Wie sollen Kinder und Jugendliche mit Migrations- oder Fluchtbiografie unterrichtet werden? In welcher Form soll dabei ihr bisheriges sprachliches und kulturelles Wissen anerkannt werden? Diese Fragen sind ein wiederkehrender Gegenstand öffentlicher und erziehungswissenschaftlicher Debatten. Eine fundierte Einordnung dieser Thematik stand für die Geschichte der BRD und DDR im deutschen Forschungsdiskurs noch aus [1]. Die Historikerin Stephanie Zloch hat nun mit ihrer an der TU Dresden entstandenen Habilitationsschrift „Das Wissen der Einwanderungsgesellschaft. Migration und Bildung in Deutschland 1945-2000“ einen beeindruckenden und quellengesättigten Beitrag zum zeithistorischen und erziehungswissenschaftlichen Forschungsdiskurs vorgelegt.
Der ambitionierte Anspruch der Studie zeigt sich darin, eine „entangled history der unterschiedlichen Gruppen von Migrantinnen und Migranten in Deutschland nach 1945“ (19) zu schreiben. Das heterogene Feld umfasst die Gruppe der Displaced Persons – Flüchtlinge, ehemalige Kriegsgefangene und Überlebende des Holocausts –, Vertriebene und Umgesiedelte aus den ehemals deutschen Siedlungsgebieten, aus der DDR in die BRD geflüchtete Personen und später Arbeitsmigrant:innen. Einzelne Gruppen und ihre Erfahrungen mit dem Schulsystem in der BRD und DDR haben bisher noch keine Berücksichtigung in bildungshistorischen Studien gefunden.
Methodologisch verknüpft Zloch eine Wissens- mit einer Migrationsgeschichte. In Anlehnung an die Systemtheorie Niklas Luhmanns unterscheidet sie dabei analytisch drei Arten von Wissen: Erstens das Governance-Wissen, das in Ministerien und Behörden über Migrant:innen produziert wird. Zweitens das Wissen von Expert:innen aus Pädagogik, Psychologie und Soziologie über Migrant:innen und drittens das selbstorganisierte und identitätsstiftende Wissen von Migrant:innen. Der Begriff der „Anerkennung“ von Wissen nimmt dabei eine herausgehobene Stellung ein. Er umfasst die Anerkennung von Bildungs- und Berufsabschlüssen bis hin zur Anerkennung von mitgebrachtem oder selbstorganisiertem Wissen von Migrant:innen (18).
In ihrer Wissensgeschichte grenzt sich die Autorin von diskursanalytischen Studien ab, die sich an den Arbeiten von Michel Foucault orientieren. Aufgrund der Fixierung auf hegemoniale Diskurs- und Wissensordnungen, verlören diese die agency von lokalen Akteuren aus dem Blick. Im Verlauf der Studie erscheint es außerdem so, als würde Zloch davon ausgehen, dass diese Arbeiten Praktiken der Kontrolle, Identifizierung und Beobachtung rein skeptisch und kritisch betrachten, ohne ihr produktives Moment in der Ordnung des Sozialen wahrzunehmen (609). Zlochs Vorbehalte sind zum Teil nachvollziehbar, bleiben aber zu schematisch. Ein Blick auf jüngere bildungs- und zeithistorische Arbeiten, die mit Bezug auf Foucaults Diskursanalyse den vermeintlichen Gegensatz von Diskurs und Handlungsfähigkeit zurückweisen und sich dem produktiven Moment von sozialen Praktiken zuwenden, hätte zu einem differenzierteren Urteil führen können [2].
Das reichhaltige Quellenmaterial der Studie umfasst v.a. Gesetze und Verlautbarungen aus Ministerien und Behörden sowie Quellen aus Schulen, Kultusverwaltungen und Privatarchiven. Ein besonderer Verdienst der Autorin besteht in der Sichtung von Quellen, die zur Stärkung der Perspektive von Migrant:innen, insbesondere von Kindern und Jugendlichen, beitragen. Neben seltenen Ego-Dokumenten wie Tagebüchern oder Briefen bezieht sich die Verfasserin besonders auf Beiträge aus Schulwettbewerben und Schülerzeitungen (40).
