Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) im Jahr 2009 durch Deutschland haben Menschen mit Behinderungen einen rechtlichen Anspruch auf diskriminierungsfreie Teilhabe in allen Lebensbereichen. Zudem wurde mit Inkrafttreten der BRK eine rechtliche Grundlage für die Gestaltung einer inklusiven Schule geschaffen. Jedoch basiert das Bildungswesen in Deutschland immer noch auf einem mehrgliedrigen Schulsystem, das zu systematischer Bildungsbenachteiligung beiträgt. Die Segregation von Menschen mit Lernbehinderung an Sonderschulen und ihre Begründung im hierarchisch gegliederten Bildungswesen sind zentrale Themen in Lisa Pfahls Dissertation „Techniken der Behinderung“.
In ihrer Studie beschäftigt sich Pfahl mit der Frage, wie dieses segregierende Bildungswesen und der sonderpädagogische Diskurs um Lernbehinderung auf die Schülerschaft wirken. Dabei beschreibt sie, dass die Konstruktion von Lernbehinderung durch den sonderpädagogischen Diskurs geschieht, der einen „wahrheitsstiftenden“ Einfluss auf das Bildungswesen, die Organisation Schule sowie darüber hinaus, auf das Selbstbild und die Handlungsfähigkeit der Schülerschaft ausübt. Inwiefern diese Diskurse und die Praktiken der Sonderschule auf Subjektivierungsprozesse wirken, nähert sich Pfahl, indem sie biografische Selbstauskünfte ehemaliger Sonderschülerinnen und Sonderschüler mit den diskursiven Praktiken innerhalb der Sonderpädagogik in Beziehung setzt. Die Grundfrage von Pfahls Studie dabei lautet: „Wie wird das Selbstverständnis von Kindern und Jugendlichen von der Subjektivierungsinstanz Sonderschule geformt und welche Dynamiken der Subjektivierung und Ausbildung von Handlungsfähigkeit setzen beim Übergang von Schule in das Erwerbsleben ein?“ (26). In ihrem Buch, welches sich in sechs Kapitel gliedert, stellt sie ihre Ergebnisse detailliert dar und erläutert das methodisch-methodologische Vorgehen.
Im zweiten Kapitel („Das Bildungswesen als Subjektivierungsinstanz“) beschreibt Pfahl das Bildungssystem als Institution, deren Ablaufprogramm durch die Inhalte pädagogischer Diskurse bestimmt wird. Mit Diskursen werden Klassifikationsprozesse und Wahrheiten in die institutionellen Praktiken eingebracht und in den Subjekten, die sie hervorbringen, reproduziert. In Form von Subjektivierungsprozessen werden von Schülern und Schülerinnen ihre eigenen Vorstellungen vom Selbst mit ihren persönlichen Erfahrungen verknüpft und beeinflussen den Umgang mit diesem Selbst und so auch ihr Handeln. Pfahl zieht hieraus die These, dass durch die Vernetzung von Selbstkonzepten und persönlichen Erfahrungen, die durch diskursiv transportierte Vorstellungen geprägt werden, das Bildungswesen als Subjektivierungsinstanz bezeichnet werden kann. Bei der Sonder- bzw. Förderschule handelt es sich demnach um einen Ort, an dem das subjektivierende Spannungsfeld von Selbst- und Fremdzuschreibung als „lernbehindert“ angesiedelt ist.
Die einschlägigen historisch und kulturell geprägten Diskurse werden im dritten Kapitel („Der deutsche Lernbehindertendiskurs“) dargestellt. Pfahls Quellen für die Diskursanalyse sind Veröffentlichungen aus der „Zeitschrift für Heilpädagogik“ sowie das „Gutachten des deutschen Bildungsrats“ von 1973. Sie stellt einen Abriss vom Beginn des 20. Jahrhunderts über die 1970er Jahre bis hin zur Gegenwart dar und rekonstruiert diskursanalytisch zentrale Begrifflichkeiten zur Betrachtung und Erklärung von Behinderung respektive Lernbehinderung. Dabei arbeitet sie zwei zentrale Themen heraus. Zum einen, dass die Sonderschule als „Schonraum“ begriffen wird, in dem auf die individuellen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler eingegangen wird und diese vor dem Konkurrenz- und Leistungsdruck der Außenwelt verschont werden. Zum anderen wird Pfahl zufolge Lernbehinderung trotz großer Unschärfen als individuelles Kompetenzdefizit konstruiert.
