Ansatzpunkt der vorliegenden Dissertation ist der Begriff der „Neuen Lernkultur“, der die didaktische Diskussion in der Erwachsenenbildung seit den 1990er Jahren prägt und der für die vielfältige Neuarrangierung von Medieneinsatz, Lernzeiten, sozialer Struktur des Lernens sowie für ein neues, eher beratendes und ermöglichendes Lehrverhalten steht (und deshalb auch unter dem Begriff der Neuen Lehr-/ Lernkulturen rangiert). In diesem Konzept treffen sich politisch und wirtschaftlich gewollte Anpassungen an die modernisierte Arbeitswelt mit emanzipatorischen, vom Konstruktivismus theoretisch unterfütterten Vorstellungen vom selbstgesteuerten Lernen, die das klassische Prinzip der Teilnehmerorientierung zuspitzen und an veränderte gesellschaftliche und technologische Verhältnisse anpassen. Mit dem Hinweis auf die Veränderung der Rolle der Lehrenden wird gewöhnlich der Hinweis verbunden, dass damit das klassische Machtgefälle außer Kraft gesetzt ist.
Demgegenüber beansprucht die Arbeit von Ulla Klingovsky, Definitionen der „Neuen Lernkultur“ und darauf bezogene didaktisch-methodische Empfehlungen auf ihre machttheoretischen Implikationen hin zu analysieren. Es handelt sich damit um eine Diskursanalyse, die – im Sinne bzw. in Anlehnung an Foucault – die Formationen von Aussagen untersucht. Die Autorin selbst spricht – auch hier an Foucault anknüpfend – von Programmen – ein durchaus sinnvoller Begriff, der in der Erwachsenenbildung(-sforschung) allerdings meist für die veröffentlichten Angebotsankündigungen von Bildungseinrichtungen verwendet wird. Weitere von Foucault und den an ihn anschließenden Gouvernementalitätsstudien übernommene und die Untersuchung bestimmende Begriffe sind Technologien des Selbst, Regierung, pastorale Macht, Führung von Führungen. Damit wird eine Perspektive eingenommen, die Macht nicht länger Institutionen und Personen (Machtinhabern) zuordnet und als einseitige Unterdrückung, sondern als lokale und instabile Relation versteht, die sich in den Beziehungen der Subjekte zueinander und in alltäglichen Verhaltensformen und Praktiken äußert. Auf die in diesem Zusammenhang formulierte Kritik am Neoliberalismus spielt der auf Orwells „Brave New World“ verweisende Titel an, der bereits erkennen lässt, dass die Autorin die mit der Propagierung neuerer didaktischer Programme verbundenen Euphorien nicht teilt. Es geht aber nicht um die punktuelle Kritik an aktuellen Didaktiken, sondern um die konsequente Einnahme der diskursanalytischen Sichtweise auf didaktische Programme bzw. Lernkulturen.
Die Arbeit setzt dementsprechend mit einem historischen Überblick über Lernkulturen in der Erwachsenenbildung von der Volks- und Arbeiterbildungsbewegung bis zur sogenannten Alltagswende ein, in dem die unterschiedlichen Ansätze im Kontext allgemeiner gesellschaftlicher Veränderungen kurz dargestellt werden. Davon abgehoben wird der Diskurs um die Neue(n) Lernkultur(en), der nach Ansicht der Autorin eine deutliche Neukonzeptionierung enthält. Um die machttheoretischen Zusammenhänge dieses Diskurses zu verdeutlichen, hebt die Autorin die Gemeinsamkeiten der verschiedenen, diesen Diskurs stützenden Ansätze hervor und verwendet die Singularform „Neue Lernkultur“.
Den Begründungen für diese „Neue Lernkultur“ geht die Autorin nach, indem sie systemisch-konstruktivistische, poststrukturalistische, subjektwissenschaftliche und emanzipatorische Positionen untersucht, wie sie in den Arbeiten der die didaktische Diskussion in der Erwachsenenbildung prägenden Autoren Rolf Arnold, Hermann J. Forneck, Joachim Ludwig und Erhard Meueler vertreten werden. Leitend ist dabei die Frage, wie von diesen Autoren das Verhältnis von Fremd- und Selbstbestimmung gefasst wird und wie demnach Vermittlung organisiert sein muss, die den Subjekten zu (mehr) Selbststeuerung, Selbstsorge, gesellschaftlicher Teilhabe oder Selbstverfügung verhilft. Warum diese Konzepte gerade in dieser Reihenfolge angeordnet wurden, wird nicht erläutert, und es fehlt auch ein expliziter Hinweis darauf, dass die Autorin mit den Arbeiten von Forneck als dessen ehemalige Mitarbeiterin und Mitautorin in besonderer Weise verbunden ist. Unabhängig davon liegt hier eine bedenkenswerte Neu-Lektüre vor, die die Gemeinsamkeiten sonst separat rezipierter Positionen in überzeugender Weise aufzeigt.
