Nach Kathrin Kämpf, die sich in ihrer 2021 publizierten Dissertationsschrift mit der Diskursgeschichte der „Pädophilie“ befasst hat [1], legt nun auch Sonja Matter eine historische Studie zu diesem längst überfälligen Thema vor: Sie widmet sich dem Umgang mit sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der österreichischen Geschichte von 1950 bis 1990. Während Kämpf vorrangig die Fachdebatten über „Pädophilie“ im 20. Jahrhundert untersucht hat, verzahnt Matter diese eng mit der justiziellen Praxis. Zu diesem Zweck hat sie 200 Strafgerichtsfälle ausgewertet, die das Kreisgericht St. Pölten wegen Verstößen gegen das sexuelle Schutzalter in den ausgewählten Stichjahren 1950, 1960 und 1970 verhandelte. Die Autorin fokussiert dabei nicht vorrangig die Diskurse um den/die Täter:in, sondern vielmehr die Debatten um das Schutzalter. Auf diese Weise gelingt es ihr, auch Grauzonen auszuleuchten. Matter schreibt dazu, dass gerade „die Auseinandersetzung mit dem sexuellen Schutzalter“ es bedinge, „Begriffe wie sexuelle Mündigkeit, Zwang und Freiwilligkeit selbst zu historisieren und dabei nicht zuletzt auch Ambivalenzen in den Blick zu nehmen, die sich in den jeweils spezifischen Machtbeziehungen zwischen den Generationen und zwischen den Geschlechtern eingeschrieben haben“ (31).
Ihre Arbeit ist klar strukturiert. Auf eine kurze Einleitung, die aktuelle Forschungsperspektiven einbezieht, folgen drei inhaltlich sehr unterschiedliche Kapitel. Im ersten Kapitel untersucht sie die Genese des österreichischen Strafrechts. Daran schließt sich der empirische Teil an: Matter analysiert anhand von drei Oberthemen im zweiten Kapitel ausgewählte Strafgerichtsfälle aus St. Pölten. Ihre intersektionale Forschungsperspektive ermöglicht ihr einen quellenkritischen Blick, indem sie etwa nach den Kategorien „gender“ und „race“ und deren Bedeutung in der Gerichtsbarkeit fragt. Im dritten und letzten Kapitel skizziert die Autorin verschiedene Diskurse über das sexuelle Schutzalter, wobei sie auch internationale Debatten einbezieht.
Die detailreiche Studie überzeugt vor allem mit zwei Ansätzen, die im Folgenden genauer beleuchtet werden: Hier ist zunächst der Schwerpunkt zu nennen, den Matter im ersten Kapital auf das Erbe des Nationalsozialismus legt, also die Nachwirkungen des Austrofaschismus und Nationalsozialismus auf die österreichische Nachkriegsgesellschaft. Sie zeigt am Beispiel des „Kriegsheimkehrers“ auf, wie eng die zeitgenössisch dominierenden Vorstellungen von Männlichkeit, Krieg und Gewalt mit der Sorge vor steigenden Fällen von sexuellem „Kindesmissbrauch“ diskursiv verwoben waren. Auch wenn Matters Darstellung des Umgangs mit sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Nationalsozialismus etwas verkürzt ist [2], liegt in dem Ansatz, die Zeit vor 1945 einzubeziehen, ein großer Pluspunkt ihrer Studie. Denn gerade die Phase des Übergangs zwischen Diktatur und Demokratie wurde im Hinblick auf das hier behandelte Thema bislang kaum untersucht – weder für die deutsche noch die österreichische Nachkriegsgesellschaft. Matter arbeitet für das Stichjahr 1950 heraus, dass die „Strafakten von verschiedenen Formen sozialer Vulnerabilität der historischen Akteure und Akteurinnen“ zeugen, die „unmittelbar auf den Krieg und die nationalsozialistische Herrschaft zurückgingen“ (136). Genannt werden hier traumatische Kriegserfahrungen, aber auch die Vergewaltigungen von Frauen durch alliierte Soldaten am Kriegsende sowie die zu diesem Zeitpunkt prekäre ökonomische Lage vieler Familien. All dies wirkte sich auf das Binnenleben in den Familien aus, gleichzeitig wurde die heterosexuelle Kernfamilie aber in der durch Zerrüttung geprägten Nachkriegszeit als gesellschaftliche Stütze idealisiert. Die Auseinandersetzung mit sexueller Gewalt gegen Kinder hatte da wenig Platz – einerseits. Andererseits sanktionierte das Strafgericht in St. Pölten Fälle von innerfamiliärer sexueller Gewalt „härter als andere Fälle von Verletzungen des sexuellen Schutzalters“ (S. 134). Und dies auch, wenn die Täter Kriegsheimkehrer waren, die sich ihrerseits mit Bezug auf erlittene Kriegstraumata zu verteidigen suchten.
