
Der Herausgeberband Stadt macht Schule behandelt am Beispiel der Stadt Wolfsburg die wechselseitige Verflechtung von Stadt- und Schulentwicklung im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wiederaufbau nach 1945. Er setzt sich zum Ziel, einerseits die historische Stadtforschung um die Perspektive auf die Bedeutung der Schulen für die Stadtentwicklung zu erweitern. Andererseits möchte der Band die «Sehgewohnheiten der Bildungsgeschichte [...] differenzieren» (S. 16), insbesondere was eingespielte Charakterisierungen der Schulgeschichte der ersten Nachkriegsjahrzehnte zwischen Restauration in den 1950er Jahren und Planungseuphorie der 1960er Jahre anbelangt. Der Band geht aus einem Seminar hervor, das die Herausgeberin Sabine Reh und der Herausgeber Alexander Kraus an der Humboldt Universität durchgeführt haben.
Es ist dem Band anzurechnen, dass er Stadt-, Kommunal- und Bildungsgeschichte in einen Dialog bringt, der in der Bildungsgeschichte so noch selten geführt wurde. Durch die Einbettung der Entwicklung des Schulsystems in die Entwicklung des städtischen Raums werden viel versprechende Perspektiven für erziehungswissenschaftliche Debatten etwa um die Kategorie Raum eröffnet. In der Bildungsgeschichte könnten so die zuletzt geführten Diskussionen über Schulhausbauten eine Erweiterung von eher architekturgeschichtlichen hin zu städtebaulichen Fragen erfahren [1].
Im Untertitel des Bandes wird vom «Soziallabor» der Bundesrepublik gesprochen. Im Einleitungstext (Alexander Kraus und Sabine Reh) wird dieser Fokus auf «Wolfsburg als Schullabor der Bundesrepublik» eingegrenzt. Alle der sieben im Band enthaltenen Studien beziehen sich auf dieses Fallbeispiel, das jeweils aus unterschiedlichen Blickwinkeln vertieft wird. Diese reichen thematisch von landschaftsarchitektonischen Aspekten der Schultopographie (im Beitrag von Margarete Arnold) über die Rekonstruktion der Praxis von Schulgutachten (im Beitrag von Max Wendland) bis zu Fragen der Politisierung von SchülerInnen (in den Beiträgen von Alexander Kraus und Anke Engemann). Der Forschungsgegenstand wird dadurch in einer faszinierenden Vielschichtigkeit fassbar. Die Diversität der Beiträge wirft allerdings auch Fragezeichen auf. Da die Einleitung darauf verzichtet, die im Titel genannten Begriffe «Schulentwicklung» und «Soziallabor» im Kontext der Stadt- und Schulgeschichte konzeptionell genauer zu perspektivieren, beantworten die verschiedenen Beiträge die Frage, inwiefern Stadt Schule macht (Titel des Buches), sehr unterschiedlich und manchmal auch nur assoziativ.
Dass in Wolfsburg nicht nur «Stadt Schule» gemacht hat, sondern auch «Schule Stadt», zeigt eindrücklich etwa Anke Engemann in ihrem Beitrag zur politischen Partizipation von SchülerInnen zwischen 1948 und 1980. Diese war als eine Form der Demokratieerziehung modelliert, welche in der Praxis zu einem mehrfachen Aufbrechen der pädagogischen Ordnung führte. Engemann zeigt an einer Bewegung, die sie von der historischen Rekonstruktion zu dem von Kant formulierten Problem der Kultivierung der Freiheit beim Zwang führt, wie sich hier der pädagogische Raum konsequenterweise, aber nicht ohne Friktion überlebte: SchülerInnen begannen, verantwortungsbewusste Mitgestaltung auf Augenhöhe einzufordern. Der Artikel führt solche Dynamiken an zahlreichen Beispielen politischer Zusammenschlüsse von SchülerInnen auf, etwa in Bezug auf politische Aktivitäten, Publizistik in Schülerzeitungen oder Streiks. Die SchülerInnen begriffen sich zunehmend als politische Subjekte: zwar vermittelt über schulische Angelegenheiten, aber nicht mehr ausschließlich im innerschulischen Sinne, sondern auch als «Heranwachsende[...] im politischen Raum der Stadtöffentlichkeit» (S. 253).
