, dass die Erwartungen an die Potenziale zu hoch waren. Für Wolf-Dieter Narr wird der Aspekt der sozialen Selektion relevant, indem er einen Dualismus zwischen „Verdummung und Exzellenz“ beschreibt. Die einzige Möglichkeit, der „Verdinglichung“ und „Disziplinierung“ (214f.) an den Universitäten zu entgehen, sieht er im Widerstand der Studierenden selbst. Ebenso ruft Till Petersen in seinem Beitrag zur Widerständigkeit auf. Er problematisiert die geringer werdende Bereitschaft der Bachelor- und Masterstudierenden, sich inneruniversitär zu engagieren und fordert zum emanzipatorischen Umgang mit dem BA/MA-System sowie einem „kritischen Engagement“ (232) der Studierenden auf.


  4. Der Beitrag Karl-Josef Pazzinis entwirft eine andere Perspektive in Hinblick auf kritisches Verhalten. Mit Slavoj Žižek ruft er zu einer Haltung der „wahren Nicht-Aktivität“ (27) auf, welche die schnellstmögliche und systemaffirmierende Umsetzung der Reformen sowie die Verortung möglicher Misserfolge auf Seiten der Individuen in Frage stellt – eine Umgangsweise, die sich in mehreren Beiträgen des vorliegenden Bandes wiederfinden lässt. Die vorderste Aufgabe der Universität, so Pazzini, sei die Herstellung einer öffentlichen „Raumzeit“ (29), die Kritik als „Unterscheidungsfähigkeit“ (ebd.) möglich macht.


  5. Einen anderen Zugang zu den Aufgaben und Funktionen der gegenwärtigen Universität bilden die Beiträge von Ingrid Lohmann und Peter Fischer-Appelt, die ihre Kritik historisch herleiten. Ingrid Lohmann skizziert den Funktionswandel der Universität: von einer Institution, die der „Bildung der Nation“ (64) diente, hin zu einer, die mit der digitalen Unternehmenswelt verflochten ist. Ähnlich verfährt Peter Fischer-Appelt in der Entwicklung von vier „integrativen Universitätstypen“ (86). Aus diesen leitet er unterschiedliche Rollen der Universität her, die nur erfüllt werden können, wenn die Freiheit von Forschung und Lehre gewährleistet ist. Dies bildet auch einen Aspekt des Autonomiebegriffs, den Plínio W. Prado Jr. für die Universität veranschlagt. Für ihn fungiert eben jener ideelle Bezugspunkt als Kriterium an dem die gegenwärtigen Veränderungen bemessen und auf den hin zukünftige Veränderungsprozesse gerichtet werden sollten.


  6. Diesen Verständnissen entgegen versuchen die Beträge von Jan Masschelein / Maarten Simons und Michael Wimmer den Ort der Universität als pädagogischen systematisch „neu“ zu begründen. Jan Masschelein und Maarten Simons üben Kritik am gegenwärtigen Bildungssystem, indem sie die Universität als einen Ort fassen, der sich durch eine besondere pädagogische Form auszeichnet. Ausgangspunkt hierfür ist die öffentliche Vorlesung als eine spezifische soziale Praktik, aus der egalitäre Verhältnisse erwachsen können und die so Möglichkeitsorte konstituiert. Eben jene ermöglichen erst, so Masschelein und Simons, Bildungsprozesse: in einem öffentlichen, gemeinsamen Einlassen auf einen gemeinsamen Gegenstand. Bildung wird hier als eine prozessuale Form verstanden, in der aus „Hochschullehrern (wieder) ProfessorInnen“ und aus „Lernenden Studierende“ (158) werden. Dies steht jener Form der Wissensvermittlung, welche mit der Ökonomisierung bzw. Ausbildungsorientierung des derzeitigen Bildungswesens einhergehen, entgegen.


