Vor dem Hintergrund der permanenten Politisierung des Kriegs- bzw. Fronterlebnisses in Folge des „deutsche[n] Trauma[s] von 1918“ (10) untersucht Arndt Weinrich in seiner Dissertation die Rezeption und Deutung des Ersten Weltkrieges in ausgewählten Jugendverbänden der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Die leitende Fragestellung bei Betrachtung der bürgerlichen Jugendbewegung, der katholischen Jugend und des sozialdemokratischen Jungbanners ist dabei, wo die „Formen des Kriegs- und Gefallenengedenkens der verschiedenen weltanschaulichen Lager“ (15) anschlussfähig waren für den „Heldengedenkdiskurs“ der Hitler-Jugend im Besonderen und des Dritten Reiches im Allgemeinen, um so einen wichtigen „Knoten im kausalen Netz der nationalsozialistischen Mobilisierungserfolge“ (27) aufzeigen zu können.
Das Quellenkorpus besteht im Wesentlichen aus einer Auswahl relevanter Jugend- und Jugendführerzeitschriften der behandelten Verbände aus den 1920er und 1930er Jahren. Darüber hinaus wurden die rezipierte Kriegsliteratur innerhalb der untersuchten Jugendverbände, verschiedene Archivbestände und Tageszeitungen in die Analyse einbezogen. Um einzuordnen auf welchem diskursiven Feld das Weltkriegsgedenken stattfand, wurden einzelne Presseorgane einiger Veteranenverbände und von ausgewählten Organisationen, die an der Gedächtnispolitik aktiv teilnahmen, herangezogen – beispielsweise die Zeitschrift Kriegsgräberfürsorge des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge.
Die Frage danach, wie es überhaupt in den letzten Jahren der Weimarer Republik zur Übernahme eines heroisierenden Gedenkdiskurses in weiten Teilen der organisierten männlichen Jugend kommen konnte, der keineswegs von allen Kriegsteilnehmern vertreten wurde, bildet den ersten Abschnitt der Untersuchung. Neben der demographisch-ökonomischen Problemlage ist für Weinrich der Erste Weltkrieg als „Referenzpunkt eines generationellen Narrativs“ (47) als Erklärungsansatz entscheidend, um die spezifisch „(paramilitärische) Form des Generationenprotestes“ (43) zu begreifen. Besonders spürbar sei diese Prägung in der Generation der zwischen 1900 und 1910 Geborenen gewesen. Die von Peter Merkl adaptierte „analytisch weiterführende Bezeichnung der Kriegsjugend als „,victory-watchers‘“ (43) lenkt die Blickrichtung dabei auf die spezifischen Jugenderfahrungen an der Heimatfrontfront, die u. a. aus kriegszentriertem Unterricht und Siegespropaganda bestanden, und dazu geführt hätten, dass in einer nationalen und unter Kriegsbedingungen radikalisierten Deutungskultur heroische Werte wie Kriegsbereitschaft und Opfermut früh internalisiert wurden. Angesichts der Niederlage und der drohenden Sinnlosigkeit der Opfer durch den als Schmach empfundenen Versailler Vertrag, wurden nach 1918 dann soldatische Werte- und Normvorstellungen verstärkt glorifiziert und gefallene Helden zunehmend kultisch verehrt. Anhand fünf autobiographischer Selbstkonstruktionen ausgewählter HJ-Führer veranschaulicht der Autor die entscheidende Rolle des Ersten Weltkriegs für die Selbstentwürfe und zeigt auf, wie in der militanten (bildungs-)bürgerlichen Erinnerungskultur, in der sie politisch sozialisiert wurden, Elemente einer aggressiven deutschen Kriegskultur konserviert und in die Weimarer Republik hineingetragen wurden.
Unter Rückgriff auf die Brutalisierungsthese von George L. Mosse legt Weinrich im zweiten Analyseteil dar, wie zentrale Topoi der heroisierenden Gedenkdiskurse über die recht engen Grenzen des national-bürgerlichen Sozialmilieus hinaus wirksam wurden. Als wichtigste Trägergruppe einer heroischen Jugendkultur macht er die überwiegenden Teile der bürgerlichen Jugendbewegung und der Studentenschaft aus, die schon seit den frühen 1920er Jahren einen Deutungsdiskurs entwickelten, der auch auf andere Jugendorganisationen einwirkte und „wesentliche Elemente des Weltkriegsgedenkens der HJ nach 1933 bereits vorwegnahm“ (69).
