Archive als Orte der Wissensaufbewahrung und -aggregierung und somit auch als Vorbedingung oder gar Akteure im Prozess der wissenschaftlichen Wissensproduktion anzusehen, hat seit einigen Jahren Konjunktur (1). Die von Philipp MĂŒller als gekĂŒrzte Version seiner Habilitationsschrift vorgelegte Monografie untersucht in einer dezidiert historischen Perspektive Archivpraktiken im 19. Jahrhundert. Vor dem Hintergrund seiner Befunde stellt er harte ZĂ€suren und etablierte Narrative bezĂŒglich der Geschichte der Archive sowie der Historiographie ĂŒberzeugend in Frage, wonach die Erweiterung des institutionellen Aufgabenfeldes der Archive um eine historische Nutzung zĂ€surhaft mit der Französischen Revolution oder mit abstrakten Reformideen von âobenâ verbunden war. Leitend fĂŒr die Studie ist die Frage nach «der Rolle und Bedeutung von Archiven bei der Verfertigung historischen Wissens im 19. Jahrhundert» (16). Analysiert werden die «institutionellen Bedingungen, unter denen Archivmaterial zu historischen Forschungszwecken eingesehen werden konnte» (16).
Im Zentrum von MĂŒllers Untersuchung steht somit die langsame und im Zuge eines «politisch-gesellschaftlichen Kommunikationsprozesses» (16) erfolgte Ăffnung der zunĂ€chst als rechtspolitische Institutionen positionierten Archive auch fĂŒr Anliegen historisch Forschender im Laufe des 19. Jahrhunderts. Entsprechend setzt seine an den Beispielen PreuĂens und Bayerns stringent entwickelte Argumentation mit der Darstellung des Archivs als rechtspolitische Institution ein, die wesentlich durch die aus der frĂŒhneuzeitlichen Arkanpolitik tradierte Sekretierung von Material charakterisiert war. Das VerstĂ€ndnis der Archive als Orte geheimer Sammlungen von rechtspolitischen Beweisen blieb ĂŒber das gesamte 19. Jahrhundert bestehen und wies den Archiven eine zentrale Funktion bei der rechtlichen und herrschaftspolitischen Absicherung eines Landes zu. Die Archivpraktiken umfassten zunĂ€chst denn auch vor allem das Sammeln, Erweitern und Ordnen von Rechtsbeweisen, um Anfragen von Regierungen und Verwaltungen möglichst rasch und fundiert bearbeiten zu können.
Diesem originÀren Zweck des Archivs und insbesondere der Maxime der Geheimhaltung liefen die im Laufe des 19. Jahrhunderts vermehrt aufkommenden Anfragen um Einsicht in das Aktenmaterial zunÀchst zuwider. Historisch Forschende und Gelehrte mussten als Bittsteller auftreten. Erfolg war ihnen keineswegs immer beschieden, und auch wenn ihre Suppliken Gehör fanden und Akteneinsicht gewÀhrt wurde, blieb diese stets punktuell. Vorgelegt wurden Archivmaterialien erst nach der Zensur durch die Archivare und auch die im Archiv angefertigten Exzerpte der Forschenden wurden einer Nachzensur unterzogen. Dennoch etablierte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt auch aus einem staatlichen Interesse an einer «patriotische[n] Geschichtsschreibung» (197) heraus eine Archivnutzung, die historische Forschung zusehends mit einschloss.
Wie dieser dynamische Prozess ablief, untersucht MĂŒller in neun Kapiteln, die wiederum in drei Hauptteile gegliedert sind. Die Studie fuĂt hauptsĂ€chlich auf der Quellengrundlage des Schriftgutes von Archivverwaltungen und Regierungen, aber auch der Akademien der Wissenschaften in MĂŒnchner und Berliner Archiven. Daneben werden zudem persönliche Briefe der historisch Forschenden sowie ihre historischen Studien herangezogen.
Ein erster Teil der Monografie stellt das Archiv als rechtspolitische Institution vor und diskutiert u. a. das Sammeln und Ordnen von Archivmaterialien oder die alltĂ€gliche Nutzung der Archive. Dabei wird auch weniger Offensichtliches beleuchtet: etwa die LichtverhĂ€ltnisse, die die alltĂ€gliche Arbeit der Archivmitarbeiter beeinflussten, oder die neben den Archivaren tĂ€tigen «(un-)sichtbaren âTechnikerâ», die mit der Reinigung oder Heizung der Archive beauftragt waren (120; 126). MĂŒller arbeitet in diesem Teil vor allem drei fĂŒr die Archive charakteristische Elemente heraus: zentral sei, dass sie eine rechtssichernde Funktion fĂŒr Staat und Gesellschaft innehatten, durch die Regierungsbehörden kontrolliert und verwaltet wurden, und dass ein kleiner, streng hierarchisch geordneter Personalbestand ihren GeschĂ€ftsbetrieb trug (S. 132).