Im vierten Kapitel („Behindert werden: Bildungsbiografien von Sonderschulabgängern“) werden exemplarisch vier Selbstauskünfte ehemaliger Sonderschüler/-innen anhand biografischer Fallstudien vorgestellt. Mithilfe offener Interviews, die als Grundlage einer hermeneutischen Fallrekonstruktion dienen, möchte Pfahl aufzeigen, wie die Subjektivierungsprozesse, die von den betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen durchlaufen werden, durch die Diskurse geprägt werden. Ziel der Methode ist es, das Wissen um die Ungleichheit und die Weise, in der die ehemaligen Sonderschüler/-innen durch die Diskurse handlungsfähig oder in ihren Handlungen eingeschränkt werden, zu rekonstruieren. Für Pfahl geht aus den Interviews hervor, wie die Klassifizierungssysteme der sonderpädagogischen Diskurse über die Erfahrungen aus der Sonderschule auf die Selbstbilder der Interviewten wirken und sich in ihren Aussagen wiederfinden lassen. Die Identifikation als „lernbehindert“ und die Vorstellungen über „Lernbehinderung“ werden Pfahl zufolge im Wesentlichen in und durch die Institution Sonderschule und den dort leitenden Diskurs der Sonderpädagogik geprägt.
Die Analyse der Diskurse und die hermeneutische Fallrekonstruktion werden im fünften Kapitel („Sonderschulische Subjektivierung“) von Pfahl zusammengeführt. Die Autorin stellt fest, dass die sonderpädagogischen Fachdiskurse um Lernbehinderung und ihre Erklärungs- und Begründungsansätze sich in den Aussagen der ehemaligen Sonderschüler/-innen wiederfinden lassen respektive durch sie reproduziert werden. So sehen einige der Interviewten Lernbehinderung als etwas in ihnen Verhaftetes und Naturgegebenes. Pfahl erläutert in diesem Kapitel die Zusammenhänge der Reproduktion sozialer Ungleichheit im Bildungssystem. Zudem wird mit Bezugnahme auf andere Studien gezeigt, dass die Leistungsdifferenz mit der Länge der Sonderschulbesuchszeit zunimmt und somit der „Schonraum“ und die individuelle Förderung – empirisch gesehen – nicht weiter als Begründung für die Sonderschule herangezogen werden können. Spätestens nach Beendigung der Förderschule werden die Schülerinnen und Schüler mit dem Arbeitsmarkt und dessen Erwartungen konfrontiert. An dieser Stelle wird der „Schonraum“ verlassen und die verinnerlichten Bilder über ein Selbst korrespondieren mit niedrig qualifizierten Ausbildungen oder Maßnahmen.
Im abschließenden Kapitel („Techniken der Behinderung“) fasst Pfahl die Ergebnisse ihrer Studie zusammen und diskutiert weitere Fragen. So stellt sie die Frage, warum die Institution der Sonderschule Bestand hat und wodurch sie sich begründet. Ebenso eröffnet sie Perspektiven für weitere Themen, die anhand diskursiver und biografischer Analysen bearbeitet werden könnten, wie das der Integration. Der Schluss, den Pfahl aus den Ergebnissen ihrer Studie zieht, schlägt sich in der radikalen Forderung nach einer inklusiven Pädagogik und einem eben solchen Bildungswesen nieder: „Nur ein wirklich neues Arrangement der Kräfteverhältnisse, das eine Entmedikalisierung der Sonderpädagogik und eine Aufhebung der Segregation einschließt, wird es ermöglichen, die Disziplinen und Disziplinierungen aufzubrechen.“ (251).
Mit ihrem Buch hat Lisa Pfahl einen wichtigen Beitrag sowohl zum aktuellen Behinderten- wie auch zum Inklusionsdiskurs geleistet. Anhand ihres bildungssoziologischen und Dank des methodologisch innovativen Ansatzes hat sie den Zusammenhang von institutionellen Diskurspraktiken und Subjektivierungsprozessen erschlossen und herausgearbeitet, wie sonderpädagogisches Wissen zur Reproduktion von sozialer Ungleichheit beiträgt. Ebenso regt ihr Erkenntnisgewinn über die Wirkungen und die Macht von Fachdiskursen dazu an, die Legitimation (sonder-)pädagogischer Professionen in Bezug auf eine inklusive Pädagogik hin zu überprüfen. Pfahl zeigt mögliche weitere Forschungsfelder auf: Diese reichen von der Untersuchung von Subjektivierungsprozessen an inklusiven Orten bis weit in die Transitionsforschung hinein.
EWR 11 (2012), Nr. 6 (November/Dezember)
Techniken der Behinderung
Der deutsche Lernbehindertendiskurs, die Sonderschule und ihre Auswirkungen auf Bildungsbiografien
Bielefeld: transcript 2011
(276 S.; ISBN 978-3-8376-1532-6; 27,80 EUR)
Sandra Wlodarczyk (Basel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sandra Wlodarczyk: Rezension von: Pfahl, Lisa: Techniken der Behinderung, Der deutsche Lernbehindertendiskurs, die Sonderschule und ihre Auswirkungen auf Bildungsbiografien. Bielefeld: transcript 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383761532.html
Sandra Wlodarczyk: Rezension von: Pfahl, Lisa: Techniken der Behinderung, Der deutsche Lernbehindertendiskurs, die Sonderschule und ihre Auswirkungen auf Bildungsbiografien. Bielefeld: transcript 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383761532.html