Für die Rezeption von Kriegsliteratur zeigt Weinrich, wie sich das zunächst kultivierte jugendbewegt-idealistische Kriegs- und Soldatenbild eines Walter Flex seit Ende der 1920er sukzessive zum ästhetischen Gegenpol eines stahlgewitterumtosten Grabenkriegers Ernst Jüngers hin verschob. An die Stelle der klassischen „Langemarck-Trias“ (85) – Jugend, Einsatz, Opfer – treten Härte und Zähigkeit und die Stilisierung der Soldaten zu entmenschlichten Kampfmaschinen. Das Vordringen der „Erz und Eisen-Metaphorik“ (88) lieferte ein über das bürgerliche Lager hinaus anschlussfähiges Frontsoldatenbild.
Unter Anwendung von Aleida Assmanns Unterscheidung zwischen sakrifiziellem und viktimologischem Opferbegriff belegt Weinrich, wie im Gegensatz zur bürgerlichen Jugend, in der ein ausschließlich sakrifiziell-heroisch konnotiertes Opfergedenken vorherrschte, im katholischen Jungmännerverband Deutschlands (KJMV) und der katholischen Sturmschar sowie dem sozialdemokratischen Jungbanner ein breites Kontinuum von Kriegsopfer- und Heldengedenken stattfand. Kritisch anzumerken ist, dass das heroisierende Weltkriegsgedenken der katholischen Jugend nur bis zur „Machtergreifung“ untersucht wurde, und der Autor davon ausgeht, dass es sich „im Dritten Reich nicht mehr kategorial änderte“ (106). Dabei wäre es doch vor dem Hintergrund des Reichskonkordats interessant zu beleuchten, ob diese Behauptung trotz des sukzessiv zunehmenden Anpassungsdrucks seitens des Regimes zutrifft. Angesichts der insgesamt akribisch quellengestützt fundierten Aussagen der Arbeit erstaunt der argumentative Abbruch an dieser Stelle.
Den weitaus größten Raum räumt der Autor den Konjunkturen, der Semantik und den Funktionen der Weltkriegsrezeption der HJ von 1926 bis 1945 ein. Insgesamt macht er dabei vier Phasen aus. Einer ersten Phase weitgehender Indifferenz gegenüber dem Themenkomplex Weltkrieg (1926-1931) folgte eine Phase (1931-1934) der Usurpation und Instrumentalisierung des „Fronterlebnisses“, in der sich die HJ in bewusster Frontstellung gegenüber den Kriegsveteranen als legitime Trägerin des politischen Willens, des „Vermächtnisses der ,feldgrauen Front‘“ (140) in Szene setzte. Die dritte Phase markiert ab dem Sommer 1934 den Übergang hin zu einem Dankbarkeitsdiskurs, in dem das Weltkriegsgedenken im Rahmen seiner Funktion der zur Staatsräson avancierten „Wiederherstellung ,der Ehre des deutschen Frontsoldaten‘“ (188) zu einem symbolpolitischen und systemstabilisierenden Fundament des neuen Staates wurde. Nach dem „Blitzsieg“ über Frankreich im Sommer 1940 setzte schließlich eine erneute und letzte Phase ein, die den errungenen Sieg als die „Erfüllung des ,Erbes der deutschen Frontsoldaten 1914-18‘“ (151) feierte und den Ersten Weltkrieg in der Kontinuität von 1914-1940 symbolisch enden ließ. In den Jahren 1941-1945 spielte der Erste Weltkrieg, u. a. um mögliche Parallelen zum Kriegsverlauf zu vermeiden, in der HJ keine nennenswerte Rolle mehr.
Weinrich zufolge gelang es der NS-Bewegung mit dem Kontinuitätstopos den Frontkämpfer-Mythos auf Jugendliche und junge Erwachsene auszuweiten und politisch zu operationalisieren und die Attraktivität der NS-Bewegung insbesondere bei bürgerlichen Jugendlichen zu erhöhen. Hatte sich mit dem „Appell zur imitatio heroica“ (197) während der „Kampfzeit“ ein Aufruf zur Gewalt gegen das verhasste System verbunden, erhielt ab 1933 das Gefallenengedenken eine stabilisierende Funktion, indem nun Opferbereitschaft, Tapferkeit und Disziplin eingefordert wurden. Durch den Wegfall der HJ-spezifischen Instrumentalisierung des Ersten Weltkriegs näherte sich die so tendenziell entpolitisierte Gedenkpraxis der NS-Jugend den Gedenkdiskursen der organisierten Jugend der späten Weimarer Zeit an. Darin sieht Weinrich die entscheidende Weichenstellung für die Anschlussfähigkeit der im HJ-Kriegsgedenken vermittelten Werte für Jugendliche aus anderen Organisationen. Denn mit der Betonung mutmaßlich unpolitischer instrumenteller Werte wie Opferbereitschaft, Kameradschaft und Tapferkeit, die wie das damit korrespondierende Soldatenbild eine hohe Wertschätzung genossen, knüpfte die HJ nahtlos an den heroisierenden Diskurs an, der in den Jugendverbänden konsensfähig war und „zu jenem Bereich kultureller Selbstverständlichkeiten“ (204) zählte, der nicht der NS-Ideologie zugerechnet wurde.