Im zweiten und umfangreichsten Teil der Studie werden aufkommende Forderungen nach einer Ăffnung der Archive untersucht. Mit einem starken Fokus auf Praktiken werden beide Seiten, also sowohl die Bittsteller als auch die Archive, in den Blick genommen. Zur Darstellung kommen so die in der Tradition der frĂŒhneuzeitlichen Supplikationen gestellten Bittgesuche um Archivnutzung historisch Forschender oder das Lobbying bei einflussreichen Akteuren, welche das Bittgesuch unterstĂŒtzen sollten. Auf Archivseite werden die administrative PrĂŒfung der Gesuche, aber auch Investigationen zur Persönlichkeit der Gesuchsteller beleuchtet. MĂŒller verweist hier auf das Paradox, dass das Supplizieren kein verbĂŒrgtes Recht und somit von der willkĂŒrlichen Gnade des FĂŒrsten abhĂ€ngig war, so dass die das traditionelle ArchivverstĂ€ndnis herausfordernde Praxis des Supplizierens dasselbe gleichzeitig auch zementierte â konnte der FĂŒrst doch gerade mit dem Entscheid ĂŒber die Bittgesuche die Oberaufsicht ĂŒber die Archive und somit die arcana imperii bewahren. Mit dem Fokus auf Archivpraktiken gelingt es MĂŒller in den beiden ersten Teilen der Studie herauszuarbeiten, wie beharrlich Ă€ltere Traditionen fortbestanden, so dass gerade mit dem RĂŒckgriff auf die frĂŒhneuzeitliche Supplikationspraxis die zĂ€surhafte Deutung der Französischen Revolution als «Ursprung fĂŒr ein grundlegend neues VerhĂ€ltnis zwischen Archiven und historischer Forschung um 1800» (417) kaum mehr plausibel erscheint. Damit stĂŒtzt MĂŒller Befunde der Neuzeithistorikerin Sylvia Paletschek, wonach die Humboldtâsche UniversitĂ€tsreform in PreuĂen eine «invention of tradition der Gelehrten zu Beginn des 20. Jahrhunderts» sei (32).
Der dritte Teil der Studie diskutiert schlieĂlich die Wechselwirkung von Archivpolitiken und Historiographie. Der vordergrĂŒndige Antagonismus von auf Sekretierung beruhender Staatsreputation, öffentlicher Ordnung und einer auf persönlicher Akteneinsicht fuĂenden Historiografie wird aufgelöst und gezeigt, wie die Zusammenarbeit von politischen und wissenschaftlichen Akteuren letztlich sowohl der Politik als auch der Geschichte zu mehr Legitimation verhalf. Der Band enthĂ€lt schlieĂlich ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personenregister. Abbildungen werden dort eingesetzt, wo sie auch inhaltlich einen Zugewinn darstellen.
Gerne mehr erfahren hĂ€tte man ĂŒber den Ausschluss von Frauen aus den Archiven und den Folgen fĂŒr weibliche ForschungstĂ€tigkeit, zumal sowohl in der Einleitung als auch im Schlussteil der Studie darauf verwiesen wird (23f.; 422). Insgesamt legt MĂŒller aber eine sorgfĂ€ltig durchdachte, klug aufgebaute und quellengesĂ€ttigte Studie vor, die nie die groĂe Argumentationslinie verliert und es auch versteht, fast anekdotenhafte Details wieder darauf zu beziehen. So erfĂ€hrt man etwa, dass im Geheimen Staats- und Kabinettsarchiv in PreuĂen ein einziger Sitzplatz fĂŒr alle historisch Forschenden zur VerfĂŒgung stand und somit spĂ€ter so renommierte Historiografen wie etwa Leopold von Ranke oder Johann David Erdmann Preuss mit weiteren Herren um die Nutzung buhlen mussten (342). Die evozierte Vorstellung ist witzig und verweist zugleich auf einen wichtigen Punkt der Argumentation: Die rĂ€umliche Situation in vielen Archiven war eben nicht auf eine öffentliche Nutzung ausgerichtet. Entsprechend wurden Benutzerzimmer oder LesesĂ€le vielerorts erst in der zweiten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts installiert (373). Es wird deutlich, wie marginal die heute so selbstverstĂ€ndliche Archivrecherche im Zusammenhang mit historischer Forschung im 19. Jahrhundert zunĂ€chst war und wie sehr sich das Archiv vom naturwissenschaftlich genutzten Labor unterschied, in dem Experimente weitgehend unabhĂ€ngig von UnterstĂŒtzung und Wohlwollen von Regierung und Verwaltung nach wissenschaftlichen Kriterien geplant und durchgefĂŒhrt werden konnten. Die von MĂŒller vorgelegte Studie zu den Archivpraktiken des 19. Jahrhunderts ist auf jeden Fall eine lohnende LektĂŒre fĂŒr alle, die entweder selbst historisch forschen oder sich fĂŒr historische Forschung und Archivpolitik im 19. Jahrhundert interessieren.
[1] Z. B. Daston, Lorraine (2017): Introduction: Third Nature. In: Dies. (Hrsg.): Science in the Archives. Pasts, Presents, Futures. Chicago, London, S. 1-14, hier S. 2.
EWR 19 (2020), Nr. 5 (November / Dezember)
Geschichte machen
Historisches Forschen und die Politik der Archive
Göttingen: Wallstein 2019
(517 S.; ISBN 978-3-8353-3599-8; 44,90 EUR)
Andrea De Vincenti (ZĂŒrich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andrea De Vincenti: Rezension von: MĂŒller, Philipp: Geschichte machen, Historisches Forschen und die Politik der Archive. Göttingen: Wallstein 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 5 (Veröffentlicht am 22.12.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383533599.html
Andrea De Vincenti: Rezension von: MĂŒller, Philipp: Geschichte machen, Historisches Forschen und die Politik der Archive. Göttingen: Wallstein 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 5 (Veröffentlicht am 22.12.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383533599.html