Die vorliegende Studie geht auf einen 2008 erteilten Forschungsauftrag des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) zurück, der unter dem Eindruck einer zunehmend kritischen Berichterstattung über die Heimerziehung in den fünfziger und sechziger Jahren die historische Aufarbeitung der Entwicklung des Landesjugendamtes bzw. der von diesem unterhaltenen und kontrollierten Erziehungsheime beschloss. Erforscht werden sollten dabei in erster Linie die Verhältnisse in den landschaftsverbandeigenen Erziehungseinrichtungen sowie die vom Landesjugendamt wahrgenommene Heimaufsicht.
Im Kern besteht die Studie aus vier großen Kapiteln, in denen sich der Fokus der Betrachtung vom Allgemeinen zum Besonderen immer stärker verengt. Den Anfang bilden zunächst die geschichtlichen, strukturellen, organisatorischen und rechtlichen Rahmenbedingungen, denen ein Blick auf die Entwicklung der LVR-eigenen Erziehungsheime folgt. Anschließend werden die praktische Erziehungsarbeit bzw. zentrale Aspekte der Heimerziehungspraxis untersucht, während ein weiteres Kapitel die Lebenserinnerungen ehemaliger Heimkinder in den Blick nimmt. Inklusive Einleitung und Fazit kommen so 22 Artikel zusammen, die von jeweils einem oder mehreren der Autoren und Autorinnen verantwortet wurden.
Nach einer gemeinsam verfassten, knappen Einleitung beschäftigen sich die zwei Artikel des Kapitels I zunächst mit den „Grundlagen“ – worunter zum einen ein Rückblick auf die rheinische Fürsorgeerziehung von ihren Anfängen im Kaiserreich bis zum Ende des Nazismus (1878-1945), zum anderen eine Überblicksdarstellung zur Geschichte der öffentlichen Erziehung im Rheinland zwischen 1945 bis 1972 gefasst werden. Den Endpunkt der Untersuchung bildet dabei das Jahr 1972. Zu diesem Zeitpunkt veröffentlichte das rheinische Landesjugendamt unter dem Druck öffentlicher Kritik an der Heimerziehung einerseits und der Einsicht in den drängenden Veränderungsbedarf andererseits grundlegende Reformpapiere, die von den Autoren als Beginn eines tiefgehenden Reformprozesses interpretiert werden.
Das zweite Kapitel richtet den Blick dann auf die acht vom Landschaftsverband Rheinland selbst unterhaltenen Einrichtungen, wobei vor allem die internen Strukturen – Belegung, Personalsituation, Organisation des Heimalltags – dargestellt werden. Mit der Konzentration auf die landschaftsverbandseigenen Heime tut sich allerdings ein Problem auf, denn ein Großteil der für die rheinische Fürsorgeerziehung genutzten Einrichtungen unterstand nicht der Trägerschaft des Landschaftsverbandes, sondern wurde von freien Trägern, in aller Regel konfessionell gebundenen Wohlfahrtsverbänden, Stiftungen und Ordensgemeinschaften, unterhalten. Rund drei Viertel der insgesamt mehr als 70.000 Kinder und Jugendlichen, die im Untersuchungszeitraum die rheinische Fürsorgeerziehung durchlaufen haben, waren in kirchlichen Einrichtungen untergebracht; die Mädchenerziehung lag praktisch vollständig in Händen konfessioneller Heime (71).
Wenn auch einige der dargestellten Entwicklungen zweifellos auf die konfessionellen Einrichtungen zutreffen, bleibt doch zu konstatieren, dass mit der Konzentration auf die der öffentlichen Hand unterstehenden Heime ein großer Teil der Heimerziehung ausgeblendet wird. Und zwar ein Teil der Heimerziehung, für den das Landesjugendamt als Aufsichtsbehörde die wesentliche Verantwortung trug! Diese Schlagseite wird zwar dadurch gemindert, dass die Verhältnisse in privaten Einrichtungen an einigen Stellen exemplarisch erwähnt werden, der Verzicht auf eine eigenständige Darstellung ist trotz der zum Teil durchaus problematischen Quellenlage letztlich nicht nachzuvollziehen.
Die Spezifik privat-konfessioneller Fürsorgeerziehung bzw. die (möglichen) Unterschiede zu öffentlichen Einrichtungen hätten zumindest in Fallstudien zu einzelnen Einrichtungen systematisch herausgearbeitet werden können. So wäre es zum Beispiel aufschlussreich gewesen, mehr darüber zu erfahren, ob und wie sich die seit Beginn der sechziger Jahre zunehmend spürbare Säkularisierung / Entkonfessionalisierung der Heimerziehung im Alltag der kirchlichen Einrichtungen bemerkbar machte.
