Auf der einen Seite ist der Fachkräftebedarf vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung in Deutschland aktueller denn je. Zahlreiche Studien belegen, dass es in Zukunft immer schwieriger wird, qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen oder langfristig zu binden. Als Folge des Nachrückens geburtenschwacher Jahrgänge hat sich inzwischen ein Mangel an Auszubildenden eingestellt. Zahlreiche Lehrstellen bleiben unbesetzt. Auf der anderen Seite deuten Beispiele schulischer und beruflicher Misserfolgserlebnisse als Förderschüler (43), mangelnde soziale Unterstützung im Elternhaus (47), Dauerbewerbungsabsagen (51) und prekäre Ausbildungs- und Erwerbsbiographien (153) darauf hin, dass es noch einen großen Handlungsbedarf im matching von Ausbildungsplatz- bzw. Arbeitsplatzsuchenden und Unternehmen gibt.
Vor diesem Hintergrund fragt Puhr mit ihrer Studie konkret nach: Wann führt die Exklusion aus dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu sozialer Ausgrenzung in unserer modernen Gesellschaft? Diesem Problem, seinen Folgen auf der individuellen Ebene und möglichen Alternativen widmet sich die Untersuchung der Pädagogin. Im Zentrum des Buches steht die Frage nach „möglichen Bedeutungen von ‚Inklusion und Exklusion’ unter Berücksichtigung verschiedener Formen der Lebensführung“ (9), auch solcher der Nicht-Erwerbsarbeit und beruflichen Ausbildungslosigkeit. Puhr diskutiert dabei die Spannweite von einerseits Erwerbsarbeit als zentralen Lebensmittelpunkt und Voraussetzung einer pluralisierten Werteorientierung bis hin zum Bedeutungsverlust von Erwerbsarbeit in modernen Gesellschaften und der Arbeitslosigkeit als „kreativer Unterbrechung“ andererseits (29). Anhand von zehn biographischen Portraits analysiert die Autorin individuelle Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen, die aus sehr unterschiedlichen Gründen eingeschränkt sind. Im Mittelpunkt der Forschungsarbeit stehen dabei zum einen Jugendliche mit und ohne Schulabschluss, die aus ihrem Leben berichten und dabei Chancen und Schwierigkeiten bei der Ausbildungsplatzsuche schildern. Zum anderen werden Lebensgeschichten von Frauen und Männern, die langfristig ohne „klassische“ Erwerbsarbeit leben, analysiert. Den Abschluss bildet ein biographisches Portrait eines 25-jährigen Jugendlichen mit Realschulabschluss, der keine Ausbildung und keine Arbeit möchte (170). Puhr hält uns damit den Spiegel der Zwiespältigkeit der Orientierung an permanenter Erwerbsarbeit als alternativlosen Rahmen vor Augen. Einer ihrer Befunde: Prekäre Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen müssen nicht immer soziale Exklusion bedeuten.
Puhrs qualitativ-empirische Forschungsarbeit wird mit einem theoretischen Teil vorbereitet, in dem Exklusionsmechanismen aus der Perspektive sozialer Ungleichheit (re-)konstruiert werden. Die Berücksichtigung einer Vielfalt in der individuellen Lebensführung und Möglichkeiten sozialer Teilhabe ermöglichen es der Autorin, unterschiedliche Bedeutungen prekärer Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen für die individuelle Lebensgestaltung und soziale Beziehungen aufzuzeigen. Die Begriffe ‚Inklusion’ und ‚Exklusion’ benutzt Puhr dabei mit Rückgriff auf die Luhmann´sche Gesellschaftstheorie als Formen sozialer Ordnung zur Analyse der Wechselwirkung von Teilhabe und Ausschluss. Die gesellschaftstheoretischen Erklärungen Luhmanns zu Inklusion und Exklusion ergänzt die Autorin durch die Anknüpfung an ausgewählte Arbeiten der sozialwissenschaftlichen Bildungs- und Exklusionsforschung von Kronauer (2002), Bude (2008) und Schumann (2003) [1]. Puhr unterstreicht damit in ihrer detailreichen Studie die neuen Linien gesellschaftlicher Spaltung moderner Gesellschaften durch anhaltende berufliche Ausbildungslosigkeit, Langzeitarbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und Armut. Die Komplexität der Lebensgeschichten und Kumulation von Ungleichheit im Lebensverlauf werden darüber hinaus hervorgehoben, indem Folgen von Ausbildungslosigkeit auf Familien- und Netzwerkbildung thematisiert werden.
Es ist ein Verdienst der Autorin, bei ihren Fallanalysen nicht auf der Mikroebene der individualisierten Zurechnung von Inklusionschancen oder Exklusionsrisiken stehen zu bleiben, sondern auch auf der Mesoebene strukturelle Barrieren und Hindernisse für Inklusion zu benennen. Die Teilhabemöglichkeiten an Bildung und Erwerbsarbeit werden demnach nicht nur individuell durch „die eigene Wahl“, sondern auch strukturell erheblich beeinflusst.
Insgesamt ist die Forschungsarbeit „Inklusion und Exklusion im Kontext prekärer Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen“ von Kirsten Puhr eine sehr lesenswerte Studie, die insbesondere durch die vielen Details und die klare Gliederung besticht. Sie ist nicht nur für Forscherinnen und Forscher aus der Pädagogik und den Sozialwissenschaften, sondern auch für Studierende geeignet. Den "Praktikern" dient sie der Auffrischung von theoretischen Kenntnissen, indem sie Kontexte erhellt, Querbezüge herstellt und Zusammenhänge auf der Mikro- und Mesoebene verdeutlicht. Das Buch ist damit geeignet, sich einem breiten Publikum zuzuwenden.
Mittelfristig wird die demographische Entwicklung das Verhältnis von Angebot und Nachfrage am Ausbildungsmarkt umkehren. Wenn es zukünftig nicht gelingt, den Anteil an Jugendlichen und Erwachsenen mit prekären Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen zu verringern, ist ein Mangel an Fachkräften vorprogrammiert, den sich Deutschland nicht leisten kann. Die Arbeit von Puhr sollte uns wachrütteln.
[1] Kronauer, Martin (2002): Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. Frankfurt am Main, Campus.
Bude, Heinz (2008): Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft. MĂĽnchen. Hanser Verlag.
Schumann, Karl F. (Hrsg.) (2003): Berufsbildung, Arbeit, Delinquenz. Bremer Längsschnittstudie zum Übergang von der Schule in den Beruf bei ehemaligen Hauptschülern. Band 1, Weinheim, München, Juventa.
EWR 8 (2009), Nr. 5 (September/Oktober)
Inklusion und Exklusion im Kontext prekärer Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen
Biographische Portraits
Wiesbaden: VS Research, Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2009
(202 S.; ISBN 978-3-8350-7033-2; 34,90 EUR)
Sandra J. Wagner (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sandra J. Wagner: Rezension von: Puhr, Kirsten: Inklusion und Exklusion im Kontext prekärer Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen, Biographische Portraits. Wiesbaden: VS Research, Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2009. In: EWR 8 (2009), Nr. 5 (Veröffentlicht am 02.10.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383507033.html
Sandra J. Wagner: Rezension von: Puhr, Kirsten: Inklusion und Exklusion im Kontext prekärer Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen, Biographische Portraits. Wiesbaden: VS Research, Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2009. In: EWR 8 (2009), Nr. 5 (Veröffentlicht am 02.10.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383507033.html