Das erste inhaltliche Kapitel fokussiert die „unerwartete Multiethnizität der Nachkriegszeit“ (46) bis zu den späten 1940er Jahren. Die Autorin nimmt hier mit den Lagern und Baracken der heterogenen Gruppen der Displaced Persons einen spezifischen Wissensort in den Blick, an dem für Kinder und Jugendliche provisorische Unterrichtsgebäude hergerichtet wurden. Das dritte Kapitel behandelt die Diskussion um die Schulpflicht für ausländische Staatsangehörige in der Bundesrepublik und der DDR der 1950er und 1960er Jahre. Dabei werden vielfältige Unterrichtssituationen berücksichtigt: Die privaten Schulen der italienischen oder ungarischen Diaspora in der BRD, „Heimschulen“ der koreanischen oder griechischen Flüchtlinge in der DDR oder auch „Sonderkurse für Übergesiedelte aus der DDR und Ausgesiedelte aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten“ in der BRD.
Das vierte Kapitel untersucht den Zeitraum der 1970er und 1980er Jahre der Bundesrepublik. Der Grundkonflikt dieser Zeit drückte sich in der Empfehlung der KMK von 1971 aus, im Schulsystem die „Doppelaufgabe“ von Integration und Rückkehrförderung für Schüler:innen mit Migrationsbiografie zu fördern. In der Diskussion der Aufgaben eines „Muttersprachlichen Unterrichts“ oder „Nationalklassen“ für Schüler:innen mit Migrationsbiografie, wurde die konkrete Auslegung dieser „Doppelaufgabe“ kontrovers diskutiert – und entwickelte sich mitunter zu einem Politikum. Beeindruckend ist hier v.a. das Quellenmaterial zur Debatte um den griechischen „Muttersprachlichen Unterricht“ zur Zeit der griechischen Militärjunta, in die sich vielfältige Akteure einbrachten. Diplomatische Vertretungen aus Griechenland, entsandte Lehrkräfte in Deutschland, regierungsnahe Elternvereine, Gewerkschaften oder auch zivilgesellschaftliche migrantische Organisationen stritten darum, ob die von der Militärjunta vorgegebenen Lehrbücher „eindeutig geschichtsverfälschenden und die Diktatur verherrlichenden Inhalt haben“ (381).
Das fünfte Kapitel behandelt die 1990er und frühen 2000er Jahre und analysiert das Wissen von migrantischen Kindern und Jugendlichen über die größere Heterogenität von Migrant:innen in der BRD oder die deutsche Wiedervereinigung. Das Wissen wird über Beiträge der Schüler:innen im Rahmen von Geschichtswettbewerben erschlossen.
Die Stärke der Studie besteht darin, bisher in der „jüngeren Migrationspublizistik“ (360) vertretene Thesen über die Integration migrantischer Kinder und Jugendlicher in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte zu differenzieren. Sie wendet sich gegen das von Mark Terkessidis eingebrachte Narrativ, es habe sich seit den 1970er Jahren eine „Integrationsindustrie“ herausgebildet, die sich mit einem „Heer aus Sozialbetreuern“ allein den Defiziten der Migrant:innen zugewandt und diese entmündigt habe [3]. Die Annahme, dass migrantische Gemeinschaften einheitlich eine Integration in das deutsche Schulsystem anstrebten und nur die deutsche Mehrheitsgesellschaft das zu verhindern versuchte, weist Zloch ebenfalls als zu unterkomplex zurück. Während die griechische Diaspora aus Angst vor kultureller Unterdrückung im deutschen Bildungssystem und getragen von einem Rückkehrwillen auf der Gründung eigener Schulen oder griechischer Sonderklassen beharrte, verfolgten italienischen Migrant:innen eine dauerhafte Ansiedlung in der Bundesrepublik und befürworteten erfolgreich eine reguläre Einschulung italienischer Kinder in das deutsche Schulsystem (319).