Die neun Artikel des umfangreichsten Kapitels III richten anschließend den Blick auf das Innere der Erziehungsanstalten und loten dabei jene Themen aus, die im Zentrum der gegenwärtigen Diskussionen um die Heimerziehung in der Nachkriegszeit stehen. In mehr oder weniger ausführlichen Aufsätzen werden die formalen Einweisungs-, Verlegungs- und Entlassungsverfahren, die Beschulung und Ausbildung, die Bereiche Arbeit und Freizeit, Religion und religiöse Erziehung, Ernährung, Gesundheit und Hygiene sowie Strafen, die medizinisch-psychologischen Untersuchungen der InsassInnen bzw. die in diesem Kontext angewandte Verabreichung von Psychopharmaka und schließlich das Personal und die Erzieherausbildung näher untersucht.
Gerade diese Teile zeigen, dass die Fürsorgeerziehung bis weit in die sechziger Jahre zutiefst von den strukturellen und inhaltlichen Kontinuitäten der Totalen Institution Heimerziehung geprägt war, die sich bis in die Anfänge der staatlich organisierten Anstaltserziehung zurückverfolgen lassen. Was bis weit in die sechziger Jahre unter dem Deckmantel von „Hilfe“ und „Fürsorge“ in den Erziehungseinrichtungen praktiziert wurde, verstieß – wenn dies auch von den Autoren selten deutlich benannt wird – systematisch gegen die Interessen und Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen.
Ein besonders düsteres Kapitel stellt in diesem Zusammenhang ein Mitte der sechziger Jahre unter der Ägide des an den nazistischen „Euthanasie“-Verbrechen beteiligten Psychiaters Friedrich Panse durchgeführter Medikamentenversuch an den Insassen eines Düsseldorfer Erziehungsheims dar, der einer massiven Verabreichung von Psychopharmaka Vorschub leistete (485-494) und zeigt, welch geringer Stellenwert den Interessen der Kinder und Jugendlichen letztlich zugemessen wurden.
Das letzte Kapitel bilden die Auszüge aus vier problemzentriert-narrativen Zeitzeugeninterviews, die mit ehemaligen „Heimkindern“ geführt wurden. Insgesamt wurden im Rahmen des Forschungsprojektes 14 Interviews erhoben, um sich damit, so die Verfasserin, der subjektiven Perspektive derjenigen anzunähern, die einen Teil ihrer Jugend in den rheinischen Erziehungseinrichtungen zugebracht haben. Zudem sollten damit Lücken in der Aktenüberlieferung geschlossen und Aussagen der Akten kontrastiert werden. Ein wichtiger Aspekt, denn tatsächlich bleibt die Perspektive der Betroffenen bis dahin weitgehend außen vor, sieht man von gelegentlich eingestreuten Interviewpassagen ab.
Allerdings kann dieser Teil der Studie letztlich nicht überzeugen. Weder wird plausibel dargelegt, nach welchen Kriterien die Interviewpartner aus den über hundert eingegangenen Anrufen Betroffener bei der LVR-Hotline ausgewählt wurden, noch lässt sich nachvollziehen, warum ausgerechnet die vier abgedruckten Interviews einer vertieften Analyse unterzogen wurden. Wobei der Ausdruck „Analyse“ ohnehin mit Vorsicht zu genießen ist. Tatsächlich handelt es sich jeweils um eine kurze, mit längeren Auszügen aus den Interviews unterlegte biografische Skizze, der ein knapper Hinweis auf das „zentrale Thema“ des Interviews folgt, ohne dass auf dieses selbst näher eingegangen wird.
Leider wird auch im abschließenden Resümee nicht der Versuch unternommen, das Potenzial rekonstruktiver Sozialforschung zu nutzen und den Alltagserfahrungen der ehemaligen Heimkinder auf den Grund zu gehen, nach den lebensgeschichtlichen Bedeutungen der Heimerziehung oder den Folgen der Erziehung zu fragen. Letztlich (davon zeugt auch das quantitative Verhältnis dieses Kapitels zum Rest des Textes) bleiben die Interviews illustratives Beiwerk zur Aktenanalyse, womit eine große Chance vertan wurde, die Betroffenen zu Wort kommen zu lassen.