In diesem Zusammenhang diente der Frontsoldat von 1914-1918 als pädagogisches Leitbild zur kriegsadäquaten Konditionierung innerhalb der HJ. Angesichts des Gefallenen- und Soldatenkults, der bereits vor 1933 einen ausgeprägten Gesinnungsmilitarismus begünstigte, eignete sich „der Frontsoldaten-Mythos wie kein zweites identitätsstiftendes Narrativ“ (212), der männlichen Zielgruppe ein funktionales Soldatenbild zu vermitteln, welches in dem Härtediskurs um den Langemarck- und Verdun-Mythos, im stahlgewittergehärteten, aggressiven, in unerbittlicher Pflichterfüllung agierenden Männer- und Soldatenbild seinen Ausdruck fand.
Im letzten Kapitel bekräftigt Weinrich anhand des Aufstiegs des Langemarck-Mythos zur zentralen Referenz des HJ-Weltkriegsgedenkens die „instrumentelle Funktion der Weltkriegs-Gedächtnispolitik in der Jugenderziehung des NS-Staates“ (267). Die semantische Offenheit, die den Mythos für die HJ interessant werden ließ, drückte sich einerseits darin aus, dass sich der gewünschte Respekt vor der Frontgeneration demonstrieren ließ, und andererseits sich im „Sturm der jungen Regimenter“ die Einsatz- und Opferbereitschaft der deutschen Jugend insgesamt und der HJ – durch „Amalgamierung von ,Blutzeugen‘ und ,Langemarck-Kämpfern‘“ (265) – im Besonderen zelebrieren ließ. Hierin sieht Weinrich insbesondere eine Fortführung einer generationellen Selbstabgrenzung von der Generation der Kriegsteilnehmer. Entgegen der in der bisherigen Forschung vertretenen linearen und unumstrittenen Langemarck-Rezeption im Dritten Reich, gelingt es dem Autor in diesem Abschnitt sehr differenziert aufzuzeigen, wie im Wettstreit um Geltungs- und Gestaltungsansprüche das Langemarck-Gedenken im Deutungskampf zwischen Reichsjugend- und Reichsstudentenführung zur „institutionellen Klammer des HJ-Weltkriegsgedenkens“ (275) wurde und als Versuch der Jugendorganisation gelten kann „eine autonome Gedenkpolitik zu entwickeln und sich zum NS-Ursprungsmythos ,Fronterlebnis‘ zu positionieren.“ (319).
Die genaue Analyse der Gedenkdiskurse, „die als erinnerungskulturelle Brücke von der Weimarer Republik ins Dritte Reich führten“ (33), vermag insgesamt detailreich eine bislang kaum thematisierte und wichtige Forschungslücke bei der Erklärung des ungeheuren Mobilisierungserfolges der NSDAP vor dem Hintergrund der vielschichtigen Krisen der Republik zu verkleinern, so dass die Arbeit insgesamt ihren Anspruch, einen Beitrag zur Mentalitätsgeschichte männlicher Jugend in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu leisten, erfüllt. Die gerade einmal elf Seiten, die der Autor dem Weltkriegsgedenken der weiblichen Jugend von 1918-1945 widmet, spiegelt jedoch die Marginalisierung dieser Seite des Themas wider. Damit ist eine Aufforderung zu weiterer Forschung verbunden, zumal der Verfasser im Fazit selbst resümiert, dass nach wie vor „der gesamte Komplex Gedächtnis und Geschlecht – ein wichtiges Desiderat der Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs“ (319) darstellt. Das gilt auch für die Untersuchung u. a. von Jugendorganisationen aus dem sportlichen Bereich und dem kommunistischen Milieu, um ein genaueres Bild der Weltkriegsrezeption zeichnen zu können.
EWR 13 (2014), Nr. 3 (Mai/Juni)
Der Weltkrieg als Erzieher
Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus
Essen: Klartext Verlag 2012
(351 S.; ISBN 978-3-8375-0644-0; 39,95 EUR)
Martin Woda (Göttingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Martin Woda: Rezension von: Weinrich, Arndt: Der Weltkrieg als Erzieher, Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Essen: Klartext Verlag 2012. In: EWR 13 (2014), Nr. 3 (Veröffentlicht am 04.06.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383750644.html
Martin Woda: Rezension von: Weinrich, Arndt: Der Weltkrieg als Erzieher, Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Essen: Klartext Verlag 2012. In: EWR 13 (2014), Nr. 3 (Veröffentlicht am 04.06.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383750644.html