Ein weiteres Beispiel, wie Schule Stadt ebenso mitkonstituiert wie umgekehrt, zeigt Margarete Arnolds Beitrag zur Wolfsburger Schultopographie der 1950er Jahre. Diese Perspektive erörtert die Rolle, die Schulhausanlagen dem Gesamtbild einer Stadt geben können. In Wolfsburg wurden bis 1960 aufgrund der Kriegsschäden und der Bevölkerungsentwicklung 15 neue Schulgebäude errichtet. Im Einklang mit modernistischen Forderungen etwa nach Luft und Licht wurde den Anlagen um das Schulgebäude besonderes Augenmerk geschenkt. Wie Arnold am Beispiel zweier Schulporträts aufzeigt, sollten die Schulen im architektonischen Sinne unter dem Eindruck der heilenden Kraft der Naturerfahrung zu einem Heilungsprozess und Aufbruch der Nachkriegsbevölkerung beitragen.
Denise Löwe, Britta Eiben-Zach und Sabine Reh wiederum thematisieren die Wechselwirkung von Schule und Stadt nicht nur im Hinblick auf den Beitrag der Schule zum Aufbau einer funktionierenden kommunalen Ordnung, sondern auch zur Identifikation der BürgerInnen mit ihrer Stadt als Heimat. Genau dies stellte für Wolfsburg – wie angedeutet – aufgrund der besonderen Geschichte eine Herausforderung dar. Die Autorinnen rekonstruieren die Schulentwicklung der beiden Gymnasien Ratsgymnasium (1942 zunächst als Städtische Oberschule gegründet) und Theodor-Heuss-Gymnasium (im Schuljahr 1959/60 zunächst als Außenstelle des Ratsgymnasiums eröffnet). Der Artikel richtet das Augenmerk etwa auf die baulichen Bedingungen, die durch Raumnot gekennzeichnet waren, und analysiert die politisch wie auch demographisch gegebenen Voraussetzungen für die Neubauten der beiden Gymnasien in den 1950er Jahren. In einem weiteren Schritt zeigt er die Positionierung der Gymnasien als «Leistungsschulen» im spezifischen Kontext Wolfsburgs als einer Stadt ohne nennenswertes Bildungsbürgertum. Schließlich fokussiert der Beitrag die erwähnte heimaterzieherische Arbeit an den Gymnasien.
Diese wie auch die anderen Beiträge des Bandes sind Beispiele für fruchtbare gegenseitige Inspirationen im Spannungsfeld von Bildungsgeschichte und historischer Urbanistik. Dass mit der Stadt Wolfsburg aufgrund der Besonderheiten einer noch jungen Stadt ein hoch interessanter Untersuchungsgegenstand vorliegt, wird durch sämtliche Beiträge hindurch deutlich. Die Bedeutung der Industrie, die Dynamik des Bevölkerungswachstums wie auch die Spezifik der Bevölkerungsstruktur, die unmittelbar nach Kriegsende vor allem durch die Heimatvertriebenen und später die ArbeitsmigrantInnen konstituiert wurde, sind weitere Aspekte, weshalb Wolfsburg als Fallbeispiel einleuchtet. Auf konzeptueller Ebene sind die wechselseitigen Bezüge von Stadt- und Bildungsgeschichte wie erwähnt noch nicht restlos geklärt; dies mag hoffentlich zu weiteren Themenstellungen für künftige Seminare und Projekte führen.
[1] Kerstin Renz: Testfall der Moderne. Diskurs und Transfer im Schulbau der 1950er Jahre. Tübingen, Berlin: Wasmuth 2016; für konzeptuelle Diskussionen zu raumtheoretischen Perspektiven auf Bildungs- und Schulgeschichte vgl. z.B. die Beiträge im Themenschwerpunkt «Pädagogisierung von Räumen. Reale, imaginierte und fiktive Bildungsorte in der Deutschschweiz im 19. und 20. Jahrhundert» in der Zeitschrift Historia Scholastica, 1(4), 2018.