Zlochs Studie leistet darüber hinaus einen wichtigen Beitrag, schulhistorische Erkenntnisse zum Wandel von Schulstrukturen zu untermauern. Dieser erfolgte nicht allein im Sinne einer Top-down-Logik aus Governance-Wissen. Vielmehr habe Transformationswissen sich erst im Zusammenspiel von Wissenschaft, Verwaltung, Bildungspraxis und migrantischem Wissen vor Ort in Modellprojekten, bspw. zu Lehrplänen oder Unterrichtsmaterialien im „Muttersprachlichen Unterricht“, herausgebildet (492).
Zlochs Blick auf Beispiele „unter dem Radar der öffentlichen Aufmerksamkeit“ (606) ist äußerst produktiv. Noch stärker wäre die Studie allerdings mit einer besseren Lesbarkeit geworden: Die weitverzweigte und materialreiche Fokussierung auf Lokalbeispiele erschwert es dem:der Leser:in mitunter, übergreifende Argumentationslinien und Reformprozesse im Blick zu behalten. Eine einheitliche Strukturierung der vier Hauptkapitel entlang zentraler Gesetzestexte, Wissensformen oder Migrationsphänomene hätte hier eine klarere Orientierung bieten können.
Zudem hätte die Studie davon profitiert, wenn auch das erziehungswissenschaftliche Experten-Wissen, v.a. seit den 1970er Jahren, breiter und systematischer entfaltet worden wäre. Das hätte auch einen transnationalen Blick auf die Rezeption von Wissen aus anderen westlichen Migrationsgesellschaften eröffnet. Anfang der 1970er Jahre lagen in Deutschland bereits Studien zu „multikultureller Identität“ und Multilingualität aus England und den USA vor, die eigensinnig rezipiert wurden. Auch verwundert, dass das prominente, in den 1990er Jahren entwickelte erziehungswissenschaftliche Konzept des „monolingualen Habitus“ der deutschen Schule nicht stärker in die Argumentationsstruktur eingebunden wurde [4]. Gerade in der gesellschaftshistorischen Fundierung und Differenzierung solcher Konzepte besteht die Stärke von Zlochs Studie.
Ungeachtet dieser Einwände ist Zlochs Studie in vieler Hinsicht ein Gewinn für die historische Bildungs- und Migrationsforschung. Die differenzierte Erschließung neuer Quellen liefert gerade für den deutschen Forschungsdiskurs wertvolle Impulse für weitere Untersuchungen. Der komplexen und detailreichen Studie ist daher eine breite Leser:innenschaft zu wünschen.
[1] Stokes, L. (2022). Fear of the Family. Guest Workers and Family Migration in the Federal Republic of Germany. Oxford University Press.
[2] Elberfeld, J. (2020). Anleitung zur Selbstregulation. Eine Wissensgeschichte der Therapeutisierung im 20. Jahrhundert. Campus.
Garz, J. T. (2022). Zwischen Anstalt und Schule. Eine Wissensgeschichte der Erziehung „schwachsinniger“ Kinder in Berlin, 1845-1914. transcript.
[3] Terkessidis, M. (2010). Interkultur (S.47). Suhrkamp
zuletzt auch Yildiz, E., & Hill, M. (2015). Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft (S. 10). transcript.
[4] Gogolin, I. (1994). Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Waxmann.
EWR 23 (2024), Nr. 1 (Januar)
Das Wissen der Einwanderungsgesellschaft
Migration und Bildung in Deutschland 1945–2000
Göttingen: Wallstein Verlag 2023
(676 S.; ISBN 978-3-8353-5491-3; 54,00 EUR)
Max Schellbach (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Max Schellbach: Rezension von: Zloch, Stephanie: Das Wissen der Einwanderungsgesellschaft, Migration und Bildung in Deutschland 1945–2000. Göttingen: Wallstein Verlag 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.02.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383535491.html
Max Schellbach: Rezension von: Zloch, Stephanie: Das Wissen der Einwanderungsgesellschaft, Migration und Bildung in Deutschland 1945–2000. Göttingen: Wallstein Verlag 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.02.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383535491.html