Michael Wimmer leitet seine Kritik systematisch aus der gegenwärtigen Verkennung des Pädagogischen bzw. Demokratischen her, d.h. der sich „in der Paradoxie zeigenden Unmöglichkeit“ (44). Er stellt die Frage nach dem Status der „unbedingten Universität“ (Derrida), welche die Aufgabe hat, einen öffentlichen Raum zu ermöglichen. Dabei begreift er Bildung und Demokratie als „im Kommen“ (36). Aus der Anerkennung der sich daraus ergebenden Problematik wird systematisch eine funktionalistische Sichtweise auf Universität und Bildung ausgeschlossen und so eine andere Form der Kritik an der Ökonomisierung des Bildungsbetriebes ermöglicht. Proklamiert wird ein Verständnis von Bildung und Demokratie, dass sowohl den „ethischen Ansprüchen der Singularität“ als auch den „Herausforderungen des öffentlichen Vernunftgebrauchs“ (36) genügt.

Wie bereits deutlich geworden ist, versammelt der Band unterschiedlichste Perspektiven in Bezug auf die Kritik der gegenwärtigen Universität. Ersichtlich wird, dass deren teilweise verschiedene Logiken nicht ineinander übersetzt werden können. Dies kommt dem Anspruch des Bandes nach, zur Fortsetzung und Politisierung der Debatte beizutragen. Es wäre dann aber sinnvoll gewesen, diese Differenzen und mitunter gegensätzlichen Positionierungen in der Gliederung zu markieren.

Ähnliches lässt sich mit Blick auf die Rolle der Studierenden sagen. Sowohl als Initiatoren der Proteste wie auch dieses Buchprojektes kommt gerade den Studierenden eine besondere und bis dato eher vernachlässigte Rolle zu. Dieser Band schien nun die Möglichkeit zu eröffnen, eben jenen Sachverhalt abzuändern, indem hier auch die Studierenden zu Wort kamen, und so die Debatten nicht über sie, sondern mit ihnen gemeinsam geführt wurden.

Dieses Potential konnte hier nur teilweise genutzt werden: So sind zum einen lediglich der erste und der letzte Beitrag von Studierenden verfasst, zum anderen wurden die sich dadurch eröffnenden Möglichkeitsräume in Bezug auf die Thematisierung und Problematisierung studentischer Perspektiven vernachlässigt. Solche Möglichkeiten und Perspektiven wären erstens die konstitutive Rolle der Studierenden für die Universität zu diskutieren, zweitens ein Problembewusstsein dafür zu schaffen, in welcher Art und Weise sich die Beteiligten zum bestehenden System verhalten sowie drittens nicht nur Widerstand zu fordern, sondern die bereits bestehenden Formen anzuerkennen und aufzuzeigen.

So wird in großen Teilen des Bandes die Beschäftigung mit der potentiellen Widerständigkeit der Beteiligten vernachlässigt, was daran liegen könnte, dass häufig eine bestimmte Art der Kritik gewählt wurde. Diese bewegt sich in den Grenzen des bestehenden und vor allem des ökonomischen Systems, was zur Aufrechterhaltung des Kritisierten selbst beiträgt. Diese Art der Argumentation lässt die Universität als (genuin) pädagogische Institution unberücksichtigt; dabei eröffnet ein solcher Einsatz, betrachtet man die Beiträge von Wimmer und Masschelein/Simons, vielerlei fruchtbare Möglichkeiten. Gleichzeitig trägt das Auslassen solcher Positionen aber auch dazu bei, weitere Anlässe für Diskussionen zu geben. Genau dieses erneute Öffnen des Diskussionsraumes ist zugleich erklärtes Ziel und Wirkung des Bandes, das Leser und Leserinnen auffordert, sich im weiten Feld der Positionen zu verorten.

[1] Aus den Protesten in Österreich ist eine vergleichbare Publikation hervorgegangen: Heissenberger, Stefan/Mark, Viola/Schramm, Susanne u.a. (Hrsg.): Uni brennt: Grundsätzliches – Kritisches – Atmosphärisches. Wien: Turia & Kant 2010.
Kristin Scholz, Sabrina Schröder, Pauline Starke (Halle / Saale)
Zur Zitierweise der Rezension:
Kristin Scholz, Sabrina Schröder, Pauline Starke: Rezension von: Lohmann, Ingrid / Mielich, Sinah / Muhl, Florian / Pazzini, Karl-Josef / Rieger, Laura / Wilhelm, Eva (Hg.): Schöne neue Bildung?, Zur Kritik der Universität der Gegenwart. Bielefeld: transcript 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.04.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383761751.html