Erst in den 1970er Jahren, so Matter, „verschwanden Bezüge zum Zweiten Weltkrieg ganz aus den Argumentationsstrategien der Angeklagten“ (150). Demgegenüber fungierten in den 1960er Jahren virulente Theorien zu kindlicher Sexualität als „ein Angebot zu einer nationalsozialistischen Vergangenheitsbewältigung“ (319). In Teilen der Sexualwissenschaft galten Kinder nun als von (faschistischen) autoritären Strukturen zu befreiende Subjekte. Auch wenn sich Positionen, die gar eine Abschaffung des Schutzalters forderten, nicht durchsetzen konnten, kam es in Österreich ab 1975 punktuell zu einer Umsetzung von Liberalisierungsforderungen. Denn mit der „Alterstoleranzklausel“ fielen Übergriffe unter Jugendlichen, zwischen denen nicht mehr als zwei Jahre Altersabstand lagen, nicht mehr unter das Sexualstrafrecht, sondern konnten lediglich als Körperverletzung geahndet werden. Dies führte insbesondere für adoleszente Mädchen zu einem geringeren Schutz vor sexueller Gewalt.
Und damit ist bereits der zweite innovative Untersuchungsstrang eingeleitet, den Matter in ihrer Arbeit verfolgt: Die Frage nach einer spezifischen Betrachtung adoleszenter Mädchen und der „Grauzonen“, der sie insbesondere im zweiten Kapitel nachgeht. Sie liefert hier eine äußerst gelungene Analyse von Gerichtsakten. Neben Fällen von eindeutiger sexueller Gewalt thematisiert Matter auch Gerichtsverfahren gegen Paare, bei denen 12- bis 13-jährige Mädchen eigenen Angaben zufolge konsensuale sexuelle Begegnungen mit „sexualmündigen Personen“ (166) eingingen – immerhin betrifft dies 23 Fälle in ihrem Sample. Allerdings weist sie zu Recht an dieser Stelle darauf hin, dass die Mädchen meist keine gleichberechtigte Position in der Beziehung einnahmen. Denn sie waren bspw. „vielfach ungenügend aufgeklärt und hatten keinen Zugriff auf Verhütungsmittel“ (168).
Auch legt sie dar, wie die Mädchen sich selbst als sexuell passiv beschrieben und damit der zeitgenössischen heterosexuellen Vorstellung von weiblicher Sexualität verhaftet blieben. Gleichwohl vertritt die Autorin die bedenkenswerte These, dass die Bestimmungen zum Schutzalter „nicht nur zum Schutz von Minderjährigen“ fungierten, „sondern auch als Möglichkeit, ihr sexuelles Verhalten zu disziplinieren und zu normieren“ (166).
Adoleszente Mädchen galten – wenn sie bereits sexuelle Erfahrungen gesammelt hatten und/oder ein eigenes sexuelles Begehren formulierten – vor Gericht häufig nicht mehr als schützenswerte Kinder, sondern „primär als Objekt, auf das ein sexuelles Begehren gerichtet ist“ (318).
Dies konnte für die betroffenen Mädchen enorme Konsequenzen haben. So wurde ihnen nicht selten eine Mitschuld an den Taten zugesprochen – und dies nicht nur im Fall von konsensualen Beziehungen, sondern auch bei brutalen Gewalttaten wie etwa Gruppenvergewaltigungen. Zudem drohte den Mädchen neben gesellschaftlicher Ächtung die Einweisung in ein Erziehungsheim, während jugendliche männliche Angeklagte vielfach nicht einmal ihre Haftstrafe absitzen mussten. Dabei spielte gerade bei innerfamiliärer Gewalt die These einer angeblichen „Verführung“ durch die Mädchen eine Rolle. In diesem Zusammenhang diskutierte die Fachwelt in den 1960er Jahren sogar die Frage, inwiefern „eine strafrechtliche Verfolgung von Inzest überhaupt noch legitim war“ (146).