Leider gilt dieser zwiespältige Eindruck auch für die abschließend von allen Autoren gemeinsam verfasste Gesamtbilanz, die unter dem Strich nicht mehr ist als eine (ehrlicherweise auch so bezeichnete) Zusammenfassung der vorgängig en Detail präsentierten Entwicklungen. Spätestens an dieser Stelle hätte mehr analytischer Tiefgang statt reiner Deskription dem Buch gut getan. Worin bestand eigentlich die im Titel prominent platzierte „Modernisierung“ der Heimerziehung und welche Reichweite hatten die darunter gefassten Entwicklungen? Wie verhielt sich die für die Nachkriegszeit konstatierte Modernisierung zur Modernisierung der Heimerziehung in den zwanziger Jahren? Handelte es sich um eine neue Qualität oder um die Fortführung bereits seit Jahrzehnten bekannter Entwicklungen?
Immerhin war das von den Autoren als Kennzeichen der Modernisierung hervorgehobene „Konzept einer Heim- und Gruppendifferenzierung“ (540) bereits ein zentrales Kennzeichen der Heimerziehung in der Zwischenkriegszeit (ein Konzept im Übrigen, das selbst während des Nazismus unter rassistischem Vorzeichen weitergeführt wurde!). Wie stand es dagegen mit jenen Dimensionen von Modernisierung, die sich nicht allein auf die Ausdifferenzierung von Strukturen und Organisationen bezogen, etwa der Zunahme von individuellen Handlungsspielräumen, Teilhabe und demokratischen Prinzipien?
Auch wäre es angebracht gewesen, zumindest als Ausblick ein paar Worte zu der Zeit nach 1972, dem Endpunkt der Studie, zu verlieren. Letztlich wird suggeriert, dass es mit den Anfang der siebziger Jahre veröffentlichten Reformpapieren zu einer Kehrtwende in der Heimerziehung gekommen sei. Worin diese aber bestanden hat, wird nicht ausgeführt bzw. recht lapidar beschrieben: „Das System der Heimerziehung differenzierte sich weiter aus und erprobte viele neue Modelle“ (149). Ebenso stellt sich die Frage, ob die in den Papieren anvisierten Reformen tatsächlich ohne weiteres umgesetzt werden konnten. Ein Blick in die heimkritische Literatur, die nicht zufällig in den siebziger Jahren in großer Zahl auch mit Blick auf rheinische Anstalten publiziert wurde, deutet jedenfalls auf anderes hin. Die Kritik am alltäglichen Skandal Heimerziehung endete keineswegs zu Beginn der siebziger Jahre, sondern wurde bis zum Ende des Jahrzehnts immer wieder laut.
Schließlich wäre angesichts der gegenwärtigen Diskussionen um die Heimerziehung der Nachkriegszeit bzw. die Entschädigungsforderungen der ehemaligen Heimkinder auch eine klare Positionierung zu den damit verbundenen Fragen wünschenswert gewesen. Diese Diskussionen bilden den Kontext der Untersuchung, auf den erstaunlicherweise nicht näher eingegangen wird.
EWR 10 (2011), Nr. 3 (Mai/Juni)
Verspätete Modernisierung
Öffentliche Erziehung im Rheinland – Geschichte der Heimerziehung in Verantwortung des Landesjugendamtes (1945-1972)
2011 (Dokumente und Darstellungen zur Geschichte der rheinischen Provinzialverwaltung und des Landschaftsverbandes Rheinland; Band 19)
2011 (Dokumente und Darstellungen zur Geschichte der rheinischen Provinzialverwaltung und des Landschaftsverbandes Rheinland; Band 19)
Essen: Klartext 2011
(587 S.; ISBN 978-3-8375-0475-0; 34,95 EUR)
Sven Steinacker (Wuppertal)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sven Steinacker: Rezension von: Henkelmann, Andreas / Kaminsky, Uwe / Pierlings, Judith / Swiderek, Thomas / Banach, Sarah: Verspätete Modernisierung, Ă–ffentliche Erziehung im Rheinland – Geschichte der Heimerziehung in Verantwortung des Landesjugendamtes (1945-1972) 2011 (Dokumente und Darstellungen zur Geschichte der rheinischen Provinzialverwaltung und des Landschaftsverbandes Rheinland; Band 19). Essen: Klartext 2011. In: EWR 10 (2011), Nr. 3 (Veröffentlicht am 22.06.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383750475.html
Sven Steinacker: Rezension von: Henkelmann, Andreas / Kaminsky, Uwe / Pierlings, Judith / Swiderek, Thomas / Banach, Sarah: Verspätete Modernisierung, Ă–ffentliche Erziehung im Rheinland – Geschichte der Heimerziehung in Verantwortung des Landesjugendamtes (1945-1972) 2011 (Dokumente und Darstellungen zur Geschichte der rheinischen Provinzialverwaltung und des Landschaftsverbandes Rheinland; Band 19). Essen: Klartext 2011. In: EWR 10 (2011), Nr. 3 (Veröffentlicht am 22.06.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383750475.html