Bevor die Autorin auf die mit den referierten Positionen verbundenen Praktiken eingeht, stellt sie einem eigenen Kapitel die um die Begriffe Wissen, Macht, Subjektivität angeordnete Foucaultsche Machtanalytik und das auf Foucault beruhende Konzept der Gouvernementalität dar. Vor diesem Hintergrund werden dann bestimmte Praktiken der neuen Lehr-Lernkulturen analysiert. Das betrifft zum einen die Formen, wie die Subjekte objektiviert, also als kompetente bzw. dezentrierte bzw. vergesellschaftete bzw. befreite Subjekte konzipiert werden. Zum anderen werden jeweils vorgeschlagene didaktisch-methodische Praktiken wie Lernberatung, Fallarbeit, Selbstlernarchitektur, Lehr-Lern-Vertrag daraufhin untersucht, wie sie die Selbstführung, also die Führung der Führung, lenken. Hier wird dem Leser u.a. eine Interpretation räumlicher Arrangements nahegebracht, die den klassischen Gegensatz zwischen autoritärer Gegenüber-Setzung von Lehrenden und Lernenden im Frontalunterricht einerseits und partnerschaftlichem Lehr-Lerngespräch im Stuhlkreis andererseits zugunsten einer Sichtweise aufhebt, die in beiden Arrangements Formen von Macht sieht: nämlich der Ungleichheit symbolisierenden Souveränitätsmacht und der panoptischen Macht durch wechselseitige Sichtbarkeit. Der Clou der in der Arbeit eingenommenen gouvernementalitätstheoretischen Perspektive besteht darin, auch in entwicklungsoffenen und flexiblen Räumen ohne zentrale Vermittlungs- und Kontrollinstanz oder auch im Wegfall von Räumen Ausdrucksformen von Macht, nämlich der der Führung der Führungen, zu sehen: „Um Praktiken der Subjekte auf Seiten der Subjekte anzuregen, scheint gar eine Entgrenzung der Lernräume förderlich zu sein. In individualisierten Lernprozessen ist jeder Akteur auf sich gestellt, die Individualitäten zirkulieren. Dennoch verfangen sie sich in einem Netz bzw. indem sie lernen, spinnen die Akteure sich selbst in ein Netz gouvernementaler Machtverhältnisse“ (168). (Überzeugender noch wäre diese Darstellung der Bedeutung räumlicher Anordnungen, wenn die Autorin das Frontalschema nur auf die extensive Bildungsarbeit der „Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung“ – im Text als „Deutsche Gesellschaft für Volksbildung“ bezeichnet – und nicht auch auf die ‚Rundgespräche’ ermöglichende Form der Arbeitsgemeinschaft der Weimarer Zeit bezogen hätte.)
Der Textform Dissertation entsprechend, ist der Text nicht nur klar strukturiert, er wird auch immer wieder durch Ankündigungen dessen, was den Leser im Folgenden erwartet und durch Zusammenfassungen des Vorausgegangenen durchsetzt. Aussagen und Begrifflichkeiten der Machttheorie Foucaults und seiner Nachfolger werden ausführlich (und wiederholt) referiert. Als Verstehenshilfe werden mit geometrischen Formen operierende Grafiken eingesetzt, um auf visueller Ebene die im Text dargestellten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu verdeutlichen. Diese Visualisierung stößt allerdings auch auf Grenzen – etwa wenn die Selbstführung des Subjekts (s), das dieses zu einem anderen Subjekt (s’) transformieren soll, als isolierter Pfeil zwischen den beiden Subjekten dargestellt wird, so dass der Selbstbezug nicht grafisch, sondern nur durch die Beschriftung erkennbar ist. Das sind aber – ebenso wie Vertauschung der Abkürzung FE (Fallerzählerin) mit FB (Fachberater) bei der Darstellung der als demokratisierte panoptische Beobachtung charakterisierten Fallarbeit – Kleinigkeiten.
Generell liegt das Verdienst der Arbeit darin, das diskursanalytische Potenzial zur Behandlung des von der Erwachsenenbildungswissenschaft immer noch eher vernachlässigten Themas der Didaktik aufgezeigt zu haben. Die Arbeit liefert damit einen weiteren Baustein zu der von Hermann J. Forneck angeregten Anwendung der gouvermentalitätstheoretischen Sicht auf die Erwachsenenbildung. Nach der Auseinandersetzung mit dem Qualitätsmanagement durch Julia Franz, dem Konzept des Lebenslangen Lernens und der Lernjournale durch Daniel Wrana, der Lernberatung durch Peter Kossack ist damit auch das Konzept der Neuen Lernkultur aus dieser Perspektive re- und dekonstruiert worden. Dass viele Praktiker, aber auch Theoretiker der terminologisch hermetischen und die übliche Kritik überschreitenden gouvernementalitätstheoretischen Diskursanalyse eher reserviert gegenüberstehen, ist ebenso verständlich wie bedauerlich. Die Arbeit von Ulla Klingovsky zeigt, dass es sich lohnt, die mit der Rezeption dieses Ansatzes verbundenen Mühen auf sich zu nehmen – nicht nur, um den Anschluss an die internationale Diskussion zu gewinnen, sondern auch, um das Feld der Erwachsenenbildung und die es beobachtende Wissenschaft aus einem anderen Blickwinkel wahrzunehmen und eingefahrene Unterscheidungen, Abgrenzungen und Selbstbeschreibungen nicht einfach immer wieder zu reproduzieren.
EWR 9 (2010), Nr. 2 (März/April)
Schöne Neue Lernkultur
Transformationen der Macht in der Weiterbildung
Eine gouvernementalitätstheoretische Analyse
Eine gouvernementalitätstheoretische Analyse
Bielefeld: transcript 2009
(234 S.; ISBN 978-3-8376-1162-5; 25,80 EUR)
Sigrid Nolda (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sigrid Nolda : Rezension von: Klingovsky, Ulla: Schöne Neue Lernkultur, Transformationen der Macht in der Weiterbildung Eine gouvernementalitätstheoretische Analyse. Bielefeld: transcript 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 2 (Veröffentlicht am 13.04.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383761162.html
Sigrid Nolda : Rezension von: Klingovsky, Ulla: Schöne Neue Lernkultur, Transformationen der Macht in der Weiterbildung Eine gouvernementalitätstheoretische Analyse. Bielefeld: transcript 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 2 (Veröffentlicht am 13.04.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383761162.html