Gleichwohl sprach das Kreisgericht St. Pölten in solchen Fällen lange Haftstrafen aus. Wie das tragische Beispiel von Almuth P. zeigt, half dies den Betroffenen jedoch nur bedingt: Um 1970 war sie als 13-Jährige erstmals sexueller Gewalt durch ihren Bruder Bernhard ausgesetzt, hatte dann laut eigener Aussage weiteren sexuellen Handlungen zugestimmt und schließlich nach einer ungewollten Schwangerschaft durch ihren Bruder im Alter von 14 Jahren ein Kind geboren, welches sie kurz nach der Geburt erstickte. Matter schreibt die Tötung des Babys der Wirkungsmacht des „Inzesttabus“ zu – Almuth P. habe keinen anderen Ausweg gesehen. Dabei war das Gefühl der „Scham“ zentral: denn ein Missbrauch innerhalb der Familie galt (und gilt) „als moralisch besonders verwerflich“ (149). Dieses Schamgefühl führte (und führt) zu einer „Verschleierung von Machtmissbrauch, die ältere Familienmitglieder gegenüber jüngeren ausübten“. (149). Wie Matter schreibt, „gehörten inzestuöse Handlungen zu den am stärksten stigmatisierten“ (150), woraus sich „hohe soziale Kosten“ (150) für Betroffene ergaben, die mit einer Anzeige oder allgemein mit einer Offenlegung verbunden waren. Es ist ein Gewinn ihrer Arbeit, dass sie den vor Gericht geäußerten Gefühlen der Betroffenen ein eigenes Teilkapitel widmet, indem sie schildert, wie die Kinder und Jugendlichen Scham, Ekel und Angst angesichts der ihnen angetanen Gewalt kommunizierten. Diese Sichtweisen Betroffener bleiben bis heute häufig eine Leerstelle.
Etwas losgekoppelt wirkt indes das dritte Kapitel, in dem Matter die Ausgestaltung des österreichischen Strafrechts vor dem Hintergrund nationaler und internationaler Debatten behandelt. Insgesamt wäre eine stärkere Verschränkung der im dritten Kapitel geschilderten Diskurse mit der juristischen Praxis bzw. den Fallakten wünschenswert gewesen. Auch bleiben die Darstellung etwa der „Pädophilie“ als Pathologie und des Umgangs mit Täter:innen, aber auch Betroffenen, wie bspw. die in Österreich in den 1960er Jahren durchgeführten Hormonbehandlungen, etwas rudimentär. Hier wäre eine Verknüpfung zu jüngsten Studien über Gewalt in der Heimerziehung der BRD und DDR wünschenswert und spannend [3].
Es handelt sich gleichwohl um eine ĂĽberaus lesenswerte Studie fĂĽr alle, die sich nicht nur mit den Debatten um sexuelle Gewalt, sondern auch der konkreten juristischen Praxis auseinandersetzen wollen.
[1] Kämpf, K. (2021). Pädophilie, Eine Diskursgeschichte. Die Geschichte der Figur des Pädophilen von der raren sexuellen »Perversion« des 19. Jahrhunderts zu einer der Gefahrenfiguren des 21. Jahrhunderts. Transcript.
[2] Matter fokussiert die repressive Seite des NS-Staates. Tatsächlich sanktionierten aber im Nationalsozialismus die Gerichte nicht alle Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder härter als in demokratischen Systemen. Entscheidend war vielmehr, ob die Taten als „pathologisch“ oder als „Ersatztaten“ gewertet wurden. Vgl. dazu Lieske, D. (2021). Zwischen der Bagatellisierung sexueller Gewalt und drakonischen Strafen – Zum Umgang mit sexuellem Kindesmissbrauch im Nationalsozialismus, In B. Aschmann (Hrsg.), Katholische Dunkelräume. Die Kirche und der sexuelle Missbrauch (S. 155-170). Ferdinand Schöningh.
[3] Wagner, S. (2020). Arzneimittelversuche an Heimkindern zwischen 1949 und 1975. Mabuse.
EWR 22 (2023), Nr. 3 (Juli)
Das sexuelle Schutzalter
Gewalt, Begehren und das Ende der Kindheit (1950–1990)
Göttingen: Wallstein 2022
(408 S.; ISBN 978-3-8353-5306-0; 34,00 EUR)
Dagmar Lieske (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Dagmar Lieske: Rezension von: Matter, Sonja: Das sexuelle Schutzalter, Gewalt, Begehren und das Ende der Kindheit (1950–1990). Göttingen: Wallstein 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 3 (Veröffentlicht am 19.07.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383535306.html
Dagmar Lieske: Rezension von: Matter, Sonja: Das sexuelle Schutzalter, Gewalt, Begehren und das Ende der Kindheit (1950–1990). Göttingen: Wallstein 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 3 (Veröffentlicht am 19.07.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383535306.html